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Als ein Spaziergänger Domenico Falcone an einem Julimorgen erschlagen am Ufer des Po entdeckte, war es gerade hell geworden, Turin noch nicht richtig wach, und wie es der Zufall wollte, war ich zur selben Zeit mit dem Ruderboot auf dem Fluss unterwegs, nicht sehr weit entfernt vom Fundort der Leiche. Eine Stunde später fand ich mich selbst am Tatort wieder. Meinen ersten Urlaubstag hatte ich mir allerdings anders vorgestellt. Immerhin hatte er gar nicht so schlecht begonnen. Ich war früh aufgestanden, noch im Dunkeln, hatte mir auf die Schnelle einen Cappuccino zubereitet, ein paar biscotti dazu gegessen, war im anbrechenden Morgenlicht mit dem Fahrrad durch das noch menschenleere Turin zum Vereinshaus meines mitten in der Stadt am Po gelegenen Ruderclubs gefahren, wo mich bereits Lorenzo erwartete, der Trainer, den alle nur Renzo nannten, und der mich wie gewohnt mit einem knappen Nicken und knurriger Miene begrüßt hatte.
Renzo war ein wortkarger Typ, dessen gealtertem zähem Körper man den einst erfolgreichen Ruderer schon von weitem ansah. Im Verhältnis zu seiner Statur war er extrem breitschultrig, und seine mageren Beine, die stets in ausgewaschenen, zu kurzen Shorts steckten, waren sehnig und braun gebrannt. Der ganze Mann schien wie gegerbt von dem kräftezehrenden Sport. Renzo hatte mir kurz nach meiner Ankunft geholfen, das schlanke, gut zehn Meter lange Zweierrennboot von der Stellage herunterzuheben, an den Steg zu tragen und ins Wasser zu legen, war wortlos in sein Beiboot gestiegen und hatte schon den kleinen Außenborder angelassen, der jetzt leise vor sich hin tuckerte.
Meine Freundin Franca kam auch heute zu spät, war wie ich schon im Sportdress und murmelte hastig eine Entschuldigung, sah dabei aber strahlend und sehr ausgeschlafen aus. Wenn ich damit gerechnet hatte, dass Renzo sie wegen ihrer Unpünktlichkeit anfahren würde, hatte ich mich getäuscht. Er schien an diesem strahlenden Julimorgen gute Laune zu haben, außerdem durfte Franca sich bei ihm mehr erlauben als andere. Sogar dieser knurrige Trainer konnte sich ihrem warmherzigen Temperament nicht verschließen.
Wir legten sofort los, und wie immer waren die ersten Schläge mühsam, die Müdigkeit saß mir in den Knochen, und als ich die Ruderblätter eintauchte - ich nannte die Ruder aus Gewohnheit immer noch so, obwohl sie eigentlich Skulls hießen -, fühlte es sich an, als zöge ich sie durch flüssiges Blei anstatt durch Wasser. Franca dagegen bewegte sich gewohnt geschmeidig. Meine beste Freundin gab als Schlagfrau unseren Rhythmus vor, während ich auf meinem Platz hinter ihr im Bug des Bootes auch dafür sorgte, dass wir den Kurs hielten. Ich klinkte mich in ihren Takt ein, blickte auf ihren schmalen Rücken und ihre dunklen, zu einem tief sitzenden Zopf gebändigten Haare, sah, wie sich ihre Muskeln unter ihrem Shirt anspannten und lockerten und dachte zum hundertsten Mal, wie viel leichthändiger sie war als ich, nicht nur beim Rudern, sondern eigentlich in fast allen Dingen des Lebens.
Nichts ließ an diesem Morgen erahnen, dass ich schon bald an einen Tatort gerufen würde, wo mich ein toter junger Mann und eine verstörte junge Frau erwarteten. Die Luft war zu der frühen Stunde noch kühl, aber die Julisonne hatte schon viel Kraft; ein weiterer Tag mit sengender Hitze kündigte sich an. Der leicht modrige Geruch des Flusses stieg mir in die Nase, und aus den Augenwinkeln nahm ich schemenhaft die Stadt wahr, wie einen Film, der neben mir ablief. Auf der Seite des Flusses, die dem historischen Zentrum zugewandt war, ragte die Spitze der eigenwilligen Mole Antonelliana in den Himmel, dann passierten wir den Ponte Vittorio Emanuele I, die Brücke, auf die Turins größter und imposantester Platz aus leicht erhabener Lage zufiel. Danach, hinter den Murazzi, den alten steinernen Lagerhallen am Po, wurde es grüner. Aber bis auf zwei ältere Männer mit Fischerhüten auf dem Kopf sowie Eimern und Klappstühlen neben sich, die ihre Angeln ausgeworfen hatten, lag das Flussufer noch still. Doch langsam erwachte die Stadt, und im Parco del Valentino würde es bald zu wuseln beginnen.
Der Park flog jetzt an mir vorbei, mit seinen Kiosken, die zu seinem quirligen Charme gehörten, wo an Tischen und Stühlen draußen schon ein paar Frühaufsteher beim Espresso saßen und sich den ersten Sonnenstrahlen entgegenstreckten. Auch zwei Jogger trabten am Ufer entlang, und einmal paddelte uns ein Kajakfahrer entgegen, sonst war auf dem Fluss nichts los. Da es rundum so still war, hörte sich unser Boot richtig laut an, das Rauschen, mit dem es durch das Wasser glitt, und das sanfte Klatschen, wenn wir die Ruderblätter eintauchten.
»Oberkörper aufrecht, Camilla!«, rief Renzo, und mein Blick ging über Franca hinweg nach hinten, wo ich nur noch die äußerste Spitze der Mole sah und unsere Strömungsspur, die sich nach ein paar Metern in den trüben Fluten des Po verlor.
Der Himmel über mir war blassblau mit ein paar wattigen, sehr weißen Wolken, die sich weiter hinten über den Bergen ballten. Ein Flugzeug zog über der Stadt seine Bahn, ging langsam tiefer, nahm Kurs auf den Turiner Flughafen. Sah man uns von da oben? Als winzigen Punkt, der sich über den Fluss bewegte? Woher mochte die Maschine wohl kommen? Und was tat sich gerade in ihrem Inneren? Stewardessen, die letzte Kontrollblicke warfen? Passagiere, die wegen der bevorstehenden Landung den Gurt anlegten? Darunter waren bestimmt einige, denen gerade der Angstschweiß ausbrach.
Damit kannte ich mich aus. Bis vor einiger Zeit hatte ich für eine Fluggesellschaft Seminare gegen Flugangst geleitet und hautnah erlebt, welche Qualen manche Passagiere oben in der Luft durchlitten, dabei oft geradezu in eine Angstspirale gerieten. Ich selbst war schon lange nicht mehr mit dem Flugzeug verreist, obwohl ich eigentlich gern flog, es genoss, wenn ich beim Start tief in meinen Sessel gedrückt wurde, gefolgt von diesem großartigen und immer wieder überraschenden Moment, wenn sich die tonnenschwere Maschine so leicht vom Boden löste und in den Steilflug ging. Aber Fernreisen waren erst einmal aus meinem Leben gestrichen, denn sonst hätte es bedeutet, dass ich für meine Patienten über längere Zeit hinweg gar nicht mehr erreichbar gewesen wäre, auch nicht in Notfällen, was ich ihnen nicht zumuten wollte. Außerdem kam Fliegen mit meinem Hund nicht infrage, denn für dessen Flugangst, eingesperrt in einen Käfig im Bauch des Fliegers, war noch keine Therapie erfunden. Aber immerhin hatte ich mir in diesem Juli zum ersten Mal seit geraumer Zeit eine längere Auszeit genommen, ganze drei Sommerwochen, und die hatten gerade erst begonnen.
Nach einer Weile hatten Franca und ich ganz zu unserem Rhythmus gefunden. Wir stiegen beide kräftig in die Riemen, erhöhten die Schlagzahl etwas, atmeten und bewegten uns im selben Takt, fast so, als wären wir zu einer einzigen Person verschmolzen, die das Boot durch den Fluss vorantrieb. Renzo kauerte in seinem von dem kleinen Motor angetriebenen schon älteren Aluboot, dessen ursprünglich blaue Farbe an den Bordwänden fast überall abgeblättert war, und fuhr tuckernd in einiger Entfernung neben uns her, ein Megafon in der Hand, in das er seine Anweisungen bellte. Wir machten volle Fahrt, als ich plötzlich von einem Geschehen am Ufer abgelenkt wurde. Durch das trotz der sommerlichen Trockenheit sattgrüne dichte Laub der Bäume am Uferhang zuckte ein regelmäßiges blaues Flackern. Was war da los?
Ich riskierte einen schnellen Blick und sah, wie zwei Carabinieri sich auf der Wiese darunter umtaten, der eine über etwas gebückt, der andere so laut telefonierend, dass seine Stimme bis zu uns drang, ich aber dennoch die einzelnen Worte nicht verstehen konnte. Dann entdeckte ich das Polizeiauto, das oben an der Straße hinter einer lichteren Baumreihe abgestellt war und still vor sich hin blinkte. Dort rauschte und dröhnte inzwischen auch der Verkehr, drängelndes Hupen ertönte in immer kürzeren Abständen. Die Stadt war erwacht.
»Camilla! Konzentrier dich gefälligst!« Das war wieder Renzo, der natürlich bemerkt hatte, dass ich mich von den Aktivitäten am Ufer ablenken ließ.
Tatsächlich waren wir leicht aus dem Takt geraten, obwohl Franca sich, anders als ich, nicht hatte irritieren lassen und stoisch weitergerudert war. Fast hätte ich das Ruderblatt im Wasser verkantet, und wir hätten uns einen Krebs gefangen - der Albtraum jedes Ruderers, vor allem natürlich, wenn das im Wettkampf passierte. Den hatten wir aber erst noch vor uns. Unser Ruderclub wurde in wenigen Tagen einhundertfünfzig Jahre alt, was groß gefeiert werden sollte, unter anderem mit verschiedenen Regatten, zu denen Sportler auch aus den Nachbarländern erwartet wurden und an denen Franca und ich mit dem Zweier teilnehmen wollten. Dafür trainierten wir nun schon seit einiger Zeit zwei- bis dreimal in der Woche, immer am frühen Morgen. Noch vor wenigen Jahren hätte ich nicht gewusst, dass ein Krebs beim Rudern kein Schalentier meint, das plötzlich aus dem Wasser vor dem Boot auftaucht, sondern einen Schlagfehler mit verheerender Wirkung. Damals hatte ich noch keinen blassen Schimmer von diesem Sport, hatte die Ruderer immer nur fasziniert von der Brücke aus beobachtet auf dem Heimweg zurück von meiner Praxis - zu der Zeit wohnte ich noch auf der anderen Seite des Po -, und war fasziniert von ihrer Eleganz, ihrer Kraft und Harmonie, diesem ästhetischen Zusammenklang, der vollends unwiderstehlich wurde, wenn die Abenddämmerung anbrach und den Fluss mit den dahingleitenden Booten in einen rötlichen Schimmer tauchte.
Drei Jahre war es her, dass ich beschlossen hatte, es einmal selbst...
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