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Vorlesungssaal der Georgetown University, Georgetown, D. C.
FBI Senior Special Agent Sayer Altair warf einen Blick auf die Uhr an der hinteren Wand des Vorlesungssaals. Ihr Vortrag war seit ziemlich genau dreißig Minuten vorbei, und die Studenten stellten immer noch Fragen. Sie deutete auf einen jungen Mann in der ersten Reihe, der ungestüm mit dem Arm in der Luft herumwedelte.
»Agent . Doktor?« Er brach ab und errötete.
»Suchen Sie sich was aus.« Sayer versuchte zu lächeln, doch wahrscheinlich sah es eher so aus, als würde sie die Zähne blecken. Als Gefallen für ihren ehemaligen Mentor hatte sie sich bereiterklärt, an der Fakultät für Neurologie der Georgetown University einen Vortrag zu halten, allerdings hatte sie nicht mit der Flut an Fragen gerechnet. Als Neurowissenschaftlerin, die im Nationalen Zentrum für die Analyse von Gewaltverbrechen des FBI die Gehirnstrukturen von Serienmördern erforschte, war Sayer offenbar wesentlich interessanter als die meisten anderen Gastdozenten.
»Sie meinten vorhin, Sie hätten bei den Gehirnen von Serienmördern zahlreiche Abweichungen festgestellt«, sagte der Student.
»Zahlreiche Defizite, ja.«
Er warf einen Blick in seine Aufzeichnungen. »Sie haben weniger Graue Substanz im limbischen System, unterdurchschnittlich entwickelte Amygdalae und eine verringerte Aktivität des ventromedialen präfrontalen Cortex. Meine Frage ist nun: Finden Sie, wir sollten schon Kinder systematisch auf diese Marker hin untersuchen?«
Sayer blinzelte. Es war eine gute, aber zugleich auch schreckliche Frage. Sie holte tief Luft.
»Und was macht man dann mit einem Kind, das ein >psychopathisches< Gehirn aufweist? Die Antwort lautet . nichts. Obschon die Gehirnstruktur unser Verhalten maßgeblich beeinflusst, kann man durchaus eine psychopathische Veranlagung haben, ohne gleich ein Serienmörder zu sein. Solche Leute werden vermutlich nie einen Preis für Menschenfreundlichkeit gewinnen, aber statistisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, dass aus einem solchen Kind später mal ein Chirurg oder ein erfolgreicher Politiker wird, deutlich höher, als dass es eine Laufbahn als Serienkiller einschlägt.«
Ein Murmeln ging durch den Saal.
Sayer fuhr fort. »Im Rahmen meines laufenden Projekts interviewe ich Menschen, die ich als >prosoziale Psychopathen< bezeichne - Menschen mit psychopathischen Eigenschaften, denen es jedoch gelingt, ihren Narzissmus, ihren Mangel an Empathie und ihre ungewöhnlich stark ausgeprägte Gemütsruhe im Rahmen von erfolgreichen Karrieren als Firmenchefs, Anwälte, Polizisten oder Ärzte zu kanalisieren. Es gibt Millionen von Menschen, die man im Sinne der Psychopathie-Checkliste als Psychopathen klassifizieren würde und die nie eine Straftat begangen haben.« Sie blickte ins Halbdunkel des Auditoriums. Sie hätte das Thema noch weiter ausführen können, doch sie wusste, dass zu Hause ein Festmahl auf sie wartete. Ihre erwachsene Adoptivtochter Adi wollte am darauffolgenden Tag nach Stanford fliegen, um sich die Uni anzuschauen, und Tino, ihr Nachbar und Mitbesitzer ihres Hundes, hatte gerade zusammen mit besagtem Hund erfolgreich eine Ausbildung zur tiergestützten Therapie absolviert. Sayer freute sich schon auf ein Bier und ein leckeres Essen im Kreis ihrer Familie.
»Ich beantworte noch eine Frage, dann müssen wir leider zum Ende kommen«, verkündete sie.
Ein Dutzend Hände schnellte in die Luft.
Sayer nahm eine unscheinbar aussehende junge Frau in der hintersten Reihe dran.
»Sie haben ja schon mit Hunderten von Psychopathen gearbeitet. Was war das verstörendste Interview, das Sie jemals geführt haben?«
Ein unwillkürlicher Schauer ließ die Härchen auf Sayers Armen zu Berge stehen. Ihr war sofort Studienteilnehmer 037 in den Sinn gekommen.
»Interessant, dass diese Frage gerade jetzt kommt. Wie es der Zufall will, hatte ich mein ungewöhnlichstes und auch beunruhigendstes Interview mit einem meiner nicht kriminellen Psychopathen .« Sayer machte eine Pause, weil sie erst überlegen musste. Sie wollte mit ihrer Antwort keine Vertraulichkeitsvereinbarungen verletzen. »Es war ein Studienteilnehmer, der auf der Psychopathie-Checkliste die volle Punktzahl erreicht hat. Nicht mal der schlimmste Killer, dem ich jemals begegnet bin, hat dieses zweifelhafte Kunststück fertiggebracht.«
»Ihr unheimlichstes Interview war also nicht mit einem Mörder?«, hakte die junge Frau nach.
»Das ist richtig. Die Mörder, mit denen ich im Rahmen meiner Forschungsarbeit gesprochen habe, waren im Großen und Ganzen nicht übermäßig intelligent und neigten zu überhöhter Selbstwahrnehmung. Damit wir uns ganz klar verstehen: Diese Leute sind Monster, die unzählige Menschenleben auf dem Gewissen haben, und trotzdem erregen sie meistens eher Mitleid als Furcht. Dieser andere Studienteilnehmer hingegen war .« Sayer hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden, um ihre Gespräche mit 037 zu beschreiben. »Bei ihm lief es mir kalt den Rücken hinunter.«
»Und Sie wissen nicht mal, wer er ist?«, rief ein Student dazwischen.
»Richtig, ich garantiere all meinen Studienteilnehmern absolute Anonymität. Viele von ihnen wären sonst gar nicht bereit, mit mir zu sprechen«, erklärte Sayer. »Wobei Psychopathen oft eine Tendenz zur Selbstüberhöhung haben, deshalb waren viele von ihnen ganz wild darauf, mir von sich zu erzählen. Dieser spezielle Teilnehmer allerdings legt sehr großen Wert darauf, unerkannt zu bleiben.«
Sayer erwähnte nicht, dass Studienteilnehmer 037 im Laufe ihrer Interviews ein geradezu krankhaftes Interesse an ihrem Leben und ihrer Karriere entwickelt hatte. Es musste sich um jemanden handeln, der in D. C. über ausgezeichnete Kontakte verfügte, womöglich sogar bis in die oberen Ränge der NSA hinein. Und diese Kontakte hatte er genutzt, um sie inmitten eines großen FBI-Skandals vor dem beruflichen Ruin zu bewahren. Dass es ihm sehr wichtig zu sein schien, sie zu beschützen, ohne dass sie die Gründe dafür durchschaute, bereitete ihr großes Unbehagen.
Es war, als hätte sie die Aufmerksamkeit eines gezähmten Tigers auf sich gezogen. Die Gespräche mit 037 boten ihr die Gelegenheit, Einblicke in die Funktionsweise eines wahrhaft faszinierenden Bewusstseins zu bekommen, waren aber zugleich ein Spiel mit dem Feuer. Ein Mann wie 037 konnte sich ohne jede Vorwarnung gegen sie wenden.
»Was war denn so unheimlich an ihm?«, wollte der nächste Student wissen.
Sayer war drauf und dran, ihm zu antworten, als ihr Telefon, das vor ihr auf dem Pult lag, zu summen anfing. Selten war sie so froh über eine Unterbrechung gewesen. Obwohl sie hauptsächlich als Neurowissenschaftlerin arbeitete, war sie auch eine aktive Agentin in der Critical Incident Response Group des FBI, und als solche hatte sie immer Bereitschaft.
»Entschuldigung, da muss ich rangehen.« Sie warf einen Blick auf das Telefon und staunte, als sie Direktor Andersons Namen auf dem Display sah.
Hastig nahm sie ab.
»Agent Altair.« Seine aristokratische Sprechweise tat wenig, seinen brüsken Ton abzumildern.
»Direktor Anderson .« Sayer machte eine entschuldigende Handbewegung in Richtung der Studenten, verließ das Podium und eilte in einen kleinen angrenzenden Raum.
»In der Innenstadt gab es einen Doppelmord«, eröffnete Anderson ihr ohne jede Einleitung. »Eins der Opfer war Polizist. Es besteht Grund zu der Annahme, dass es sich um einen Serientäter handelt, deshalb hat die örtliche Polizeidienststelle darum gebeten, dass das FBI die Ermittlungen übernimmt. Genauer gesagt: Ihre Fans im DCPD haben Sie angefordert.« Unverhohlenes Missfallen hatte sich in seine Stimme geschlichen. »Und da ich die Kollegen der örtlichen Strafverfolgungsbehörden nicht enttäuschen möchte, habe ich beschlossen, Ihnen als Liebling der Medien die Leitung des Falls zu übertragen.«
Sayer ignorierte Andersons beißenden Sarkasmus und überflog stattdessen die Akte, die soeben auf ihrem Handy eingegangen war. Der Polizist hatte den Mörder gestört und war durch einen Schuss in die Brust getötet worden. Eine weibliche Leiche war ebenfalls am Tatort aufgefunden worden. Die Tat wies ritualistische Elemente auf.
»Hier steht, die Tat trug Züge eines Ritualmords. Wissen Sie Näheres darüber?«, fragte sie.
»Bin ich Ihre Sekretärin?«, blaffte Anderson. »Die Tat hat sich auf dem Gelände der National Academy of Sciences ereignet, gegenüber der Mall. Es ist eine Woche nach Weihnachten, und der Bürgermeister fürchtet, dass die Touristen ausbleiben könnten. Beim DCPD glaubt man, das weibliche Opfer sei noch minderjährig, außerdem hat der Täter eine mit Blut geschriebene Botschaft hinterlassen. Sie sind bei der Sache auf sich allein gestellt. Halten Sie mich auf dem Laufenden.« Anderson beendete das Gespräch.
Sayer starrte ihr Telefon an. Die letzte Bemerkung des FBI-Direktors hatte an Klarheit nichts zu wünschen übrig gelassen. Weil sie die meiste Zeit mit ihren Forschungsprojekten...
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