Schweitzer Fachinformationen
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Der Tag, an dem Sevan die Welt entdeckte, war sein neunter Geburtstag, der Himmel war blau bis auf eine scharf umrissene Wolke, und die Welt hieß Smyrna.
Sie waren bei Sonnenaufgang aufgebrochen. Onkel Bedros saß vorn auf dem Karren und lenkte das Maultier, und Sevan hockte hinten und gab acht, dass keine der Holzkisten herunterfiel. Auf seine Aufgabe war Sevan stolz. Onkel Bedros hätte genauso gut einen seiner Brüder oder Cousins mitnehmen können, mutige, geschickte Burschen, die für die Familie ihren Mann standen, aber er hatte sich für Sevan entschieden, der sich vor seinem Schatten fürchtete und über seine Füße stolperte. Sevan, den die anderen den Herrn Kann-nicht nannten, weil er gar nichts konnte.
Dies hier aber würde er schaffen. Er war entschlossen, den Onkel nicht zu enttäuschen.
In den Kisten waren Flaschen und Käselaibe. Sooft der Karren auf dem hart gebackenen Feldweg hüpfte und Sevan die Flaschen aneinanderklirren hörte, schob er schnell die Hände dazwischen und wünschte sich, ein Meeresungeheuer mit acht Armen zu sein. Die Kisten rochen gut. Nach Holz und Harz und der seifigen Lauge, mit der seine Mutter sie abschrubbte, sauer nach Ziegenmilch und süß nach in der Sonne getrockneten Feigen, die Onkel Bedros zusammen mit Kümmel und Pistazien in den Käse schnitt. Den Käse verkaufte er an einen Türken, der Restaurants in Smyrna damit belieferte.
»Das solltest du mal sehen«, sagte Onkel Bedros und hörte sich an, als kaute er dabei auf seinem Priem. »Die Damen, die da in Smyrna meinen Käse essen, die tragen Hüte wie Lebensbäume auf den Köpfen und nehmen sie sogar zum Essen nicht ab.«
Smyrna, das war die große Stadt. In ihrem Hafen traf Onkel Bedros nicht nur den Türken, der den Hutfrauen seinen Feigenkäse auftischte, sondern auch noch einen Ausländer, der die Flaschen mit dem weißen Saft nach Europa verschiffte.
»Deutscher ist der und sieht aus wie ein Fass mit Brille. Ein raki-Fass. Sobald der mich zu Gesicht kriegt, ruft er immer: >Ah, Bedros, Bedros, wer seinen raki allein trinkt, der ist ein einsamer Mann.<«
Onkel Bedros erzählte Sevan ständig, wer wie aussah. Als wäre Sevan blind. Sein Bruder Aram nannte ihn so, wenn er wieder einmal über etwas stolperte: »Mein blinder Herr Kann-nicht«. Dabei konnte Sevan sehr wohl sehen. Er sah die rötlichen Bohnenfelder, die mit Piniennadeln abgedeckten Tabakfelder und die weißen Flocken auf den Baumwollfeldern, doch vor allem sah er die Nebel, die die Farben trüb machten und ihm Angst einjagten. Wenn die Welt einen Grund hatte, sich im Nebel zu verbergen, wie durfte man ihr dann vertrauen?
Die Flaschen, die in den Kisten hüpften, sah er hingegen recht klar. Sie enthielten den weißen Saft, der hervorquoll, wenn Onkel Bedros seinen Feigenbäumen einen Ast vom Stamm brach und ihre Rinde bluten ließ.
»In Europa ist das Medizin«, erklärte er mit einer Stimme, die nach Grinsen klang.
»Und gegen was soll das helfen?«, fragte Sevan.
»Warzen.« Das Grinsen in der Stimme wurde breiter. »Denen in Europa kannst du alles einreden, was du willst, solange etwas nur aus dem Orient kommt. Dann glauben die, es wirkt Wunder wie Aladins Lampe.«
Sevan schloss die Augen und sah Bilder von Europa. Den Eiffelturm, das höchste Bauwerk der Erde. Den Kristallpalast in der Hauptstadt des britischen Weltreichs, wo die Sonne nicht unterging. Vielleicht gab es das gar nicht. Onkel Bedros erzählte zwar, es stünde in der Zeitung, aber Onkel Bedros erzählte viel, wenn der Tag lang war, und in ihrem Dorf Bardisag, was kleiner Garten bedeutete, war jeder Tag lang. Sevan wünschte, er hätte die Zeitung selbst lesen können, doch er war zu dumm, um es zu lernen. »Der Herr Kann-nicht ist nicht blind, sondern blöd«, sagte sein Cousin Rupen zu seinem Bruder Aram, wenn Sevan sich über seine Schulaufgabe beugte und auf die Zeichen starrte, ohne eines zu erkennen. Aram und Rupen ließen ihre Schulaufgaben liegen, weil sie faul waren, bei Sevan hingegen war aller Fleiß für die Katz. Jäh spürte er, wie die Sonne brannte, und stöhnte, als ihm der Schweiß in die Striemen auf den Schenkeln rann.
Die brannten wie Feuer, die Striemen von seines Vaters Klopfpeitsche, und es geschah ihm recht. Er hatte seine Mutter zum Weinen gebracht, seine Mutter, die nach frisch gebackenem lavasch-Brot duftete und ihn in ihren Armen im Kreis schwang, die ihm das Wiegenlied von der Milch der Hirschkuh sang und ihn ihren Kleinen, ihr Hirschkalb nannte.
»Mit kleinen Blättern will ich dich zudecken.
Und die wilde Hirschkuh gibt dir ihre Milch.«
Onkel Bedros drehte sich im Fahren um. Sein Gesicht war ein Schemen, braun wie Tabaksaft. »Beißt dich was?«
Heftig schüttelte Sevan den Kopf. Dann starrte er auf seine Knie, die vor seinen Augen verschwammen.
Mit einem Ruck, der die Flaschen zum Klirren brachte, kam der Karren zum Stillstand. »Hat's wieder Schläge gesetzt, ja?«
Sevan presste die Lippen aufeinander. Schläge waren kein Grund zum Heulen, jeder Junge im Dorf bekam seines Vaters Peitsche zu spüren, und er war der Einzige, der dabei wie ein Schwächling wimmerte. Aber die anderen verdienten sich ihre Hiebe für Frechheit, und insgeheim waren ihre Väter stolz darauf. Sevan dagegen verdiente sie, weil er feige und dumm war. Seine Mutter stand am Fenster und weinte, und sein Vater musste sich für ihn schämen.
»In meiner Familie hat es nie einen Dummkopf gegeben«, beklagte sich der Vater, wenn er Sevan schlug. »Schon gar nicht einen, der wie ein Waschweib überall Gespenster sieht.«
Als er ihn gestern geschlagen hatte, war der Lehrer am Zaun vorbeigekommen und hatte gelacht. »Sachte, sachte, Hohvan. Bei deinem Großen, dem Früchtchen, braucht's mehr Prügel als Gebete, aber der da kann nichts dafür. Der Bursche hat Bohnenstroh im Kopf, damit kannst du ein Brautbett stopfen.«
Onkel Bedros saß noch immer ihm zugewandt. »Sanft ist er nicht mit dir, dein Herr Vater, was?«
Sevan schwieg und starrte auf seine Knie.
»Na, komm«, sagte Onkel Bedros, »lass den Kopf nicht hängen. Er ist mein Bruder, er hat mich aufgezogen, und mit mir ist er auch nie sanft umgegangen. Wenn einer sich über Büchern dumm anstellt, kennt er kein Pardon.«
Verblüfft blickte Sevan auf. Onkel Bedros war doch nicht dumm! Die anderen Männer in der Familie waren kleine Schreiber oder Krämer, und die Frauen rackerten sich auf ihrem Flecken Land die Hände wund. Auch die von Sevans Mutter waren rot und aufgesprungen, aber Onkel Bedros hatte es zu etwas gebracht. Kaufmann war er, fuhr viermal im Jahr in die Wunderstadt Smyrna, und sein Warzensaft wurde bis nach Europa verschifft. Sevans Mutter klagte, wenn sie glaubte, dass Sevan sie nicht hörte: »Würde mein Schwager Bedros mir nichts zustecken, hätte mir der Steuereintreiber längst das Haus leer geräumt.«
»Ich les dir von der Nasenspitze ab, was du denkst«, sagte Onkel Bedros. »Als ich so alt war wie du, hab ich das Gleiche gedacht: Was soll ich über Büchern schwitzen? Mein Vater ist auf der Krim für dieses Reich verreckt, meine Leute schlagen sich mehr schlecht als recht durch, die werden kaum das Geld aufbringen, um mich auf die höhere Schule zu schicken und aus mir einen Arzt zu machen. Also drücke ich mich lieber auf dem Markt herum und lerne was vom Leben. Du bist auch so einer, ja? Liest von Nasenspitzen besser als aus Büchern?«
Unglücklich nickte Sevan, doch in Wahrheit fürchtete er sich vor Menschen noch mehr als vor Büchern. Nicht weil er Menschen nicht mochte. Er mochte sie gern und wäre auch gern von ihnen gemocht worden, aber lesen konnte er sie nicht. Ihre Nasenspitzen, ihre Gesichter blieben ihm verschlossen.
»Deinem Vater darfst du's nicht übel nehmen«, sagte Onkel Bedros. »Du bist sein Sohn, und wenn er deinem Hintern eine Portion Saures verordnet, dann weil er Angst hat, dass du ihm sonst vor die Hunde gehst. Wir sind Armenier, also meint er, wir müssten nicht nur doppelte Steuern zahlen, sondern uns auch doppelt hervortun, um den Kopf über Wasser zu halten.«
Sevan fiel darauf keine Erwiderung ein. Als wäre er nicht nur zum Lesen, sondern selbst zum Sprechen zu dumm.
Onkel Bedros spuckte Tabaksaft aus. »Na komm, so arg ist das doch nicht. Du hast deine Mutter, diesen Engel von einer Frau, die dir ihr baseil aus Aprikosen in den Mund stopft, um dir den Schmerz zu versüßen. Und die willst du nicht enttäuschen, deine Mutter, oder?«
Sevan schüttelte den Kopf.
»Du könntest bei mir in die Lehre gehen, du? Ein Junge, der Lust auf Abenteuer hat und ein bisschen patent ist, taugt mir besser als ein Bücherwurm.«
Wieder schüttelte Sevan den Kopf. Etwas tropfte auf sein Knie.
»Ach Gott«, sagte der Onkel. »Das kannst du auch nicht, meinst du?«
Sevan zwang die Lippen auseinander. »Ich kann nichts.«
Onkel Bedros schwieg eine Weile und kaute schmatzend auf seinem Priem. Dann sagte er noch einmal: »Ach Gott«, drehte sich um und fuhr wieder an.
Sevan hatte mit den Flaschen alle Hände voll zu tun und gab sich Mühe, an nichts anderes zu denken. Der staubige Weg wurde breiter, aus dem Nebel tauchten Häuser auf und warfen dunkle Schatten. Als Sevan das Rumpeln spürte, war es zu spät. Er hatte die mit Pflastersteinen befestigte Straße nicht kommen sehen. Die Flaschen konnte er gerade noch festhalten, doch eine der Käsekisten geriet ins Rutschen und prallte krachend auf die Steine. Der Onkel stieß einen...
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