Schweitzer Fachinformationen
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Miss Dinah Sedgewick
Autumn Hall
Shimla, Punjab, Indien
Lady Hester Linfield
Linfield Castle
Kent, England
Autumn Hall, den 7. April 1827
Liebste Hester!
Bitte nimm nicht an, ich hätte Dir nicht schreiben, Deine lieben Briefe nicht beantworten wollen. Ich habe es dieses endlose halbe Jahr lang immer wieder gewollt. Sooft ich mich aber an mein reizendes, aus Sheesham - indischem Rosenholz - gefertigtes Pult setze, lenkt mich der Blick aus meinem Fenster ab. Er führt mich den hinteren Gartenweg hinunter, der anders ist als jeder Gartenweg in Europa. Eigentlich dürfte er keinen so harmlosen Namen wie Gartenweg tragen, denn er hat nichts Harmloses an sich. Keine in der Sonne schimmernden oder regennass glänzenden Kieselsteine, keine freundlichen Frühlingsblumen wie Himmelsschlüsselchen oder Hasenglöckchen am Rand, keinen Foxterrier, der einem Heimkehrenden fröhlich entgegenspringt. Der Duft des blühenden Safrans hat uns begrüßt, als wir im Herbst nach langer Reise ankamen, und ist jetzt verflogen, als hätten wir davon nur geträumt. Das Mosaik des Säulengangs hat uns der beste aller Menschen geschenkt, um uns das Bild der flüchtigen Schönheit zu bewahren, aber die Blüten aus Steinen sind nur schön und duften nicht.
Götter schlafen auf einem Bett aus Safran Nacht um Nacht. Für Sterbliche hingegen bleibt die Süße nur einen Herzschlag lang, und wer den verpasst, bekommt ihn nicht zurück.
Stattdessen hängen die Zweige von altersgebeugten, dunklen Bäumen - Pinien, Zedern, Zypressen und Wacholder - auf den Weg hinunter und werfen Schatten, in denen nichts Liebliches gedeiht. Was in den Schatten herumspringt, sind weder Hasen noch possierliche Eichhörnchen, sondern graupelzige Affen, Makaken, mit zu Fratzen verzerrten Menschengesichtern, vor deren Anblick einem das Blut gefriert.
Tatsächlich endet der Weg - und damit der Grund und Boden, den Vater für seine Verdienste erhalten hat - an der Kante des Felsens. Vom Gras überwachsen ist dort das seltsame steinerne Symbol in den Boden gehauen, vor dem ich mich am ersten Tag so erschrocken habe, dass ich um ein Haar hinunter ins Nichts gestürzt wäre.
»Wie praktisch«, befand die gute Rhoda, ehe sie uns verließ, »da brauchen Sie nach hinten hinaus keine Gartenmauer.« Ich aber habe ihrem Tonfall angemerkt, dass sie log und an dem Weg zur Felskante nichts Praktisches fand. Ja, Du hast richtig gelesen. Rhoda, die offenste, ehrlichste Haut von ganz Südengland, das wandelnde Herz auf der Zunge, hatte sich aufs Verschweigen und Lügen verlegt, und am Ende hat sie uns verlassen. Uns, ihre Mädchen, von denen sie doch immer behauptet hat, sie ließe lieber sich selbst als diese zwei mutterlosen Waisen im Stich.
Wie das?, fragst Du. Genau das habe ich mich auch gefragt, weil ich es nicht wahrhaben wollte. Aber unsere brave, handfeste, durch nichts zu erschütternde Rhoda ist hier oben, weit mehr als tausend Meilen über dem, was wir Menschenwelt nennen, von der Melancholie befallen worden. Und ob Du es glaubst oder nicht: Die Melancholie, die einen in dieser Gegend befällt, führt, wenn sie nicht mit entschiedenen Mitteln bekämpft wird, zum Tod.
Also hat unsere noch immer ein wenig handfeste Rhoda zu diesen entschiedenen Mitteln gegriffen: Als vor zwei Wochen ein Kamerad von Vater, auch er einer von General Ochterlonys glorreichen Offizieren, uns besuchte (der erste englische Besuch seit dem Schnee, der über Wochen kein Heraufkommen möglich machte) und ankündigte, er sei auf dem Weg nach England, um zu heiraten, bot sie ihm kurzerhand ihre Dienste an. Er zahlt ihr weniger als Vater, und da weder Kinder noch junge Damen vorhanden sind, die Verwendung für eine Gesellschafterin hätten, wird sie Hausarbeit verrichten müssen, für die sie sich bei uns zu fein war.
Nichts davon focht sie jedoch an, solange sie nur von hier fortkam, wieder hinunter in die wirkliche Welt und zurück nach England. Das hier oben, Hester, ist nämlich beileibe nicht wirklich. Wärst Du bei uns, so würdest Du nicht lachen, sondern es am eigenen Leib zu spüren bekommen: Die Nebel hier sind wie die kalten Finger von Toten. Hima laya heißt Wohnort des Schnees, nicht Wohnort von Menschen, und kein Ort könnte so nah an Wolken und Sternen liegen und dennoch nichts anderes als irdisch und wirklich sein.
Der Mensch kann nicht Herr sein in einer Handbreit Raum zwischen Himmel und Erde, in den ewigen Schatten, der ewigen Düsternis. Jedenfalls nicht der europäische Mensch mit seinem vernünftigen, aufgeklärten Sinn. Dies hier ist das Zwischenreich. Jener gottverlassene Ort, der sich nun Shimla nennt und Haus um Haus wächst, steht erst seit General Ochterlonys Sieg unter britischem Schutz und gehörte früher den seltsamen Geschöpfen aus Gorkha, die eher Geistern als Menschen gleichen. Auf der Hauptstraße fand sich nicht mehr als ein Fakir, der Wasser austeilte, und der Ort hieß Shyamala. Das ist der Name, den die Gorkha-Wesen ihrer eisblauen Göttin der Zerstörung geben.
Manche sagen, die aus Gorkha werden uns für ihre Vertreibung bestrafen. Ihre Geister können Shimla nicht verlassen, und so streifen sie weiter hier herum und verhindern, dass die Seele eines Weißen auf der geraubten Erde heimisch wird. Andere sagen, es ist Hanuman, der Gott der Affen, der uns vertreiben wird, weil wir auf seinen Safranhängen siedeln. Das ist Unsinn, sagst Du? Es ist Unsinn im Tal, wo uns die Gesetze von Leben und Tod vertraut sind, doch in den Bergen, unter dem Dach der Welt, gelten andere.
In klaren Nächten sieht man hier oben ein Sternbild, das aus blassesten Gestirnen zusammengefügt ist. Haar der Berenike heißt es, und der Mensch, der sich in mein Herz gebrannt hat, hat es mir gezeigt und gesagt: »Es ist wie dein Haar, schöne Tara, Geliebte des Mondgottes Chandra. Blasses Gold.«
Er hat mir auch gesagt, dass das steinerne Symbol, das mich so tief erschreckt hat, die Verkörperung der Liebe zwischen Mann und Frau ist, denn diese Liebe ist nicht zahm wie ein Hündchen in einem englischen Salon, sondern gewaltig wie der Mond und manchmal zerstörerisch wie seine Kräfte.
Den Weg zurück zum Haus bin ich gerannt, und als ich in den Spiegel blickte, packte mich eiskalt die Angst, weil mein Haar aussah, wie er es beschrieben hatte - wie fahle, ferne, blassgoldene Sterne. Es kann doch aber ein Mensch nur zum Sternbild werden, wenn er nicht mehr lebt, und so wie das Haar der Berenice am schwarzen Himmel schlaff herunterhängt, so hängt es doch bei einer Menschenfrau erst im Sarg.
Meine liebste Hester, meine Freundin aus den schönen Tagen, begreifst Du jetzt, warum ich Dir nicht früher geschrieben habe? Die Dinah, die Du kanntest, jenes vergnügte, geschwätzige Geschöpf, gibt es nicht mehr. Jene Dinah ist fort, ich weiß nicht, wo sie hin ist, vielleicht im Schatten der Bäume den Weg hinuntergelaufen und im Zwielicht über die Kante gestürzt. Die, die jetzt hier sitzt, am Pult aus indischer Rose, die wäre Dir fremd, und Du würdest zu Deinem Peter sagen: »Das kann doch die gute alte Dinah Sedgewick nicht sein, die immer so übermütig war und so voller Hoffnungen in ihre Zukunft sah.«
Du hast recht, Hester. Sie kann es nicht sein, und sie ist es nicht. Die, die hier sitzt, ist eine Fremde, die nicht weiß, ob sie alt oder jung ist, die in der schweren, sich nie erwärmenden Luft zittert, und an der Hitze ihrer Sehnsucht verbrennt. Die, die hier sitzt, will nichts als nach Hause, in ihr mildes, maßvolles England, und weiß doch, dass sie diesen verfluchten Ort, der kein Maß kennt, nie wieder verlassen kann. Die, die hier sitzt, ist von der Melancholie befallen, von der schwarzen Krankheit des Gemüts, und sie ist allein, ohne eine Seele. Der einzige Mensch, dem sie nahe sein könnte, ist unerreichbar.
»Aber halt«, höre ich Dich protestieren. »Wie kannst denn ausgerechnet du, Dinah, sagen, du wärst allein, wo du doch deine Schwester hast, deine Prudence und euer wunderbares Band? Ach, Du Ahnungslose!«
Das ist es, was mich zerreißt, was ich nicht ertrage: Das Band ist zerschnitten. Prudence und Dinah, Pru und Di, die Unzertrennlichen, gibt es nicht mehr. Autumn Hall heißt das Haus, in dem unsere Verzweiflung wohnt. Der Vater nannte es so, weil er im Herbst hier heraufkam, durch einen kühlen Zedernwald voller Hyänen und Bären zog und sein Herz an diese Berge verlor, als er den Safran zum ersten Mal blühen sah. In Wahrheit aber heißt das Haus Autumn Hall, weil hier für immer Herbst ist, die Zeit des Sterbens, in der alles zerfällt wie welkes Laub, auch die Liebe zwischen Schwestern, die so strahlend wie der Safran in Blüte stand.
Lass mich über den Grund nichts schreiben. Lass mich jetzt gar nichts mehr schreiben, auch wenn ich weiß, dass Du etwas über »ihn« lesen willst, über den einen, nach dem sich mein Inneres kranksehnt, dass Du Dich fragst, wer es war, der mir das Haar der Berenike am Himmel gezeigt hat und der mich schöne Tara, Geliebte des Mondgottes Chandra, nennt.
Ich bin so müde, Hester. Und ich will den Brief heute noch dem Menschen mitgeben, der mit seiner Tonga hinunter nach Kalka fährt. Dass ein Brief es von hier oben bis nach England schaffen soll, ist ohnehin unvorstellbar. Ich schreibe ihn zweimal und hebe eine Fassung auf, damit es mir nicht morgen schon vorkommt, als hätte es ihn nie gegeben. Ich denke so viel an Dich,...
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