Erstes Kapitel.
Des Verfassers Stammbaum, - sowie auch der seines Vaters.
Der Philosoph, der eine neue Lehre verkündet, ist gehalten, wenigstens einige Grundbeweise von der Vernunftmäßigkeit seiner Sätze zu liefern, und der Geschichtschreiber, der Wunder zu erzählen wagt, die bis dahin von menschlicher Erkenntniß verborgen gehalten worden, ist es einer gebührenden Rücksicht für die Meinungen andrer schuldig, einige glaubhafte Zeugnisse für seine Wahrhaftigkeit beizubringen. Ich bin in Hinsicht dieser beiden großen Erfordernisse in einer besondren Lage, da ich für meine Philosophie wenig mehr als ihre Wahrscheinlichkeit, und keinen andern Zeugen als mich selbst aufzuweisen habe, um die wichtigen Thatsachen zu begründen, die jetzt zum ersten Mal der lesenden Welt vorgelegt werden sollen. In dieser Verlegenheit fühle ich recht wohl die Verantwortlichkeit, die ich auf mich nehme, denn es gibt Wahrheiten von so wenig anscheinender Wahrscheinlichkeit, daß sie Erdichtungen gleichen, und ferner der Wahrheit so ähnliche Erdichtungen, daß der gewöhnliche Beobachter geneigt ist zu versichern, er sei ein Augenzeuge ihrer Wirklichkeit gewesen; zwei Thatsachen, welche alle unsre Geschichtschreiber wohl thun würden sich zu Gemüth zu führen, da eine Kenntniß der Umstände ihnen den Schmerz ersparen würde, Zeugnisse, die ihnen viele Mühe kosten, in dem einen Fall in Mißcredit gebracht zu sehen, und in dem andern viele peinvolle und unnöthige Mühe zu vermeiden. Also sowohl in Hinsicht dessen, was der Franzose die pièces justificatives meiner Theorien nennen würde, als auch was meine Thatsachen betrifft, auf mich selbst zurückgewiesen, sehe ich keinen andern Weg, den Leser zu bewegen mir zu glauben, als indem ich eine ungeschminkte Nachricht von meiner Abstammung, Geburt, Erziehung und Leben bis zu der Zeit gebe, wo ich Augenzeuge jener wunderbaren Begebenheiten ward, die ich das Glück habe zu erzählen, und womit zu seinem Glück der Leser jetzt bekannt gemacht werden soll.
Ich werde mit meiner Abstammung, meinem Stammbaum beginnen, sowohl weil es die gewöhnliche Ordnung der Dinge so mit sich bringt, als auch um von diesem Theil meiner Erzählung gehörigen Vortheil zu ziehen, da er nicht nur dem übrigen Glaubwürdigkeit verschaffen wird, sondern auch dazu beitragen mag, Wirkungen auf ihre Ursachen zurückzuführen.
Ich habe mich gemeiniglich als auf gleichem Fuß mit den ältesten Edelleuten Europa's angesehen, da wenige Familien klarer und direkter in den Nebel der Zeiten hinaufgeführt worden, als die, deren Glied ich bin. Meine Abkunft von meinem Vater wird unbestreitbar dargethan sowohl durch die Pfarrregister als durch das Testament von ihm selbst; und ich glaube, niemand kann die Wahrheit des ganzen Stammbaums seiner Familie deutlicher beweisen, als ich es im Stande bin mit dem meines Vorfahrs bis zur Stunde, wo er, zwei Jahre alt, schreiend vor Kälte und Hunger in dem Kirchspiel St. Giles in Westminster in dem vereinten Königreich Großbritanien gefunden ward. Ein Orangen-Weib hatte Erbarmen mit seinem Leiden. Sie sättigte ihn mit einer Brodkruste, wärmte ihn mit Wermuthbier und dann geleitete sie ihn voll Menschlichkeit zu einem Manne, mit welchem sie von jeher häufige aber ärgerliche Verhandlungen hatte, - zu dem Gemeindeaufseher. Der Fall mit meinem Vorfahr war so dunkel, daß er ganz klar war. Niemand konnte sagen, wem er angehörte, woher er gekommen, oder was etwa aus ihm werden sollte; und da das Gesetz damals noch nicht zuließ, unter Umständen wie diese, die Kinder auf der Straße verhungern zu lassen, sah sich der Gemeindeaufseher, nachdem er alle geeignete Schritte gethan, um die Kinderlosen und Barmherzigen seiner Bekannten zu dem Glauben zu vermögen, solch ein verlassenes Kind sei als besondres Pfand von der Vorsehung einem jeden von ihnen ins Besondre bestimmt, genöthigt, meinen Vater der Obhut einer der gewöhnlichen Ammen des Kirchspiels zu übergeben. Es war ein großes Glück für die Authenticität dieses Stammbaums, daß des Orangen-Weibes Verwenden diesen Erfolg hatte, denn wäre mein Vater den glücklichen Zufällen und edelmüthigen Launen freiwilliger Wohlthätigkeit ausgesetzt gewesen, so ist es mehr als wahrscheinlich, ich würde einen Schleier über jene wichtigen Jahre seines Lebens werfen müssen, die er notorisch im Arbeitshause zubrachte, und die jetzt, in Folge dieses Vorfalls, leicht durch rechtskräftige Beweise und documentarische Evidenz beglaubigt werden können.
So geschieht es denn, daß in den Jahrbüchern unsrer Familie sich keine Lücken finden; selbst jene Periode, die gewöhnlich nur mit Mährchen und eitlen Erzählungen in dem Leben der meisten Männer ausgefüllt wird, ist Gegenstand eines gesetzlichen Aufzeichnens in dem Leben meines Vorfahren, und war es so immer bis zum Tag seiner angenommenen Volljährigkeit, da er einem sorgsamen Meister den Augenblick übergeben ward, wo der Pfarrsprenkel mit einigem gesetzlichen Grund, denn von Schicklichkeit und Anstand kann ja hier keine Rede sein, seiner los werden konnte. Ich hätte bemerken sollen, daß das Orangen-Weib von dem Schild eines Metzgers, dessen Thür gegenüber mein Vorfahr gefunden ward, Veranlassung nahm, ihm sehr scharfsinnig den Namen Thomas Goldenkalb zu geben.
Dieser zweite wichtige Uebergang in der Geschichte meines Vaters, seine Lehrzeit nämlich, kann als eine Vorbedeutung seines künftigen Glücks betrachtet werden. Er ward Lehrling bei einem Händler in Mode-Artikeln, bei einem Ladeninhaber, der mit solchen Gegenständen verkehrte, wie sie gewöhnlich von denen gekauft werden, die nicht recht wissen, was sie mit ihrem Gelde thun sollen. Dieses Gewerb war von ausserordentlichem Nutzen für das künftige Wohlergehen des jungen Abentheurers, denn ungerechnet die bekannte Thatsache, daß die, welche ergötzen, weit besser bezahlt werden, als die, so belehren, so setzte ihn auch seine Stellung in den Stand, jene Launen der Menschen zu studieren, welche, wenn gehörig geleitet, an sich selbst eine Mine des Reichthums sind, und ausserdem zu der wichtigen Wahrheit führen, daß die größten Begebenheiten dieses Lebens weit öfter das Ergebniß des bloßen Antriebs als der Berechnung sind.
Ich habe es in direkter Ueberlieferung mündlich von den Lippen meines Großvaters überkommen, daß niemand in dem Charakter seines Herrn hätte glücklicher sein können als er selbst; dieser Mann, der zu rechter Zeit als mein Großvater von mütterlicher Seite sich erwieß, war einer jener vorsichtigen Krämer, die andre aus eignem Vortheil in ihren Thorheiten bestärken, und die Erfahrung von fünfzig Jahren hatte ihn in den Kniffen seines Handwerks so gewandt gemacht, daß er selten eine neue Ader in seiner Mine anschlug, ohne sich für sein Beginnen durch einen Erfolg belohnt zu sehen, der seinen Erwartungen gänzlich entsprach.
»Tom,« sagte er eines Tags zu seinem Lehrling, als die Zeit Vertrauen zwischen ihnen hervorgebracht, und gleiche Gefühle geweckt hatte, »du bist ein glücklicher Junge, oder der Gemeindeaufseher hätte dich nie zu meiner Thür gebracht. Du kennst schlecht den Reichthum, der für dich aufgespeichert ist, alle die Schätze, die zu deinem Befehl stehen, wenn du dich eifrig erweisest, und besonders treu meinen Interessen bist.« Mein vorsichtiger Großvater ließ selten eine Gelegenheit vorübergehen, ohne eine nützliche Moral einfließen zu lassen, obgleich auch im Allgemeinen sein Handel durch Wahrhaftigkeit sich auszeichnete. »Nun wie hoch denkst du, Junge, beläuft sich mein Kapital?«
Mein Vorgänger in männlicher Linie wagte keine Antwort, denn bis jetzt waren seine Gedanken auf den Profit beschränkt gewesen, und nie hatte er gewagt, seine Ideen bis zu jener Quelle zu erheben, aus der, wie er nothwendig sehen mußte, er in reichem Strom herfloß; aber auf sich selbst beschränkt durch diese unerwartete Frage, und schnell in den Zahlen, fügte er zehn Prozent zu der Summe, welche, wie er wußte, letztes Jahr der Netto-Gewinn ihrer vereinten Kunstfertigkeit gewesen, hinzu, und nannte den Betrag als Antwort auf die Frage.
Mein Großvater von mütterlicher Seite lachte meinem direkten Lenear-Vorfahren gerade zu in das Gesicht. »Du urtheilst, Tom,« sagte er, als seine Lustigkeit sich ein wenig gelegt hatte, »nach dem, was du für die Interessen des wirklichen Kapitals vor deinen Augen hältst, während du auch das in Rechnung bringen solltest, was ich unser schwebendes Kapital nenne.«
Tom sann einen Augenblick; denn wenn er auch wußte, daß sein Herr Geld in den Fonds hatte, so rechnete er doch das nicht als einen Theil der verfügbaren Mittel, die mit seinem gewöhnlichen Geschäft zusammengehangen hätten; und in Hinsicht des schwebenden Kapitals sah er nicht recht ein, wie es von großem Belang sein konnte, da das Mißverhältniß zwischen dem Einkaufspreiß und den Verkaufspreißen der einzelnen Artikel, womit sie handelten, so groß war, daß bei einer solchen Untersuchung nicht viel herauskommen konnte. Da jedoch sein Herr selten für etwas bezahlte, bevor er nicht im Besitz des Einkommens davon war, welches die Schuld einige sieben Mal überstieg, dachte er anfangs, der alte Mann spiele auf die Vortheile an, die er durch Credit erlangte, und nach einigem weitern Nachdenken faßte er ein Herz und sagte noch ein Mal soviel.
Nochmals überließ sich mein mütterlicher Großvater einem herzlichen Lachen. »Du bist geschickt auf deine Art, Tom«, sagte er, »und ich liebe die Genauheit deiner Rechnungen, denn sie zeugen von Talent für die Handlung; aber in unserm Beruf liegt Genie sowohl als Geschicklichkeit. Komm hierher, Junge,« fügte er hinzu, und zog Tom an ein Fenster, von wo sie die Nachbarn auf ihrem Weg zur Kirche sehen konnten, denn an einem Sonntag überließen sich meine zwei vorsichtigen Vorfahren diesen...