Teil Zwei
An diesem ersten Tag segelten wir ausschließlich gen Süden und durchschnitten die glitzernden Wellen auf den Flügeln eines offenbar unveränderlichen Südostpassats. Die Zwillinge Crowninshield bekamen wir kaum zu Gesicht. Nur zum Lunch tauchten sie kurz an Deck auf, wobei Rickie sein Essen kaum anrührte, während Robin-Anne trotz ihrer offensichtlichen Zierlichkeit über die Sandwiches und den Salat herfiel wie ein ausgehungerter Wolf. Danach begab sie sich, eigenartig unpassend in einen Regenmantel gehüllt, zum Bug und starrte kurze Zeit hinunter in das faszinierende Gestrudel des Wassers, das sich am Steven brach, spritzte und schäumte. Doch sie blieb nicht lange, sondern zog sich vor der grellen Sonne wieder in den Schutz der Heckkabine zurück, die sie mit Ellen teilte. Der Gegensatz zwischen den beiden Amerikanerinnen war fast schmerzhaft: Ellen so gesund und kräftig, Robin-Anne jedoch erbärmlich hinfällig und matt. «Was hältst du von ihr?», fragte ich Ellen an diesem Nachmittag.
Ellen warf mir einen amüsierten Blick zu. «Von der kleinen Annie? Kaum vorstellbar, dass sie bald sechs Millionen Dollar schwer sein soll. Doch abgesehen davon spricht nur sehr wenig für sie.»
Ich lächelte über die Schärfe in Ellens Urteil. «Ist sie denn wirklich so schlecht?»
«Sie hat einen erschütternd schlichten Verstand, in dem nur jeweils ein Gedanke zur selben Zeit Platz hat. Und jetzt ist es das Kokain - nichts als Kokain. Sie ist so von der Droge besessen, dass es schon fast an Monomanie grenzt. Sie hat mir erzählt, sie müsse das Rauschgift verstehen, um es überwinden zu können.»
«Und dieser Meinung bist du nicht?»
«Ich meine, sie sollte erst einmal versuchen, sich selbst zu verstehen», erwiderte Ellen spitz. «Sie hat sich von einem Mann dazu verleiten lassen, die Droge zu nehmen, also kann sie sich nur selbst die Schuld für ihre Abhängigkeit zuweisen. Mit Sicherheit wäre es für sie sehr viel nützlicher, die Unzuverlässigkeit ihres Charakters zu erkennen als einen Grundkurs in Drogenchemie zu absolvieren.»
«Und was hältst du von Rickie?»
«Er ist genau das, was man von einem Sportpädagogik studierenden, basketballspielenden Debilen erwarten würde», erklärte Ellen verächtlich. «Und damit meine ich, dass er ein Sportler mit einem Spatzenhirn ist. Er erinnert mich irgendwie an deinen Neandertalerfreund, diesen Maggot, bis auf die Tatsache, dass Rickie wesentlich besser aussieht.»
«Sieht er?»
Sie lachte über den Hauch von Eifersucht in meiner Stimme. «Ja, Nicholas, sieht er. Aber er ist nicht attraktiv.»
Am Abend aß Robin-Anne wie schon zu Mittag mit dem Appetit eines Scheunendreschers, während ihr Bruder sein Hühnchen mit Nudeln kaum anrührte. «Mögen Sie keine Pasta?», erkundigte sich Ellen, die wunderlich stolz auf ihre Fähigkeiten in der Nudelküche war, ein bisschen schroff.
«Es ist großartig. Echt toll.» Rickie zündete sich eine Zigarette an. «Ich fürchte nur, ich habe einfach keinen Hunger.»
Robin-Anne griff hinüber und schüttete sich die Portion ihres Bruders auf den eigenen Teller. «Ich bin fast am Verhungern», rechtfertigte sie ihren Mundraub und goss sich dann ein Glas kalorienarme Limonade ein. Zum ersten Mal hatten wir weder Wein noch Spirituosen an Bord der Wavebreaker, da Jackson Chattertons Drogenklinik strikt verboten hatte, den Zwillingen Alkohol anzubieten, denn jede stimmungsverändernde Droge konnte den Erfolg des Entgiftungsprogramms gefährden. Und so waren wir offiziell ein abstinentes Boot, obwohl ich im Maschinenraum einen kleinen Geheimvorrat irischen Whiskeys angelegt hatte und sicher war, dass auch Ellen ein bisschen Wodka irgendwo gebunkert hatte.
Doch es schien, als wären Ellen und ich nicht die Einzigen, die derartige Vorratswirtschaft betrieben, denn später am Abend kam Jackson Chatterton mit einer Flasche in der Pranke an Bord getrottet.
«Bourbon», erklärte er lakonisch. «Wollen Sie einen?»
«Ich befürchtete schon, Sie würden mich ausschließen.»
Er lachte, holte zwei Pappbecher hervor und goss mir einen großzügigen Schuss Whiskey ein. Wir waren allein an Deck, wenn auch nicht die einzigen Wachen, denn ich konnte Rickies und Ellens Stimmen aus dem Oberlicht der Hauptkabine hören. Ich hoffte, dass Thessy bereits schlief, denn er hatte morgen die erste Wache zu übernehmen.
«Cheers», sagte ich.
Chatterton hob seinen Pappbecher zu einem stummen Prost und starrte dann nach vorn, wo ein riesiger Lichtstrahl über den Himmel schwang. «Ein Leuchtturm?», fragte er in einem Tonfall, der andeutete, dass ein kluger Mann derlei tunlichst aus dem Weg fuhr.
Ich nickte. «Er wird Hole in the Wall genannt. Wenn wir den erst einmal passiert haben, können wir aufs offene Meer hinaus. Dann wird es auch ein bisschen lebhafter.»
«Lebhafter?»
«Wir werden ein intensiveres Meergefühl haben, ein bisschen Gischt aufwirbeln.»
Ich hatte sehr enthusiastisch gesprochen, aber Chatterton schien absolut unbeeindruckt. «Wie sehen Ihre Pläne aus?», wollte er wissen.
Ich hatte keine besonderen Pläne ausgearbeitet, nur die Vorstellung, dass es ganz interessant sein könnte, auf die offene See hinauszusegeln. Angesichts der Gefahr tropischer Stürme hatte ich jedoch keineswegs die Absicht, mich allzu weit vom Schutz eines sicheren Hafens der Bahamas zu entfernen. Doch ich sehnte mich danach, den harten Druck der Ozeanwellen an unserem Bootskörper zu spüren, und obwohl wir ein bisschen knapp an sachkundigen Kräften waren, nahm ich doch an, dass sich nach ein paar Tagen ohne Landsicht alles irgendwie einpendeln würde. Das alles erklärte ich nun Chatterton, fügte jedoch hinzu, dass ich beim ersten Anzeichen von Problemen den nächsten Hafen ansteuern würde.
Er muss wohl angenommen haben, dass ich Probleme mit den Zwillingen meinte, denn er wurde unvermittelt überraschend redselig. «In den ersten Tagen werden sie Ihnen keinerlei Schwierigkeiten machen», sagte er. «Jetzt, wo sie an kein Kokain mehr herankommen, werden sie ganz einfach zusammenbrechen.»
Ich verzog das Gesicht. «Heißt das, dass sie grüne Affen und blaue Schlangen in der Takelage sehen werden?»
Chatterton goss sich Bourbon nach und stellte die Flasche dann auf das Kompassgehäuse in meine Reichweite. «So ist das beim Kokainentzug nicht. Anfangs werden sie nur essen und schlafen wollen. Das genaue Gegenteil von einem Kokainrausch, wissen Sie.» Er hielt kurz inne und fuhr dann fort: «Die problematische Phase setzt zwei oder drei Tage später ein. Dann beginnt die eigentliche Hölle.»
«Für uns alle?»
«Es wird kein Zuckerschlecken», bestätigte er grimmig, und ich war plötzlich froh, den schweigsamen Chatterton an Bord zu haben. Der Riese war offenbar an Deck gekommen, um mich darauf vorzubereiten, was ich von den Zwillingen zu erwarten hatte. Dafür war ich ihm dankbar.
«Mir ist aufgefallen, dass Rickie heute kaum etwas gegessen hat», sagte ich. «Ganz im Gegensatz zu Robin-Anne.»
Chatterton nickte. «Rickie hat vielleicht schon vor zwei oder drei Tagen mit dem Schnupfen aufgehört. Das heißt, dass er die erste Phase bereits hinter sich hat. Eines kann ich Ihnen versichern: Er hat nichts an Bord gebracht. Ich habe ihn und sein Gepäck durchsucht. Er war sauber.» Der große Mann dachte ein paar Sekunden lang nach, dann lachte er. «Das möchte ich ihm auch geraten haben! Dieser Vogel hat eine Chance, dem Gefängnis zu entgehen, eine einzige. Und die besteht darin, dass er dem Richter nachweist, dass er seine Schularbeiten gemacht hat, dass er clean ist. Wenn ihm das nicht gelingt, wird der Richter Rickies jungen dicken Arsch den Homos im Kreisgefängnis zur freien Verfügung stellen.» Chatterton schien nicht übermäßig besorgt über diese Perspektive.
«Können Sie sicher sein, dass Robin-Anne kein Rauschgift an Bord gebracht hat?», wollte ich wissen.
«Das hätte sie nie getan», erklärte Chatterton im Brustton der Überzeugung. «Das Mädchen will aufhören. Es ist ihr ernst, todernst! Das Mädchen gibt sich alle Mühe! Sie studiert die Droge, wissen Sie das? Als wäre sie ihr Feind.» Chatterton hörte sich aufrichtig bewundernd an.
Ich blickte zu den Segeln hinauf, zum Kompass hinunter, dann nach vorn, wo der Kegel des Leuchtturms kraftvoll die Nacht durchdrang. «Welche Chancen haben die Zwillinge?»
«Das hängt von ihrer Willenskraft ab. Die kann ihnen niemand abnehmen. Es gibt keine Pillen, die einen von dem Zeug herunterbringen könnten, Mister Breakspear, nur der eigene Wille. Und lassen Sie mich Ihnen eines sagen, Kokainentzug ist die verdammt härteste Sache der Welt. Man kann sich wirklich glücklich schätzen, wenn man einen reichen Daddy hat, der Leute bezahlt, die einem die Hand halten, während man durch diese Hölle geht. Der Daddy der Zwillinge bezahlt Sie und mich, Mister Breakspear, und alle anderen hier auf dem Boot, doch selbst mit diesem ganzen Geld und mit diesem Boot ist der Erfolg keineswegs gesichert.»
«Ist es so schlimm?»
«Es ist so schlimm», erwiderte er düster, und ich dachte an John Maggovertskis Trauer um eine hübsche Frau, die sich prostituierte, um das weiße Pulver kaufen zu können. «Und für einen armen Menschen, der niemanden hat, der ihm hilft, ist es sogar noch schlimmer.» Jackson Chattertons Stimme war plötzlich unheilvoll geworden.
Ich sah Jackson Chatterton an und ahnte etwas von der Tragödie, die er hinter seiner ruhigen Gelassenheit verbarg. «Warum haben Sie die Armee verlassen, Mister Chatterton?», fragte ich nach einer langen Pause.
«Ich denke mir, Sie können es vermuten», entgegnete er.
Ich vermutete es, brachte ihn aber nicht dazu, diese Vermutung zu...