Schweitzer Fachinformationen
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25. April 1838, Cincinnati, Ohio
Als das Dampfschiff Moselle kurz vor dem Anlegen in Cincinnati explodierte, saß ich unten in der Damenkabine, nähte Teeblätter in kleine Musselinbeutel und schmiedete Rachepläne gegen meine Cousine Comfort, weil sie beim Abendessen über mich gelacht hatte.
Ich konnte es ihr auf vielerlei Art heimzahlen. Manchmal ergänzte ich ein paar Abnäher an ihren Manschetten, auf der Bühne schwollen ihre Handgelenke dann an, sodass sie den Stoff nach der Vorstellung aufschneiden musste, um ihre Arme herausziehen zu können. Oder ich schnitt die Bänder ihrer Corsage ein bisschen kürzer, damit sie sich nicht so eng schnüren konnte, wie es ihr gefiel, oder ich nähte eine kleine Taubenfeder in den Rücken eines ihrer Kostüme, sodass der Kiel an ihrer Haut kratzte.
Ich war Comforts Schneiderin, Garderobiere und Kofferpackerin. Und hundert anderes mehr. Sie war die Berühmte Comfort Vertue. Das war ihr Bühnenname.
Aber sie war nicht berühmt, und sie war nicht mit Lord und Lady Vertue aus Suffolk in England verwandt, wie sie beim Abendessen behauptet hatte. Comfort war fast dreißig Jahre alt, behauptete jedoch, so alt zu sein wie ich, zweiundzwanzig. In den letzten sechs Monaten waren die Rollenangebote für eine Junge Naive seltener geworden, aber sie war noch nicht bereit, Matronen oder Witwen zu spielen, da der Name bei diesen Rollen bestenfalls erst als zweiter oder dritter auf dem Plakat genannt wurde. Stattdessen hatte sie für uns beide Fahrkarten auf dem Dampfschiff Moselle nach St. Louis gebucht, auf der Suche nach, wie sie es nannte, neuen Chancen.
Wir hatten in Pittsburgh darüber gestritten. Ich wollte mit einer Überlandkutsche nach New York fahren, wo wir mehr Chancen hätten. Aber Comfort hatte genug von New York.
»Wir haben nicht genug Geld dafür, Frog. Außerdem habe ich ein Angebot vom New Theatre in St. Louis. Der Direktor stellt ein Ensemble zusammen.«
Sie lächelte mich an. Meine Cousine ist eine sehr schöne Frau mit klaren blauen Augen, schönen Zähnen und hellem rotgoldenem Haar, das ich jede Nacht für sie auf Stoffstreifen wickelte. Ihre Nase ist allerdings ein kleines bisschen schief und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Kerbe in ihrem Kinn.
»Ein festes Angebot?«, fragte ich.
Sie behauptete gern, dass sie mich nach dem Tod meiner Mutter gerettet hatte, aber das stimmte nicht. Sie hatte einfach nur eine Chance wahrgenommen. Wie die Chance, die sie jetzt in St. Louis sah. Dort kannte uns niemand. Sie könnte zweiundzwanzig Jahre alt sein und gerade erst beginnen, und nicht fast dreißig und gerade so durchkommen. Ich wäre diejenige, die ich immer gewesen bin: ihre dunkelhaarige Cousine, die für sie nähte und sich von der Bühne fernhielt. Ich könnte auch zweiundzwanzig Jahre alt sein. Was ich tatsächlich war.
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Wir waren bereits seit sechs Tagen auf der Moselle und dachten, noch weitere sechs Tage auf ihr zu verbringen, als sie nachmittags unterging. Beim Abendessen befanden sich Comfort und ich an einem großen Tisch fast im Zentrum des Speisesaals mit sieben oder acht anderen Gästen. Wir alle saßen nah an der weißen Tischdecke mit ihren vielen kleinen Saucenflecken, während Männer in weißen Jacketts Platten aus der Küche hereintrugen: gebratenes und frittiertes Huhn, panierter Kabeljau, kalter Schinken, warmes Brot, eingemachte Pfirsiche, eingelegte Gurken und große Steingutschüsseln mit dampfendem Gemüse. Im Speiseraum roch es nach Braten und Terpentin, und im Hintergrund hörte man ein leises, aber stetiges Brummen von den Heizkesseln, das wir im Gespräch übertönen mussten. Das war für die ausgebildete Schauspielerin Comfort kein Problem. Mit einer der Damen an unserem Tisch, Mrs Flora Howard, einer rotgesichtigen Sklavereigegnerin, nahmen wir inzwischen all unsere Mahlzeiten ein. Sie erzählte uns eine lustige Geschichte über ein Maultier, und ich habe wohl darüber gelächelt, denn ein anderer Tischgenosse, Mr Thaddeus Mason, ein Schauspieler wie Comfort, sagte plötzlich: »Na sag mal, May! Was für ein hübsches Lächeln!«
Ich wurde sofort verlegen und presste die Lippen aufeinander.
»Jetzt sehen Sie nur, was Sie getan haben«, sagte Mrs Howard, »ich glaube, ich habe Mays Zähne noch nie gesehen.«
»Ein Lächeln, das umso bezaubernder ist, weil es so selten ist«, sagte Thaddeus mit seiner Stimme für das Rezitieren von Gedichten. Thaddeus war ein bisschen kleiner als der Durchschnitt und trug seine blonden Locken recht lang wie ein jüngerer Mann. Wir kannten ihn aus dem Third Street Theatre, an dem Comfort einen Monat lang mit ihm gemeinsam aufgetreten war. Mrs Flora Howard hatte ihren Bruder in Shippingport besucht und war jetzt auf dem Weg zu einem anderen Bruder in Vevay. Sie war eine kräftige Frau, die jeden Tag lange Perlen- und Silberketten über ihren üppigen Seidenroben trug. Jedes ihrer Kleider verschlang viele Meter Stoff, und ich fragte mich, ob die Kosten dafür nicht reichten, um sie zum Abnehmen zu bewegen. Aber Comfort erzählte mir, dass Mrs Howard eine reiche Witwe war, mit einem großen, wunderschön ausgestatteten Haus in Cincinnati - Comfort findet solche Dinge immer heraus -, und wahrscheinlich dachte sie, dass sie sich ihr Gewicht leisten konnte.
Comfort legte ihren Kopf schräg und lächelte Mrs Howard mit ihrem kindlichen Lächeln mit Grübchen an. Sie war es gewohnt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, und es gefiel ihr nicht, dass sie diese mit mir teilen musste. Nicht dass es mir gefallen hätte.
»Sie sind sehr talentiert«, sagte sie zu Mrs Howard, »wenn Sie meine Cousine zum Lächeln bringen. Und wenn Sie sie zum Lachen bringen, nun, dann gebe ich Ihnen einen Dollar. Ich glaube, ich habe May in meinem ganzen Leben nur zwei Mal lachen hören.«
Eine Übertreibung. Ich mag keine Übertreibungen.
»Ich lache manchmal«, sagte ich.
»Ich bin mir sicher, Sie haben ein wunderschönes Lachen«, warf Thaddeus ein, »genau wie Ihr Lächeln.«
Comfort runzelte die Stirn. Aufmerksamkeit bedeutete für sie das, was der perfekt gerade genähte Saum für mich bedeutete, und wir waren beide bereit, hart dafür zu arbeiten.
»Ach, sehen Sie nur - wird das Mädchen für uns singen?«, fragte sie laut und wechselte das Thema. »Ich glaube schon! Ich glaube, dieses Mädchen wird tatsächlich für ihr Abendessen singen!«
Ich drehte mich um. Eine große Frau in einem rosafarbenen Kleid stand auf einem kleinen Podium und bereitete sich auf ihren Auftritt vor. Neben ihr spielte ein Mann mit einer Geige unter dem Kinn ein paar Noten, um das Instrument zu stimmen und um unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Und als alle im Raum ruhig waren, zeigte er mit seinem Bogen auf sie und sagte: »Ladys und Gentlemen, Miss Helena Cushing, von Hugos und Helenas Floating Theatre.«
Die geschlossenen Glastüren des Speisesaals warfen ein diffuses Nachmittagslicht auf ihr rosafarbenes Kleid und ihr hübsches, weiches Gesicht. Über uns schwankten die Kronleuchter, als das Schiff eine leichte Kurskorrektur durchführte, dann breitete Miss Cushing die Arme aus und begann zu singen.
»Drink to me only with thine eyes, and I will pledge with mine
Or leave a kiss within the cup and I'll not ask for wine .«
Sie sang ruhig und entspannt, gar nicht so, als stünde sie vor hundert Fremden, die Servietten in den Kragen gesteckt hatten und ihre Gabel gerade zum Mund führten, sondern eher so, als wäre sie allein in einem Zimmer und ließe ihren Tee abkühlen, während sie ihren eigenen Gedanken bis an ihr Ziel folgte. Als sie geendet hatte, gab es höflichen Applaus, dann läuteten die Gäste nach mehr Brot.
Miss Cushing drehte sich zu dem Geiger um und fing an, energisch mit ihm zu sprechen. In einem Augenblick war all ihre bemerkenswerte Ruhe verflogen.
»Also, das ist einfach schrecklich«, verkündete Mrs Howard.
Ich folgte ihrem Blick zu einem Tisch in der Nähe, an dem eine ältere Frau in einem dunkelgrünen Kleid von einem schwarzen Jungen bedient wurde.
»Sie hat ihren Sklavenjungen mitgebracht«, sagte Mrs Howard.
Der Junge stand hinter dem Stuhl seiner Herrin, trug weiße Handschuhe, die am Handgelenk eng geknöpft waren, und ein kleines braunes Halstuch über einem frisch gebügelten weißen Hemd. Ich bin im Norden aufgewachsen und hatte bisher erst selten Sklaven gesehen. Auch wenn sein Hemd eindeutig für ihn verändert worden war - die Schulterlinie war nicht ganz korrekt -, er oder jemand anders achtete sehr darauf, dass es sauber war.
Einer unserer Tischgenossen, ein Mann mit Backenbart und einem Smaragdring an seinem kleinen Finger, beugte sich vor.
»Ich habe gehört, dass alle Sklaven in St. Louis Französisch sprechen«, sagte er.
»Für sie ist er wie ein Gepäckstück«, sagte Mrs Howard laut und indigniert und ignorierte ihn. »Sie holt ihn und nimmt ihn einfach überallhin mit. Jemand sollte ihn sich jetzt sofort schnappen und nach Kanada bringen.«
Der Mann mit dem Ring am kleinen Finger runzelte die Stirn. »Das wäre Diebstahl, man könnte Sie dafür hängen. Nehmen Sie nur diesen Mann, Lovejoy. Alles, was er getan hat, war, ein paar Artikel gegen Sklaverei in seiner Zeitung zu veröffentlichen, und schon hat man seine Druckerpresse mit ihm verbrannt. Oder ihn erschossen, ich erinnere mich nicht mehr so genau.«
Aber das ließ Mrs Howard nur noch unerbittlicher antworten: »Die Sklaverei muss abgeschafft werden, nicht erst morgen, sondern heute. Ich bin mir sicher, jeder an diesem Tisch stimmt mir zu.«
Aus irgendeinem...
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