ERSTER TEIL
Am 1. August wurde ich vierzig Jahre alt, meine Geliebte Sophie ließ mich, nach drei Jahren, wegen eines Jüngeren sitzen, und meine Katze wurde krank. Am Tag darauf überfiel Saddam Hussein Kuwait.
Die sogenannten besten Jahre des Lebens fingen schön an.
Drei Wochen später meldete sich Shafiq mit der Frage, ob ich ein Schiff aus dem Mittelmeer in die USA überführen wollte. Den Anruf nahm meine Sekretärin Hannah entgegen. Sie kam, wie immer, am späteren Nachmittag zum Fischerhafen herunter, um mir die Neuigkeiten des Tages zu bringen.
«Wer hat angerufen?» Ich arbeitete bei laufendem Motor im Maschinenraum eines Schleppnetzfischers. Ich glaubte, mich verhört zu haben. «Wer hat angerufen?», rief ich noch einmal durch die offene Luke nach oben.
«Shafiq», sagte Hannah achselzuckend. «Sonst nichts. Bloß Shafiq. Er hat gesagt, Sie kennen ihn.»
Und ob ich ihn kannte. So, dass ich mich sofort fragte, was zum Teufel wohl als nächstes käme. Shafiq! Großer Gott! «Was hat er gewollt?»
«Sie sollen ein Schiff überführen.»
«Wann?»
«Das weiß er nicht.»
«Von wo aus im Mittelmeer? Frankreich? Spanien? Italien? Zypern? Griechenland?»
«Einfach nur vom Mittelmeer. Genaueres könnte er nicht sagen. Hat er gesagt.»
«Und wohin soll ich das Schiff bringen?»
Hannah lächelte. «Nur nach Amerika.»
Ich stellte den Motor ab. Ich hatte die hydraulischen Pumpen des Trawlers überprüft, weil ich mich vergewissern wollte, ob nicht irgendein Mistkerl den Druck um eine halbe Tonne gesenkt hatte, damit ein kaputtes Ventil oder ein defekter Schlauch unbemerkt blieb. Ich wartete, bis der Lärm aufhörte. Dann schaute ich zu Hannah hoch. «Und was für ein Schiff?»
«Weiß er nicht.» Sie lachte. Hannah hatte ein schönes Lachen. Ich muss aber zugeben, dass ich an jedem weiblichen Lachen Gefallen fand, seit Sophie mir den Laufpass gegeben hatte. «Ich werde nein zu ihm sagen», meinte sie. «Ja?»
«Ja. Sagen Sie ja.»
«Was?»
«Sagen Sie ja.»
Hannah setzte wie immer die Geduldsmiene auf, wenn sie glaubte, mich vor mir selbst schützen zu müssen. «Ja?»
«Ja, oui, yes, si. Das ist unsere Arbeit. Dafür sind wir doch da.» Wenigstens offiziell; oben auf meinem Briefpapier stand nämlich: «Nordsee-Jacht. Lieferung, Wartung, Begutachtung von Schiffen. Alleineigentümer Paul Shanahan, Nieuwpoort, Belgien.» In den letzten Jahren waren allerdings nur noch Aufträge für Wartung und Gutachten hereingekommen.
«Aber Paul! Sie wissen weder wann, wie, was noch wohin! So was Dummes kann ich nicht zulassen!»
«Wenn er wieder anruft, sagen Sie ihm: Meine Antwort lautet ja.»
Hannah stieß einen typisch flämischen Laut aus, so etwas wie einen gutturalen Grunzer, der, wie ich im Laufe der Zeit verstehen gelernt hatte, die Verachtung eines praktischen Menschen für einen unpraktischen Trottel ausdrückte. Sie blätterte in ihrem Notizbuch herum. «Dann hat noch eine Frau angerufen. Eine gewisse Kathleen Donovan. Amerikanerin. Möchte Sie sprechen. Klingt sympathisch.» O Gott, dachte ich, was hat das nur zu bedeuten? Kaum vierzig, und schon wird man von der eigenen Vergangenheit eingeholt. Mir stand plötzlich wieder ein grässliches Bild vor Augen: der gelbe Felsen mit Roisins Blut. Menschlicher Verrat kam mir in den Sinn, Liebeslust und -leid: Falls die Frau, die da nach mir suchte, Roisins Schwester sein sollte, konnte ich nur hoffen, dass sie mich nie finden würde. Nie. «Sagen Sie ihr nein», erwiderte ich.
«Aber sie sagt .»
«Sie kann sagen, was sie will. Ich kenne sie nicht und will sie auch nicht kennenlernen.» Ich konnte Hannah diese Geschichte nicht erklären. Hannah würde sie nie verstehen - dazu war sie viel zu bodenständig, dazu führte sie mit ihrem Mann, einem stämmigen Polizisten, eine viel zu normale Ehe. «Und bestellen Sie Shafiq: Ich will wissen, warum.»
«Sie wollen wissen, warum?» Hannah musterte mich kritisch. «Warum was?»
«Fragen Sie ihn: Warum?»
«Aber .»
«Fragen Sie einfach nur: Warum?»
«Okay. Ich werde ihn fragen!» Sie hob ergeben die Hände, drehte sich um und ging am Kai lang. «Ihre Katze hat Würmer, glaub ich!», rief sie zurück.
«Dann geben Sie ihr eine Tablette!»
«Es ist Ihre Katze!»
«Bitte - geben Sie ihr eine Tablette.»
«Okay.» Sie machte eine rüde Geste mit der Hand. Das galt aber nicht mir, sondern dem Fischer, der ihr nachgepfiffen hatte. Mir winkte sie ein letztes Mal, bevor sie verschwand.
Ich machte mich wieder an die Arbeit fürs Gutachten über den Trawler, der nach Schottland verkauft werden sollte. Doch innerlich war ich mit ganz anderen Dingen beschäftigt als mit Rumpf, Motor oder Hydraulik des Schiffes. Ich fragte mich immer wieder, warum beides - das Gespenst verratener Liebe und der Schatten vergangener Gefahren - an ein und demselben Tag wie aus dem Nichts wiederkehrten, um mich zu quälen. Aber - wenn ich ehrlich war - es erregte mich auch. Grau, berechenbar und langweilig war mein Leben geworden. Nun kam wieder Bewegung hinein.
Vier Jahre hatte ich gewartet, dass Shafiq sich an mich erinnerte, mich wieder mit heikleren Aufgaben betraute. Vier Jahre. Ich war bereit.
«Vier Jahre sind's her, Paul! Vier Jahre!» Da saß Shafiq: träge, schlank, freundlich, gerissen - in mittlerem Alter. Er saß auf einem tiefen, mit Kissen überladenen Sofa. Er hatte im Hotel Georges V. in Paris eine Suite gemietet. Ich sollte ihn im Wohlstand bewundern. Außerdem befand er sich in überschäumend guter Laune. Kein Wunder. Shafiq liebte Paris. Er liebte Frankreich. Je größer der Hass der Franzosen auf die Araber, desto größer Shafiqs Bewunderung für den gallischen Geschmack. Shafiq war ein Palästinenser, der in Libyen wohnte; dort war er in Oberst Gaddafis Center für Widerstand gegen Imperialismus, Rassismus, Rückständigkeit und Faschismus tätig. Ich hatte zunächst nicht geglaubt, dass es solch eine Organisation gab; sie existierte aber doch, und Shafiq gehörte tatsächlich zum Personal - eine Tatsache, die sicherlich erklärte, warum ihm europäische Dekadenz so zusagte.
«Also - was willst du?», fragte ich säuerlich.
«So heiß habe ich Paris noch nie erlebt! Gott sei Dank, dass es Klimaanlagen gibt!» Wir sprachen Französisch, wie immer. «Nimm dir vom Gebäck, bitte! Der mille-feuille ist köstlich.»
«Was willst du von mir?»
Shafiq überhörte die Frage. Er öffnete ein emailliertes Pillendöschen und schob sich eine Cachou unter die Zunge. «Ich gebe mich als Grieche aus. Ich habe sogar einen Diplomatenpass! Sieh mal!»
Auf den gefälschten Diplomatenpass und auf Shafiqs Stolz auf den Besitz des Dokuments ging ich nicht ein. Shafiq leistete seinen Beitrag zum Widerstand gegen Imperialismus, Rassismus, Rückständigkeit und Faschismus als Laufbursche zwischen Libyen und den Terroristengruppen, die eben gerade nach Oberst Gaddafis Geschmack waren. Auf den ersten Blick wirkte er überhaupt nicht wie ein Agent; er war wie ein Kind, allzu auffällig und liebenswert. Vielleicht hatte er jedoch gerade aufgrund dieser Eigenschaften so lange überlebt. Es war beinahe unmöglich, einem so lächerlichen Mann wie Shafiq Verbindung mit dem Bösen in der Politik zuzutrauen.
«Was willst du von mir?», wiederholte ich. Was es auch sein mochte - er würde es wahrscheinlich bekommen. Aber nach vier Jahren musste ich den Zurückhaltenden spielen.
«Möchtest du eine Gauloise? Hier! Da hast du die ganze Packung, Paul!» Er schob sie zu mir herüber.
«Ich habe das Rauchen aufgegeben. Was, zum Teufel, willst du von mir?»
«Du hast das Rauchen aufgegeben? Das ist wunderbar, Paul, einfach wunderbar! Mir raten die Ärzte, dass ich das Rauchen aufgeben soll. Aber was wissen die Ärzte schon? Ich habe einen Schwager, der ist Arzt. Habe ich dir das schon erzählt? Er raucht am Tag vierzig, manchmal fünfzig Zigaretten, und er fühlt sich . Wie sagt man doch? So munter wie ein Fisch im Wasser! Möchtest du Tee?»
«Verdammt - was willst du von mir, Shafiq?»
«Du sollst ein Schiff nach Amerika bringen. Wie ich deiner Sekretärin gesagt habe. Ist sie schön?»
«Wie eine Rose im Morgentau, wie eine Pfirsichblüte, wie eine Einpeitscherin der Dallas-Cowboys. Was für ein Schiff? Von wo? Wohin? Wann?»
«Das weiß ich nicht genau.»
«Phantastisch! Das hilft mir wirklich sehr, Shafiq.» Ich lehnte mich in meinem viel zu weichen Sessel zurück. «Das Schiff gehört dir?»
«Es gehört nicht mir.» Er zündete sich eine Zigarette an und machte eine Geste, ganz vage, wie um anzudeuten, das fragliche Schiff gehöre einem anderen, irgendwem anderen, niemand...