Schweitzer Fachinformationen
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PROLOG
Er war spät angekommen.
Inzwischen war es dunkel, und er hatte keine Laterne, aber die Brände in der Stadt loderten so grell, dass ihr Licht bis weit in die Kirche drang und sogar noch einen Schimmer auf die Steinplatten in der Krypta warf, wo der Mann mit einer eisernen Brechstange auf eine Steinplatte losging, in die ein Wappen eingemeißelt war. Es zeigte einen Pokal, um den ein Schnallengürtel lief, der die Inschrift Calix Meus Inebrians trug. Gemeißelte Sonnenstrahlen ließen es aussehen, als stiege Licht aus dem Pokal auf. Das eingemeißelte Bild und die Schrift waren im Laufe der Zeiten abgetreten worden und wirkten etwas verschwommen, und der Mann hatte sie kaum wahrgenommen, doch was er wahrnahm, waren die Schreie aus den Gassen rund um die kleine Kirche. Es war eine Nacht des Feuers und des Leidens, und die Schreie waren so laut, dass sie den Lärm überdeckten, mit dem er eine Spalte zwischen den Steinplatten vertiefte. Er rammte die Eisenstange abwärts, dann erstarrte er, weil durch die Kirche über ihm Gelächter und Schritte hallten. Er zog sich gerade noch rechtzeitig in einen Bogengang zurück, bevor zwei Männer in die Krypta herunterkamen. Sie hatten eine Fackel bei sich, die das langgestreckte Gewölbe ausleuchtete und ihnen zeigte, dass es hier keine leichte Beute zu holen gab. Der Altar der Krypta bestand aus einfachen Steinplatten, und sein einziger Schmuck war ein Holzkreuz, nicht einmal ein Kerzenhalter stand darauf. Einer der Männer sagte etwas in einer fremden Sprache, der andere lachte, und beide gingen wieder hinauf ins Kirchenschiff, dessen Wandmalereien und entweihte Altäre von den Bränden in den Straßen beleuchtet wurden.
Der Mann mit der Eisenstange war in einen langen, schwarzen Kapuzenumhang gehüllt. Unter der schweren Kutte trug er ein weißes Gewand mit Schmutzstreifen, das in der Mitte von einer dreifach geknoteten Kordel zusammengehalten wurde. Er war ein Predigermönch, ein Dominikaner, doch das bedeutete in dieser Nacht keinen Schutz vor der Armee, die Carcassonne verwüstete. Er war groß und kräftig, und bevor er das Ordensgelübde abgelegt hatte, war er Waffenknecht gewesen. Er hatte eine Lanze zu schleudern gewusst, ein Schwert zu schwingen und mit der Axt zu töten. Sein Name hatte Sire Ferdinand de Rodez gelautet, doch nun war er einfach Fra Ferdinand. Einst hatte er Rüstung und Kettenhemd getragen, Turniere bestritten und in der Schlacht Menschen niedergemetzelt, doch nun war er seit fünfzehn Jahren Mönch und hatte jeden Tag um Vergebung für seine Sünden gebetet. Er war nun alt, beinahe schon sechzig Jahre, doch noch immer breit in den Schultern. Er war zu Fuß in diese Stadt gekommen. Der Regen hatte seine Reise behindert, Flüsse waren über die Ufer getreten und Furten unpassierbar geworden, und deshalb war er so spät angekommen. Er war spät angekommen, und er war müde. Er rammte die Brechstange unter die Steinplatte mit den Einmeißelungen und lehnte sich erneut darauf, während er zugleich fürchtete, dass sich das Eisen verbiegen könnte, bevor der Stein nachgab, doch dann stieg plötzlich ein hohles, kratzendes Geräusch auf, der Granit hob sich, rutschte ein Stückchen zur Seite und gab eine schmale Lücke zu dem Hohlraum darunter frei.
Der Hohlraum war dunkel, denn die Flammen des Teufels, die in der Stadt wüteten, reichten nicht bis in das Grab, und so kniete sich der Mönch neben das dunkle Loch und tastete darin herum. Er fühlte Holz, also rammte er die Brechstange erneut in das Loch. Ein Hieb, zwei Hiebe, und das Holz splitterte. Er betete, dass kein Bleisarg in dem Holzsarg stand, und rammte die Brechstange ein letztes Mal abwärts, dann griff er in das Loch und zog gesplittertes Holz heraus.
Es gab keinen Bleisarg. Seine Fingerspitzen glitten über Stoff, der unter seiner Berührung zerfiel. Dann spürte er Knochen, erkundete eine ausgetrocknete Augenhöhle, lockere Zähne und den Bogen einer Rippe. Er legte sich auf den Bauch, sodass er seinen Arm tiefer hinabstrecken konnte, tastete in der Schwärze des Grabes umher und entdeckte bald etwas Festes, das kein Knochen war. Aber es war nicht das, wonach er suchte; es hatte die falsche Form. Es war ein Kruzifix. Plötzlich wurden in der Kirche über ihm Stimmen laut. Ein Mann lachte, und eine Frau schluchzte. Der Mönch lag bewegungslos da, lauschend und betend. Verzweiflung überkam ihn bei dem Gedanken, dass der Gegenstand, den er suchte, nicht in dem Grab sein könnte, doch dann streckte er seinen Arm noch einmal so weit wie möglich in die Tiefe, und seine Fingerspitzen berührten etwas, das in zarten Stoff gewickelt war, der nicht zerfiel. Er tastete blind umher, erwischte ein Stück des Stoffs und zog daran. Ein Gegenstand war in den zarten Stoff gewickelt, ein schwerer Gegenstand, und er zog ihn behutsam näher, dann bekam er ihn schließlich richtig zu fassen und zog ihn aus dem Griff der Knochenhände, die den Gegenstand gehalten hatten. Er zog den Gegenstand aus dem Grab und stand auf. Er musste ihn nicht auswickeln. Er wusste, dass er La Malice gefunden hatte, und zum Dank drehte er sich zu dem schlichten Altar auf der Ostseite der Krypta um und bekreuzigte sich. «Danke, Herr», murmelte er, «danke, Sankt Petrus, und danke, Sankt Junien. Jetzt müsst ihr mich beschützen.»
Und himmlischen Schutz würde der Mönch auch notwendig haben. Einen Moment dachte er daran, sich in der Krypta zu verstecken, bis die Armee, die in Carcassonne eingefallen war, wieder abzog, doch das konnte Tage dauern, und davon abgesehen würden die Soldaten, nachdem sie sich die leichte Beute geholt hatten, auch die Gräber in der Krypta aufbrechen und nach Ringen, Kruzifixen und allem anderen suchen, das sich verkaufen ließ. Die Krypta hatte La Malice einhundertfünfzig Jahre lang Zuflucht geboten, aber der Mönch wusste, dass sie ihm selbst höchstens ein paar Stunden lang Sicherheit bieten konnte.
Fra Ferdinand ließ die Brechstange liegen und ging die Treppe hinauf. La Malice war so lang wie sein Arm und überraschend schwer. Die Waffe hatte einst einen Griff gehabt, doch nun war nur noch die dünne, metallene Angel übrig, und an diesem groben Heft hielt er das Schwert. Immer noch war es in den zarten Stoff gehüllt, den er für Seide hielt.
Das Kirchenschiff war von den lodernden Flammen erhellt, die aus den Häusern auf dem kleinen Platz davor schlugen. Es waren drei Männer in der Kirche, und einer rief der Gestalt im dunklen Umhang, die auf der Treppe zur Krypta auftauchte, herausfordernd und mit vorgerecktem Kinn etwas zu. Die drei waren Bogenschützen, ihre langen Bogenstäbe lehnten am Altar, und im Grunde interessierten sie sich nicht für den Fremden, sondern ausschließlich für die Frau, die sie mit gespreizten Beinen auf die Altartreppe gedrückt hatten. Einen Augenblick lang war Fra Ferdinand versucht, die Frau zu retten, doch dann kamen durch eine Seitentür vier oder fünf weitere Männer herein und brüllten begeistert auf, als sie den nackten Körper auf den Stufen sahen. Sie hatten ein weiteres Mädchen mitgebracht, ein Mädchen, das schrie und kämpfte, und der Mönch erschauerte bei den verzweifelten Rufen. Er hörte, wie die Kleidung der jungen Frau zerriss, hörte ihr Jammern, und er dachte an all seine eigenen Sünden. Er bekreuzigte sich. «Vergib mir, Herr Jesus», flüsterte er und trat, weil er doch nicht helfen konnte, durch die Kirchentür auf den kleinen Vorplatz. Flammen fraßen sich in lodernd brennende Strohdächer und schossen wilde Funkengarben in den Wind. Rauch quoll über der Stadt empor. Ein Soldat mit dem roten Sankt-Georgs-Kreuz auf dem Wappenrock übergab sich auf der Kirchentreppe, und ein Hund lief herbei, um das Erbrochene aufzulecken. Der Mönch wandte sich Richtung Fluss, weil er hoffte, über die Brücke und schließlich in die Cité zu gelangen. Hinter den Doppelmauern, Türmen und Zinnen von Carcassonne hoffte er Schutz zu finden, denn er bezweifelte, dass diese wilde Armee die Geduld für eine Belagerung aufbringen konnte. Zwar hatten sie die Bourg erobert, das Handelsviertel auf dem Westufer des Flusses, aber dieses Viertel hatte noch nie verteidigt werden können. Die meisten Werkstätten der Stadt lagen in der Bourg, dort waren die Lederhändler, die Silber- und Waffenschmiede und Geflügelverkäufer und Kleidungshändler, und deren Besitztümer wurden nur von einem ringförmigen Erdwall geschützt, und die Armee war wie eine Flut über diese kümmerliche Befestigung hinweggegangen. Die Cité von Carcassonne dagegen war eine Festung, eine der gewaltigsten in Frankreich, eine Bastion, die von enormen Steintürmen und hoch aufragenden Mauern umgeben war. Dort wäre er sicher. Er würde ein Versteck für La Malice finden und abwarten, bis es eine Möglichkeit gab, die Waffe an ihren Besitzer zurückzugeben.
Im Schutz der Dunkelheit betrat er eine Straße, in der keine Brände gelegt worden waren. Männer brachen in Häuser ein, sie benutzten Hämmer und Äxte, um die Holztüren einzuschlagen. Die meisten Bewohner waren in die Cité geflohen, doch einige wenige Narren waren geblieben, weil sie hofften, ihren Besitz verteidigen zu können. Die Armee war so unvermittelt aufgetaucht, dass keine Zeit gewesen war, alles Wertvolle über die Brücke und hinauf zu den riesigen Stadttoren zu bringen, von denen die mächtige Zitadelle auf dem Hügel geschützt wurde. Zwei Tote lagen im Rinnstein, der in der Mitte der Straße verlief. Sie trugen das Wappen von Armagnac mit den vier Löwen. Es waren Armbrustschützen, die bei der aussichtslosen Verteidigung der Bourg getötet worden waren.
Fra Ferdinand kannte die Stadt nicht. Er suchte nach einem...
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