Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1.
»Suche Mitbewohnerin für möbliertes Zimmer in Zweizimmerwohnung. Solo ragazze - nur für junge Frauen«, lautet die Annonce. Eine Studentenbude für stolze vierhundertfünfzig Euro im Monat und ich muss nehmen, was ich kriegen kann.
Denn ich bin in einer Notsituation.
Ich sitze in einer der überfüllten, veralteten Straßenbahnen Mailands und gondele südwärts in eine wenig anheimelnde Gegend der italienischen Großstadt. Mein Auftrag: Zimmerbesichtigung. Es ist bereits die achte Wohnung in drei Tagen, zu der ich mich mit Bus und Bahn durchschlage - um jedes Mal erschrocken abzuwinken. Trotz Notsituation.
Da war zum Beispiel erst gestern die ärmlich eingerichtete Einzimmerwohnung für schlappe siebenhundert Euro im Monat, die ich mir mit einer japanischen Praktikantin hätte teilen müssen. Der einzige Pluspunkt wäre gewesen, dass ich ihren vor Hunger piependen Tamagotchi wegen des Straßenlärms von draußen kaum gehört hätte.
Vorgestern habe ich mir ein Zimmer bei einer alten Dame angeschaut, die mir bereits an der Haustür mitteilte, dass ich unter keinen Umständen die Plastikfolien von den Schränken, Tischen und Stühlen abnehmen dürfe, die sie darauf befestigt hatte. Die wertvollen Möbel seien nämlich bereits der einzigen Nichte zum Erbe versprochen und dürften daher nicht beschädigt werden. Ich konnte mir allerdings nicht vorstellen, einer gewieften Nichte zuliebe in einem Plastiktütenambiente zu leben - für fünfhundert Euro. Bei eingeschränkter Küchennutzung, versteht sich. Auch hier lehnte ich also dankend ab.
Die Wohnungssuche gestaltet sich wahrlich alles andere als einfach. Willkommen in bella Italia!
An der Viale Tibaldi steige ich aus der Bahn, suche mir den Weg und komme dabei durch eine kleine, düstere Seitengasse. Irgendwo hier muss das Haus sein, in dem sich das freie Zimmer befinden soll. Hinter einer weiteren Hausecke werde ich fündig und blicke auf eine graue, seit langer, langer Zeit unsanierte Gebäudefront. Die Haustür ist nur angelehnt, das Türschloss verrostet. Schnaufend steige ich ins oberste Stockwerk und klingele an der linken Wohnungstür.
Eine zierliche, freudlose Gestalt, die sich knapp als Cecilia vorstellt, öffnet mir und winkt mich geistesabwesend herein. Mit Blick auf den laufenden Fernseher in der schäbigen Küche deutet sie auf eines der beiden Zimmer auf der anderen Flurseite. »Dies hier ist das freie«, murmelt sie fahrig und wendet den Hals gleich wieder Richtung Küche, wo der italienische Verschnitt von Big Brother läuft.
Ich betrete einen winzigen Raum mit einem pritschenartigen Gästebett, einem Schreibtisch, zwei wackeligen Stühlen und einer alten Kommode. Von der Decke baumelt eine armselige Glühbirne und das schmutzige Fenster geht auf einen dieser typischen Luftschächte italienischer Wohnhäuser raus, in denen man das Tageslicht wenn überhaupt nur erahnen kann.
Keine Frage: Dies ist hier erneut ein Besichtigungstermin für die Tonne. Den Anblick des Badezimmers erspare ich mir. Hier kann ich nicht wohnen, so viel steht fest. Schon gar nicht für diesen Preis. Ratlos drehe ich mich zu Cecilia um, die inzwischen stumm hinter mich getreten ist.
»Zahlst du denn den gleichen Preis für dein Zimmer?«, will ich wissen.
»Sì certo, ja sicher«, antwortet sie, »so teuer ist das gar nicht. Ich habe hier völlige Freiheit: Hier wohnt kein Vermieter, der uns sagt, was wir zu tun oder zu lassen haben. Außerdem kann ich kommen und gehen, wann ich will.«
»Ja, aber«, nehme ich erneut Anlauf, »wenn der Vermieter für dieses Loch hier insgesamt bald tausend Euro einnimmt . Kümmert er sich denn nicht um den Zustand der Wohnung?«
»Nein«, Cecilia wirkt erstaunt, »warum sollte er?«, und fügt dann leicht ungeduldig mit einem Blick auf die Mattscheibe in der Küche hinzu: »Allora? Was ist, bist du nun an dem Zimmer interessiert oder nicht?«
Nein, bin ich nicht. Was nicht geht, das geht nicht, denke ich und trete den Rückzug in Richtung Straßenbahnhaltestelle an.
An der nächsten Kreuzung entdecke ich eine Bar, setze mich an einen kleinen, runden Tisch im Hinterraum und bestelle mir einen Cappuccino. An Ort und Stelle halte ich eine Lagebesprechung mit mir und meinen Notizen ab.
Stand der Dinge ist, dass ich gerade das letzte Zimmer von meiner Liste besichtigt habe, die ich in den letzten drei Tagen eilig durch das Studieren von Wohnungsannoncen und Aushängen in den Fluren von Eliteunis und Designerschmieden erstellt habe.
Ich habe ein Problem: Heute ist Donnerstag und schon morgen öffnet wieder die Rockdisco ihre Pforten, über deren Tanzfläche mein Bett steht. Ja, mein Bett. Ich habe nämlich blind von Deutschland aus ein Zimmer in einer Wohnung angemietet, die sich direkt über einer der angesagtesten Discos der Stadt befindet. Dabei haben mir die Vermieter am Telefon sogar gesagt, dass sich im Gebäude ein »Club« befinde. Das habe ich allerdings nicht ernst genug genommen - was ich hätte tun sollen. Ich war damals heilfroh, so schnell und aus der Ferne ein Dach über dem Kopf gefunden zu haben, dass ich sämtliche kleine Warnungen und eventuelle Haken geflissentlich überhört habe. Frohen Mutes bin ich nach Mailand gekommen, bis ich nach den ersten ruhigen Tagen mitten in der Nacht von dröhnender Rockmusik geweckt wurde, die bis fünf Uhr morgens anhalten sollte.
Nach drei durchwachten Nächten über der Disco, die selbst sonntags ab und an geöffnet hat, bin ich körperlich und geistig erledigt. Ich muss mir dringend eine neue Bleibe suchen, bevor das nächste Wochenende beginnt und ich am Montag als strategische Planerin in der Werbeagentur AdOne anfange. Zwar werde ich nur sechs Monate in Mailand bleiben, aber nichtsdestotrotz: Schlafen muss der Mensch. So auch ich.
Ich trinke den Cappuccino aus, löffele den restlichen Milchschaum aus meiner Tasse und gebe dem Kellner ein Zeichen, dass ich zahlen möchte.
»Stai cercando casa? Suchst du eine Wohnung?«, fragt er mit mitleidsvollem Blick auf die vor mir ausgebreiteten Wohnungsinserate, während er mir den Kassenzettel auf den Tisch legt.
»Mir reicht schon ein Zimmer«, gebe ich zurück und packe meine Sachen zusammen.
»Eeeh«, sagt er mitleidig, »cercare casa a Milano è così! Die Wohnungssuche in Mailand ist so!« Er hält eine Hand hoch und legt die Fingerspitzen zu einer Artischocke aneinander. Sehr schwierig bedeutet das, vielschichtig und bitter, wie eine Artischocke eben, bei der man den essbaren Kern auch erst nach einigen Mühen zum Vorschein pult.
»Hm, das macht mir Mut«, erwidere ich und stehe auf.
»Arrivederci und viel Glück, bella«, strahlt er mich zum Abschied aufmunternd an.
Ich trete aus der Bar vor die Tür und steige in die gerade ankommende Straßenbahn. Die Tram bringt mich in Richtung Porta Ticinese und hält schließlich am Domplatz, wo ich aussteigen muss. Wie immer ist die Piazza vor dem riesigen Mailänder Dom von Touristen überlaufen, die hier begeistert Fotos von sich und den Hunderten herumlungernden Tauben schießen.
Schon nach den wenigen Tagen, die ich in der Stadt bin, würdige ich das berühmte Bauwerk und die angrenzende Galleria Vittorio Emanuele keines Blickes mehr. Ich habe längst andere Sorgen. Daher springe ich aus der Bahn und renne zur nächsten Straßenecke, um direkt eine Anschlusstram zu ergattern, da die Taktung so gestaltet ist, dass sie mir fast immer direkt vor der Nase wegfährt.
So auch dieses Mal. Ich kann nur noch hilflos an die Scheibe klopfen, während die Wagen unbarmherzig davonrumpeln. Nun könnte ich zehn Minuten auf die nächste warten, beschließe aber die U-Bahn zu nehmen, obwohl ich dann etwas länger von der Haltestelle bis zu meiner Discowohnung laufen muss.
An einem Kiosk kaufe ich mir eine italienische Klatschzeitung, um erstens zu erfahren, wer in diesem Land gerade mit wem . und zweitens darüber hinaus weiter an meinem Schulitalienisch zu feilen. Dann steige ich die Treppen in die muffigen Gänge der Mailänder Metro hinunter. Am Gleis fährt gerade die Bahn ein - über deren Taktung zumindest kann ich mich nicht beschweren. Ich steige ein, ergattere sogar einen der seltenen Sitzplätze, falte die Zeitschrift auf und lasse mich von Station zu Station schaukeln.
»Bist du Engländerin?«, schreckt mich ein Fahrgast von meiner Lektüre auf.
Ich schaue hoch.
Links neben mir sitzt ein großer, schlanker Typ mit einem schmalen, freundlichen Gesicht und halblangen suferblonden Haaren. Er trägt ein weißes Leinenhemd, dessen Ärmel er ein Stück hochgekrempelt hat. Schöne Hände, ist der erste Eindruck, der mir durch den Kopf schießt. Schöne Hände bei einem Mann sind rar und immer gut.
»Nein, ich komme aus Deutschland«, gebe ich überrascht zurück. »Wieso?«
»Och, nur so. Interessiert mich. Diese Stadt ist voll mit Ausländern und ich finde es immer spannend, mich mit ihnen zu unterhalten und zu erfahren, was die hier so machen. Bist du Künstlerin?«
»Überlebenskünstlerin vielleicht«, lache ich, »ich arbeite in einer Hamburger Werbeagentur und bin für ein paar Monate an unsere Partneragentur in Mailand ausgeliehen.«
»Ah, capito, verstehe«, sagt er. »Ich dachte, du bist vielleicht Schmuckdesignerin. Du hast so einen bestimmten Stil. Dein Ring ist mir aufgefallen.«
Bestimmter Stil . Ich schaue überrascht an mir herunter. Heute trage ich blaue Jeans und eine grüne Flatterbluse aus dem Indiashop. Was soll's - vielleicht tragen Künstler so was und die Anmache ist ganz originell....
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