19. März - 9. April 1873
Giacomo Caccia schreibt seit einigen Jahren für LA PROVINCIA, die Gazette von Bergamo. Er hat gleich nach seinem Jurastudium in Mailand dort angefangen. Seine Eltern hatten darauf gehofft, dass er Anwalt werden würde, doch er hat seinen eigenen Kopf. Er will ein berühmter Journalist werden. Und heute, am 19. März 1873, ist es so weit, denn man vertraut ihm den Jahrhundertprozess an. Seit Monaten wird über den Fall diskutiert, der Frauenwürger (so wird er in der Stadt genannt) ist in aller Munde. Die Erwartungen sind also hoch. Doch wenn er sie erfüllt, werden die Menschen an seinen Lippen hängen.
Caccia genießt die Vorfreude. »Nächste Woche wird im Schwurgericht in Bergamo ein Verfahren eröffnet, das in die Annalen der Justiz eingehen wird«, schreibt er. »Wir versprechen unseren Lesern, dass wir den Prozess genauestens verfolgen und jeden Tag zuverlässig Bericht erstatten werden.«
Es ist ein kluger Zug, und er soll belohnt werden. Menschen halten ihn auf der Straße an, um ihn nach Einzelheiten zu fragen, die Damen laden ihn in ihre Salons ein, und die Auflage der Zeitung verdoppelt sich. Für Caccia wird Vincenzo Verzeni den Beginn einer großen Karriere markieren, die nur eine Richtung kennt - bergauf.
Gerichtsverhandlung vom 26. März 1873. Giacomo sitzt mit Notizbuch und gezücktem Stift in der ersten Reihe. »Auf der Anklagebank sehen wir den zweiundzwanzigjährigen Vincenzo Verzeni aus Bottanuco. Verzeni ist ein junger Mann mit regelmäßigen Gesichtszügen, blonden Haaren und ebenfalls blondem Schnurrbart, von blühendem Äußeren und, man könnte fast sagen, freundlicher Erscheinung, wären da nicht dieser etwas finstere Ausdruck und der leichte Silberblick. Die Kleidung ist die eines vermögenden Bauern. Er lässt keinerlei Gefühlsregung erkennen.«
Der Gerichtssaal ist gut gefüllt, was bedeutet, dass der Fall auf Interesse stößt. Die Geschworenen werden ernannt. Der Generalstaatsanwalt, Cavalier Quintavalle, verliest als öffentlicher Ankläger die Anklageschrift. »Vincenzo Verzeni, zweiundzwanzig Jahre alt, wird des versuchten Mordes an seiner Cousine Marianna Verzeni beschuldigt, mit dem erschwerenden Umstand, ohne Motiv gehandelt zu haben, Straftat nach Artikel 96, 522, 533 Absatz 2 des Strafgesetzbuches.« Raunen im Saal. »Des Mordes an Giovanna Motta, ohne offensichtliches Motiv, Straftat nach Artikel 522, 533 Absatz 2 des Strafgesetzbuches.« Wieder erhebt sich Stimmengewirr. »Des Mordes an Elisabetta Pagnoncelli, mit dem erschwerenden Umstand des Vorsatzes und des fehlenden Motivs, Straftat nach Artikel 522, 526, 528, 531, 533 Absatz 2 des Strafgesetzbuches.« Inzwischen wird lautstark diskutiert.
Dann beginnt die Anhörung des Angeklagten. »Absolute Stille im Saal«, notiert Giacomo.
»Wie Sie vernommen haben, liegen gegen Sie drei Anklagepunkte vor«, verkündet der Generalstaatsanwalt, »erstens: versuchter Mord an Marianna Verzeni, Ihrer Cousine, am Abend eines Feiertages im Jahr 1868.«
Verzeni ist nervös, irritiert. Er bestreitet seine Schuld. Man kommt zu Motta. Verzeni erklärt, Giovanna Motta, seine Nachbarin, nur vom Sehen gekannt zu haben.
»Haben Sie nie sexuelles Verlangen nach ihr verspürt?«, fragt der Staatsanwalt.
»Nein . sie war doch noch ein Mädchen«, entgegnet Verzeni.
Im Gefängnis hat er versucht, zwei andere Bauern zu beschuldigen, vor dem Gericht jedoch zieht er die Beschuldigungen zurück. Nun kommt man zum Mordfall Pagnoncelli. Man zeigt ihm das am Tatort aufgefundene Innenfutter eines Hutes, er leugnet, dass es seines ist.
Gerichtsverhandlung vom 29. März 1873. Giacomo Caccia sitzt wieder in der ersten Reihe, das Notizbuch zur Hand. Die neuen Sachverständigen der Verteidigung treten auf: Lombroso und Griffini. »Es werden Berichte verlesen über Verzenis Schuhe und über den Zustand seines rechten Beines«, schreibt Giacomo, »welches eine Fehlstellung der Art hat, dass Verzeni nicht gerade laufen kann und beträchtlich humpelt.« Cesare Lombroso bittet darum, den Kopf des Angeklagten rasieren zu dürfen, um die kraniometrischen Messungen durchführen zu können, doch der Staatsanwalt weist den Antrag ab mit der Begründung, die Zeugen könnten den Angeklagten dann nicht mehr erkennen. Ferner wird angeordnet, dass der Angeklagte »in einer geschlossenen Kutsche« transportiert und von einer »großen Eskorte von Carabinieri«, begleitet wird, da er auf dem Weg vom Gefängnis ins Gericht von der Menge bedroht worden war.
Gerichtsverhandlung vom 31. März 1873. Die Zeugen werden angehört, darunter die Mutter von Marianna Verzeni. Sie gibt an, den Vorfall nicht früher zur Anzeige gebracht zu haben, weil sie überzeugt gewesen sei, die Schreie ihrer Tochter hätten von »Würmern« hergerührt. Giacomo, der stets die Reaktionen des Publikums im Blick hat, notiert: »Heiterkeit im Saal.«
Der Richter aber findet es überhaupt nicht lustig. »Sie haben also allen Ernstes geglaubt, die Würmer wären aus Ihrer Tochter herausgekrochen und hätten die Kratzspuren am Hals verursacht?« Die Zeugin lacht. »Ach, Euer Ehren, über so was denkt man doch nicht groß nach«, sagt sie. »Nu ja, ich bin halt gleich los, hab Kohle mit Knoblauch zerrieben und der Marianna gegen die Würmer zu trinken gegeben.«
Dann wird Mariannas Vater aufgerufen. Er sagt aus, er habe der Sache keine Bedeutung beigemessen, weil er dazu keinen Anlass gesehen habe. »Vincenzo war ein tüchtiger Junge, er hat geschuftet wie ein Tier«, sagt er. »Der hat doch keiner Fliege was zuleide getan.« Und er erzählt, dass Verzeni aus einer Familie kommt, die ihm nie auch nur einen Heller gegeben hat, die ihn lieber Erde hat essen lassen statt Polenta, nur um Geld zu sparen, das waren Leute, sagt er, die »den lieben langen Tag nur darüber stritten, wer wem was schuldig war, und die alles zu Geld gemacht haben, was nicht niet- und nagelfest war«. Der Saal brodelt, es wird lauthals gelacht. Der Berichterstatter schreibt: (Heiterkeit). Genau so, in Klammern.
Gerichtsverhandlung vom 1. April 1873. Die Spannung steigt. Jetzt werden all die Frauen angehört, die Verzeni überfallen hat, ehe er zu morden begann, Signorina Bravi, Signorina Esposito und Signorina Previtali. Alle drei erkennen den Angeklagten wieder. Dann werden Giovanni Battista Ravasio, seine Ehefrau Maria Lecchi und deren neunzehnjähriger Sohn Giò Ravasio angehört und anschließend ein sachkundiger Wäscher, der zur Kleidung der Motta befragt wird. Man will wissen, ob die Kleider gewaschen worden oder aufgrund von Regen oder Schnee nass gewesen seien. Giacomo muss nun gelegentlich gähnen. Streckenweise ist die Verhandlung etwas langweilig. Als jedoch die Zeugen gerufen werden, die von der Auffindung des Leichnams berichten sollen, ist er wieder hellwach. Er sieht sie sich genau an. Einer von ihnen ist ein »ausgesprochen grobschlächtig aussehender« Bauer. Der andere ein Schneider mit »goldgelbem« Gesicht. Es kommen auch zwei junge Mädchen zu Wort, die Verzeni am Tag des Mordes an der Motta in der Nähe des Fundortes gesehen haben. Im Saal herrscht einen Moment lang Aufregung, weil die beiden ihn vor Gericht nicht wiedererkennen. Der Richter verliert die Geduld und droht, eine der beiden wegen Falschaussage zu bestrafen, worauf diese erschrickt. »Ich bitte Euer Ehren um Verzeihung, ich habe mich geirrt«, sagt sie und erkennt Verzeni sofort wieder.
Gerichtsverhandlung vom 2. April 1873. Die Sachverständigen werden aufgerufen. Als Erstes spricht ein Augenarzt, der den Angeklagten untersucht hat. »Verzeni schielt auf beiden Augen leicht und ist geringgradig kurzsichtig«, schreibt Giacomo. Als er danach gefragt wird, bestreitet Professor Quaglino, dass die an der Netzhaut festgestellten Anomalien »die Ursache für Veränderungen im Nervensystem oder eine Folge davon« sein können. Dann werden der Küster und der Pfarrer von Bottanuco befragt, die Verzenis Alibi bestreiten: Er sei keineswegs in der Kirche gewesen. Interessanter wird es, als zwei ehemalige Verlobte des Angeklagten in den Zeugenstand gerufen werden. Cesare Lombroso befragt Carolina Marchesi. »Worüber hat er mit dir gesprochen? Hat er je über Gewalt geredet?« Die Zeugin verneint, er habe nie über derart »hässliche Dinge« gesprochen, man habe über »Belangloses« geredet. Über die Landarbeit, beispielsweise. Nun will Lombroso wissen, ob Verzeni unter Gemütsschwankungen litt. Carolina schüttelt den Kopf. Sie habe ihn »immer in derselben Gemütsverfassung« erlebt. Er habe sich nie beklagt oder schlecht über jemanden geredet. Sein einziger Fehler war vielleicht, dass er nie Geschenke gemacht habe. »Nur einmal hat er mir eine Schachtel Pralinen geschenkt«, erzählt sie. Carolina Marchesi war jedoch nie mit ihm allein. Verzeni näherte sich ihr bei Festen oder wenn sie am Brunnen Wasser holte. Es waren also stets andere um sie herum. Jedenfalls habe sie nie etwas Absonderliches an ihm bemerkt. Angela Tasca, die darauffolgende Verlobte, wird zur Verspätung befragt, mit der Verzeni am Tag des Mordes an der Pagnoncelli bei ihr eintraf. Von allen Seiten wird sie mit Fragen bombardiert, vom Richter, von den Sachverständigen, den Anwälten der Verteidigung, aber die Zeugin - »die im Übrigen keine allzu große Intelligenz erkennen lässt«, präzisiert Giacomo - schließt hartnäckig aus, dass Verzeni einen »merkwürdigen, perversen oder anstößigen« (im Sinne von dreisten oder unverschämten) Charakter habe. Bei der dummen Gans ist nichts zu holen. Alle sind erschöpft. Die Verhandlung wird geschlossen.
Gerichtsverhandlung vom 3. April 1873. Giacomo blickt sich zufrieden um....