2. Kapitel
Gegenwart
Müde hob ich den Kopf und strich mir durchs Haar.
Ich raffte mich aus meiner gebeugten Haltung hoch und sah mich in meinem Zimmer um. Mein Blick fiel auf die aufgeschlagene Tageszeitung und meine noch halb volle Kaffeetasse. Das Getränk darin war allerdings kalt und abgestanden.
Wieder hatte ich einen dieser Tagträume gehabt. Ein besseres Wort wollte mir nicht einfallen. Ich ahnte vage, dass ich nicht träumte und auch nicht schlief, wenn sich mir diese Einblicke in die Vergangenheit offenbarten. Aber konnte das alles denn wirklich passiert sein?
Nur in dieser Vision erinnerte ich mich an das New York der Vergangenheit. Außerdem konnte ich unmöglich dort gewesen sein. Nicht ohne einen kräftigen Zeitsprung gemacht zu haben, und daran würde ich mich ja wohl erinnern.
Energisch schüttelte ich den Kopf.
So ein Unfug, wies ich mich in Gedanken zurecht. Es musste dafür eine andere Erklärung geben. Vielleicht empfing ich ja einfach nur verdrehte Visionen. Und natürlich geisterte immer wieder der Name Vanderbuild in meinen Gedanken herum. Selbst in diesen Visionen. Ein wiederkehrendes Motiv. Womöglich das entscheidende Verbindungsglied?
Überhaupt brauchte mich nichts zu wundern. Schließlich lebte ich in einem Haus voller schwarzer Magie, Wand an Wand mit einer mächtigen Hexe und ihrem widerlichen Sohn, während meine beste Freundin dabei war, wer weiß was auf die Welt zu bringen. Wobei die beste Freundin nun nicht einmal mehr sie selbst war, sondern eine verrückte alte Voodoopriesterin.
Wann immer ich zu genau über diese verzwickte Geschichte nachdachte, wurde mir klar, wie wenig ich davon begriff. Mir fehlten ein paar entscheidende Puzzleteile, um das Bild völlig zu verstehen. Aber das, was ich bereits wusste, machte mir schon ausreichend Kopfschmerzen.
So viel war klar: Die Vanderbuilds brauchten Rebecca und ihr ungeborenes Kind. Und sie würden mit allen Mitteln verhindern, dass Rebecca aus ihrer Gewalt entkam. Mir misstrauten sie nach den jüngsten Ereignissen aufs Äußerste. Ich konnte davon ausgehen, dass sie mich längst durchschaut hatten.
Aber gerade deswegen war ich entschlossen, im Dakota zu bleiben und zu kämpfen. Nicht dass ich auch nur annähernd eine andere Wahl hatte. Denn ich konnte das Gebäude nicht mehr verlassen. Wie die seltsame Geistererscheinung namens Betty Moon, die sich mir einige Male gezeigt hatte, war ich an das Haus gefesselt. Es war zu meinem hübschen, luxuriösen Gefängnis geworden.
Immerhin besaß ich draußen noch einen Verbündeten, auf den ich zählen konnte. Robin, der Anführer von Rebeccas Fledermäusen, wartete nur auf eine Gelegenheit, sich an den Vanderbuilds für all das zu rächen, was sie seiner geliebten Herrin angetan hatten.
Und wir hatten nicht mehr allzu lange Zeit. Wenn ich Rebecca oder vielmehr Mama Wédo zu Gesicht bekam, wurde mir bewusst, dass das Kind nun jederzeit kommen konnte.
Ich starrte noch eine Weile frustriert in meinen Kaffee, dann entschied ich, dass ich genug herumgesessen und geträumt hatte. Zeit, nach meinem Schützling zu sehen.
Ich fand meine Mitbewohnerin in Rebeccas Schlafzimmer. Sie hatte das Zimmer abgedunkelt und sich hingelegt, obwohl es mitten am Tag war.
Zumindest in dieser Hinsicht schien sich nicht viel geändert zu haben. Aber anstatt zu schlafen, lag sie halb aufgerichtet im Bett. Sie sah mich aufmerksam an.
Nur ihr listiger Gesichtsausdruck verriet, dass ich es mit einer anderen Person als Rebecca zu tun hatte.
Ich fragte sie nach ihrem Befinden, aber sie gab keine Antwort. Stattdessen schien sie auf etwas zu lauschen, das außerhalb der Wohnung stattfand.
Im nächsten Moment klingelte es an der Tür.
Wir tauschten einen alarmierten Blick. Ich runzelte die Stirn und musterte sie fragend. »Wir wissen beide, wer das ist«, sagte ich leise. »Soll ich aufmachen?«
Es klingelte wieder. Da besaß jemand nicht sehr viel Geduld.
Mama Wédo strich sich übers Kinn. »Besser wäre das«, murmelte sie schließlich. »Man muss seine Freunde nah und die Feinde noch näher halten.«
»Du willst die Vanderbuilds in Sicherheit wiegen«, schlussfolgerte ich.
»Unbedingt.«
Die Türglocke läutete ein drittes Mal.
Ein zähnefletschendes Grinsen huschte über Rebeccas schöne Züge. »Mach lieber auf, bevor sie die Tür eintreten.«
Mir war keineswegs wohl bei der Sache, aber ich ging in den Flur und zog die Wohnungstür schwungvoll auf. Und was die Besucher betraf, hatte ich mich nicht geirrt.
»Rebecca schläft«, schmetterte ich der alten Vanderbuild entgegen. Auch an Amelia schienen die Ereignisse nicht spurlos vorüberzugehen. Mehr denn je glich sie einer vertrockneten Mumie.
Wie immer hatte sie eine Betonschicht aus Make-up auf ihr eingefallenes Gesicht gespachtelt, aber heute schienen ihre Augen noch tiefer als sonst in den Höhlen zu liegen. Selbst der beste Concealer konnte ihre tiefdunklen Augenringe nicht ganz verbergen.
Sie hockte wie immer in ihrem Rollstuhl, als könne sie kein Wässerchen trüben, aber ihr Lächeln war so ehrlich wie ein Kosmetik-Werbespot.
Hinter der Alten hatte sich ihr Sohn Ernest aufgebaut. Er trug einen teuren Anzug, der bei vielen anderen Männern elegant gewirkt hätte. Er jedoch sah auch im teuren Armani-Zwirn wie eine Karikatur aus. Als er mir zuzwinkerte, musste ich ein Schaudern unterdrücken. Auch seine widerliche magische Ausstrahlung drängte sich mir entgegen wie abgestandenes Rasierwasser.
»Mutter hat sich Tag und Nacht Gedanken um die arme Rebecca gemacht.« Er versuchte sich allen Ernstes an einem freundlichen Lächeln. Aber es blieb bei dem Versuch. Das Beste, was dabei herauskam, war ein schmieriges Grinsen.
»Und ich denke, ich habe etwas gefunden, das ihr helfen wird«, übernahm nun Amelia das Ruder. »Ein magischer Talisman zu ihrer Stärkung.«
»Das wird sie bestimmt freuen.« Mein Augenaufschlag war so unschuldig wie der einer Schülerin aus einem katholischen Mädcheninternat. »Aber ich fürchte, jetzt braucht sie Ruhe. Ich kann ihr das Artefakt aber gern geben, sobald sie wieder wach ist.«
»Nicht nötig.« Amelia versuchte an mir vorbei in die Wohnung zu spähen. Schließlich sah sie mich an. Ich hielt ihrem Blick stand. Stumm maßen wir unseren Willen. Ich war auf alles gefasst. Falls sie Magie anwendete, um in die Wohnung zu gelangen, war ich bereit, ihr mit gleicher Münze heimzuzahlen.
Amelia schien meine Entschlossenheit zu spüren. Sie hob die weiße Flagge. »Nicht nötig«, sülzte sie. »Wir schauen einfach später noch einmal rein.«
»Kein Problem«, säuselte ich zurück. Dann schloss ich die Tür. Ich wartete jedoch noch im Flur, bis das leise Quietschen des Rollstuhls verklungen war.
Amelia hatte sich fürs Erste zurückgezogen, aber ich traute dem Frieden nicht. Wahrscheinlich bereiteten die Vanderbuilds nur ihren nächsten Schachzug vor. Was immer sie plante, ich musste ihr unbedingt zuvorkommen.
Als ich mich umdrehte, um mein Gespräch mit Mama Wédo fortzusetzen, stand sie hinter mir im Eingang zum Wohnzimmer. Sie hatte sich einen von Rebeccas Morgenmänteln lässig um den Körper geschlungen.
»Gehst du spionieren?«, fragte sie mich unumwunden.
»Wer sonst?«, gab ich zurück. »Du in deinem Zustand kannst es ja wohl kaum.«
»Beeil dich.« Mama Wédos befehlender Tonfall gefiel mir überhaupt nicht. Schließlich war ich keine ihrer Anhängerinnen, die sie nach Belieben herumkommandieren konnte. Aber in diesem Fall ging meine Nachforschung vor, und ich beschloss, diesen Kampf auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass der Flur leer und auch frei von magischen Beobachtern war, verließ ich grußlos die Wohnung.
Je länger ich mich im Dakota aufhielt, um so bedrohlicher erschien es mir. Die breiten Flure schienen sich länger hinzustrecken als zuvor, dem Licht der Deckenlampen fehlte es an Kraft. Selbst im Treppenhaus war es totenstill. Das ganze Haus schien in einem Lähmungsschlaf zu liegen, der jedoch nichts weiter war als die Ruhe vor dem Sturm. Selbst der sich öffnende Fahrstuhl kam mir wie ein gähnender Schlund vor. Als ob das Haus plötzlich ein boshaftes Eigenleben entwickelt hatte.
Eine düstere Ahnung beschlich mich, dass es mir mit hinterhältiger Freude zusah und meine Ausweglosigkeit genoss.
Wenn ich nicht bald einen Weg fand, das verfluchte Gebäude zu verlassen, würde Rebeccas Kind in seinen Mauern geboren werden. Und ich wusste nur eins: dass ich das verhindern wollte.
Ich entschied mich, meine Suche im Keller weiter fortzuführen. Beim letzten Mal hatte ich die Vanderbuilds dort ertappt, und sie hatten alles darangesetzt, mich nicht nur zu vertreiben, sondern umzubringen.
Das bewies vor allem, dass sie dort unten tatsächlich etwas zu verbergen hatten.
Die Fahrt mit dem Aufzug verlief nicht ganz so sanft wie üblich. Diesmal ruckelte der Fahrstuhl. Hin und wieder erklang von über mir aus dem Schacht ein leises...