1. Ein unschöner Tag in Paris
Pavel Weiss verließ den Gare de l'Est und blinzelte gegen den hellen Maisonnenschein. Er knöpfte seinen Kaschmirmantel auf und blieb stehen, um die belebte Szenerie in sich aufzunehmen.Er schaute sich auf dem Bahnsteig um. Die letzten Passagiere stiegen ein, obwohl es bis zur Abfahrt noch zehn Minuten dauerte.
Ganz gleich wie oft er nach Paris kam, die Geräusche, die Bilder und die Düfte waren stets ausgesprochen erhebend!
Der großartige Boulevard erstreckte sich bis weit in die Ferne, gesäumt von Geschäften und hohen Wohnhäusern. Automobile, Taxen und Omnibusse rauschten mit trötenden Hupen vorbei, Arbeiter eilten zu ihren Büros, Cafés quollen über vor Kunden, die ihren Café crème tranken, vielleicht sogar einen frühen Absinth. Es war ideal, um Menschen zu beobachten.
Pavel umklammerte den Griff seines Koffers fest und überquerte die Straße zum Boulevard Strasbourg. Er wollte zum Hôtel d'Algérie, der kleinen Pension, die er vor der Abreise aus Istanbul gebucht hatte.
War das wirklich erst drei Tage her? Der Schlafwagen quer durch Europa hatte die Strecke länger erscheinen lassen, so, wie der Zug fortwährend angehalten, rangiert, zurückgesetzt und gewartet hatte. Belgrad, Wien, Straßburg und so weiter.
In Istanbul hatte er im Pera Palas Hotel zu Abend gegessen - köstlichen Wolfsbarsch, in Pergament gegart - und war um zehn am Bahnhof Sirkeci in den Zug gestiegen, wo er sich direkt in sein Erste-Klasse-Abteil zurückgezogen hatte.
Jenes Abendessen, zu dem er einen Gewürztraminer genossen hatte, war selbstverständlich extravagant gewesen. Ein luxuriöses Ritual zu dieser monatlichen Parisreise. Teuer, ja, doch die vierundzwanzig Stunden hier würden alles andere als angenehm werden. Ihn erwartete ein steinhartes Bett in einem flohverseuchten Zimmer, ein karges Mahl in einer schäbigen Taverne und eine Menge abgetragenen Schuhleders, um jedweder Verfolgung entfliehen zu können.
Der letzte Gedanke spornte ihn an, die Haltestange einer Straßenbahn zu ergreifen, als sie an einer Biegung langsamer wurde, um hineinzuspringen. Er drängte sich durch die dichte Menge auf der hinteren Plattform und blickte sich auf der Straße um, ob ihn jemand einzuholen versuchte.
Es war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Kein verdrossener »Beobachter«, der aus der Deckung trat und sich fragte, wie er sein Zielobjekt nur hatte verlieren können.
Pavel lächelte vor sich hin, als die Straßenbahn weiterratterte. Sein Handwerk beherrschte er instinktiv; es war ihm tief eingegraben. So, wie es sein sollte.
Er verdankte sein Leben der Ausbildung, die ihm die Briten vor all den Jahren hatten angedeihen lassen, als der Krieg ausgebrochen und ganz Europa zu einem Blutbad geworden war. Er konnte von Glück reden, diesem Wahnsinn lebend entkommen zu sein.
Immer noch auf der Hut, wartete er, dass die Straßenbahn anhielt. Und dann, als sie eben wieder losfahren wollte, sprang er hinunter und verschwand in einer Seitenstraße.
Er folgte seinem Orientierungssinn, als er im Zickzack durch ein Labyrinth enger Straßen zu seiner Pension zurückging.
Hin und wieder blieb er stehen und schaute sich um - nach einer Spiegelung in einem Caféfenster zum Beispiel -, um ganz sicher zu sein, dass ihm niemand folgte.
Für alle Fälle.
Dieses ständige Ausschauhalten war anstrengend. Doch lange wäre es nicht mehr nötig, das wusste er.
Pavel war aus dem Ruhestand gelockt worden und hatte das Geld als sehr reizvoll empfunden, um nicht zu sagen: Er hatte es dringend nötig. Doch im September wäre er endgültig aus dem Spiel - endlich! - und mit ein wenig Glück schon in seinem kleinen Cottage in der wunderschönen Provence.
Ja, finanziell würde es knapp werden, doch wie vollkommen wäre ein solches Leben in Südfrankreich!
Lange schlafen, Café au Lait und Croissants im Dorfcafé, ein Mittagessen auf der Terrasse, vielleicht ein wenig Boule auf dem Dorfplatz am Nachmittag. Dann ein Abendessen unter den Sternen ... mit dem schweren Jasminduft in der Abendluft.
Keine Zickzackreisen mehr über den Kontinent, wechselnde Identitäten, dauernd mit dem Blick über die Schulter ... ständig auf Abruf für irgendwelche fernen Agentenführer.
Wobei er zugeben musste, dass dieser gegenwärtige Auftrag nicht allzu anstrengend war.
Nur in diesem Monat noch einmal zur Hauptpost im Sirkeci gehen, ein »Päckchen« abholen und es an einen - natürlich namenlosen - Kontakt hier in Paris liefern.
Und danach mit dem, was auch immer er bekommen hatte, schnell zurück nach Istanbul. Ein hochgejubelter Briefträger, nichts anderes war er im Grunde! Auch wenn kein Briefträger der Welt so gut verdiente wie er.
Wer weiß, was in diesen Päckchen ist?
Pavel sah jedenfalls nie nach, wenngleich er lange genug in dem Geschäft war, um es sich denken zu können. Bargeld? Edelsteine? Gold? Drogen? Oder, was noch wertvoller wäre: Geheimnisse?
Das musste ihn nicht kümmern. Er war lediglich der Bote. Seine Aufgabe war es zu liefern, und nicht, Fragen zu stellen. Und genau das tat er.
Jetzt bog er in eine noch heruntergekommenere Straße ein und sah ein verblasstes, handgeschriebenes Schild an einer Tür: Hôtel d'Algérie. Er blieb stehen und schaute sich auf der Straße um.
Keine Menschenseele in Sicht.
Perfekt.
Er würde auf sein Zimmer gehen, ein wenig schlafen und irgendwo günstig essen.
Danach würde er zur vereinbarten Zeit das Päckchen abliefern und achtgeben, dass er den Schnellzug zurück nach Istanbul gleich morgen früh erwischte.
Jetzt aber überquerte er die Straße zum Hotel, den kostbaren Koffer fest in der Hand.
Zwölf Stunden später und erstaunlich erfrischt stand Pavel in der Tür des Hotels, nun in klassischer französischer Handwerkerkluft: verblasste Kleidung, zerkratzte Stiefel und eine fadenscheinige flache Schirmmütze.
Er trug eine zerschlissene Leinentasche über der Schulter, in der das Päckchen lag, das er ausliefern sollte.
Pavel neigte sich nach vorn und schaute sich auf der Straße um. Hier war inzwischen mehr los, obwohl es dunkel war. Jetzt wurden die zwielichtigen Geschäfte in Paris abgewickelt.
In der Bar gegenüber wurde zotig gesungen, und betrunkene Gäste torkelten mit Weinflaschen in den Händen heraus.
Aber nirgends war jemand, der Pavel beobachtete.
Er hatte sich einen Weg zu Les Halles ausgeguckt - zu Paris' großen Markthallen. Dort sollte sein Kontakt warten.
Nach einem letzten Blick zu dem belebten Café tauchte Pavel in die Nacht ein.
Er bahnte sich seinen Weg zwischen den hektischen Ständen von Les Halles hindurch, vorbei an Jungen mit Karren und bulligen Metzgern, die Karkassen heranschleppten; an Obst- und Gemüsehändlern, die ihre Kisten fast zwei Meter hoch stapelten.
Dieser Markt war ein Schmelztiegel der Geschäftigkeit, er schaffte alle erdenklichen Lebensmittel in die Großstadt. Hier glichen sich Tag und Nacht. Und in den Cafés, an denen Pavel vorbeikam, wurde zu jeder Zeit Frühstück, Mittag- und Abendessen serviert, alle begleitet von Karaffen mit kräftigem Rotwein.
Jetzt konnte er weiter vorn durch das Gewühl sein Ziel erkennen: das Bistro Au Chien Qui Fume.
Pavel blieb abrupt stehen und trat seitlich in den Schatten der Metzger-Laderampe, deren Boden mit Sägemehl ausgestreut war. Es roch intensiv nach frisch geschlachtetem Tier.
Von hier blickte er über die dicht gedrängte Menge vor dem Café und suchte nach seinem Kontakt.
Aber seltsamerweise war von dem keine Spur zu entdecken. Pavel zog seine Taschenuhr hervor und sah nach: Ja, es war Punkt Mitternacht. Er steckte die Uhr wieder ein. Das war außergewöhnlich.
Und ihm gefiel nichts Außergewöhnliches.
Gab es ein Problem?
Doch im nächsten Moment tippte ihm jemand auf die Schulter.
Er fuhr sehr schnell herum, während er gleichzeitig die Schultertasche fester packte und die andere Hand hob, um sich zu verteidigen. Doch dann sah er seinen Kontakt nur einen Meter entfernt dastehen. Der große, schmalgesichtige Mann lächelte.
Pavel trat zur Seite, sodass sie beide an einer Mauer lehnten und zum hektischen Markt hinausschauten.
Als würden sie nicht miteinander reden ... wären einander vollkommen fremd.
»Na? Ein bisschen schreckhaft heute Abend, was?«, fragte der Mann.
»Ich mag keine Überraschungen«, antwortete Pavel.
»Nein, natürlich nicht. Verständlich.«
Pavel nickte zum Café. »Probleme?«, fragte er seinen Kontakt. »Mit unserem üblichen Ort?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich sah jemanden an der Bar, der mir nicht gefiel.«
»Lieber kein Risiko eingehen«, sagte Pavel.
»Dachte ich auch. Also, was jetzt?«
»Hier ist es zu öffentlich«, antwortete Pavel...