Schweitzer Fachinformationen
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Isabella hatte von klein auf gewusst, dass jede Saison ihre Favoriten hatte. Sobald die Debütantinnen die Tanzschuhe von den Füßen gestreift und sich notdürftig von der Ballnacht erholt hatten, erhofften sie den Besuch eines Herrn, den sie am Vorabend beeindruckt, womöglich sogar fasziniert hatten. Dass sie in den Genuss dieser Aufwartung kamen, war insbesondere den Münchner Schneidern und Kleidermacherinnen zu verdanken, denen vor Beginn der Ballsaison die Hauptrolle zukam. Musste man unterm Jahr Tage auf einen Termin warten, war es in den Wochen vor dem ersten Ball unmöglich, eine dieser Nähkünstlerinnen ins Haus zu bekommen, wenn man dies nicht Monate im Voraus vereinbart hatte.
Henriette von Seybach hatte selbstverständlich vorgesorgt und bereits vor Isabellas Abreise die Hoflieferantin Frau Wertmann bestellt, damit sich diese nicht nur um das Hochzeitskleid für Maximilians Braut Louisa, sondern auch um die Ballgarderobe der Enkelin kümmerte. Isabella vermochte sich nicht auszumalen, was geschehen wäre, wenn ein Achsbruch oder anderweitig Unvorhergesehenes ihre Ankunft verzögert hätte. Großmutter hätte vermutlich einen Stoßtrupp entsandt, der die Enkelin aus der havarierten Kutsche und vor die Schneiderin gezerrt hätte. Glücklicherweise hatte für solche Maßnahmen keine Notwendigkeit bestanden, und so fand sich Isabella am Donnerstagmorgen im Blauen Salon ein, bereit für ihren Termin mit der Kleidermacherin, die auch die Garderobe der Königin anfertigte.
Seide in Byzantinischblau, Jadegrün, Sienagelb, Stoffe mit Rosen-Iris-Muster, griechische Nadelspitze und Brüsseler Spitzen bedeckten den Kirschbaumtisch. Auf der Sitzbank lagen Rot- und Violetttöne sowie weitere Spitzenbänder drapiert. Ein Stoff, der sie an die Farbe reifer Äpfel erinnerte, hatte es Isabella besonders angetan. Und selbstverständlich der himmelblaue Stoff mit den Lilien. Der war wie für sie gemacht! Sie reckte den Kopf, um zu erkennen, welche Farben und Muster sie noch zur Auswahl hatte.
»Sie müssen schon stillhalten, wenn ich Ihre Maße nehme. Schließlich wollen Sie ja wohl nicht, dass die Ärmel unterschiedlich lang sind oder sich Ihr Kleid auf dem Rücken ausbeult.« Die Schneiderin ließ das Maßband sinken.
»Dann würden sich auf jeden Fall alle an mich erinnern.« Isabella lächelte schelmisch.
Louisa, die sich auf einem Sessel neben dem Fenster niedergelassen hatte, kicherte, und auch Nanette verkniff sich ein Lachen. Großmutter sah mahnend auf die drei Frauen. Louisa setzte sich ein wenig aufrechter hin. Nanettes Mundwinkel verzogen sich spöttisch.
Frau Wertmann legte ihr Maßband um Isabellas Brust, und sie zwang sich, still zu stehen. Ohne den Kopf zu bewegen, versuchte sie einen weiteren Blick auf die Stoffe zu erhaschen.
»Dieser Stoff hat etwas von Romeo und Julia.« Nanette hob das geblümte Tuch hoch. »Findest du nicht?«
»Ich habe an Ophelia gedacht, aber ich will ja nicht dem Wahnsinn verfallen. Und Gift nehmen oder mich erstechen will ich gewiss ebenfalls nicht.« Isabella besann sich darauf, dass die Schneiderin ihre Aufgabe erledigen musste, stellte sämtliche Zappeleien ein, drückte den Rücken durch und wartete regungslos ab, bis Frau Wertmann ihr Maßband an ihren Armen entlanggezogen hatte und die Angaben in ihr Notizbuch eintrug.
Die Schneiderin maß als Nächstes Isabellas Taille, stutzte und notierte den Wert.
»Die Taille müssen wir vor dem Ball naturgemäß etwas enger nähen, da die Debütantinnen vor Aufregung immer an Gewicht verlieren«, sagte die Hoflieferantin.
»Wollen Sie damit andeuten, dass meine Enkelin zu dick ist?« Großmutter sah von den Stoffen auf.
»Mitnichten. Um die Mittagszeit sind die Maße häufig etwas verzerrt.« Die Schneiderin lächelte. »Ihre Enkelin ist en beauté. Sie verfügt über die perfekte Silhouette. Schmale Taille, weibliche Rundungen und ebenmäßige Gesichtszüge.«
Frau Wertmann rollte ihr Maßband ein. »Darf ich Ihnen nun die Stoffe präsentieren?«
»Ich bitte darum.« Großmutter ließ sich auf einem der Sessel nieder. Ihr schwarzes Witwenkleid raschelte. »Und wenn wir mit der Auswahl für meine Enkelin fertig sind, benötigen wir auch für die Braut meines Enkels noch Ballgarderobe. Die Frau des künftigen Familienoberhaupts sollte jede Saison durch exquisite Kleidung von sich reden machen.«
Für dieses Ansinnen hätte Isabella ihre Großmutter am liebsten fest umarmt, im Moment hielt sie sich vorsichtshalber zurück.
»Großmutter, was soll ich wählen? Eher den jadegrünen oder vielleicht doch den saphirblauen? Was, denkst du, ist angemessener?« Vor einem halben Jahr hätte Isabella eine Frage wie diese nicht über die Lippen gebracht. Sie lächelte in sich hinein.
Ihre Großmutter besah sich die Stoffe. »Wir sollten beide nehmen. Und selbstverständlich die Lilien.«
Isabella nickte und musste unvermittelt schlucken. Alle anderen Debütantinnen erlebten diesen Moment mit ihrer Mutter. Sie schielte zu dem kleinen Bild ihrer verstorbenen Mama und biss sich auf die Lippen, als sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. So viele Jahre war sie schon nicht mehr da, und gerade hätte Isabella alles darum gegeben, dass sie mit ihr die Stoffe auswählte und sie auf die Bälle begleitete. Mama hatte Lilien so sehr geliebt, dass sie nun im Hausnamen verewigt waren. Auch in der Bodenvase unter dem Porträt Eloises von Seybach in der Eingangshalle blühten immer ihre Lieblingsblumen. Dass Isabellas Wahl auf den Lilienstoff fallen würde, stand außer Frage. Sie wandte sich kurz ab, wischte sich eine einzelne Träne aus dem Auge und atmete durch. Niemand sollte bemerken, wie ihr gerade zumute war.
»Es hat durchaus Vorteile, wenn man nicht dem gängigen Ideal entspricht«, meinte Isabella trocken. »Wenigstens könnte ich dann sicher sein, dass sich der junge Mann meines Charakters wegen für mich interessiert.« Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
Henriette von Seybach sah von den Stoffen auf und zu ihrer Enkelin hin.
»Für junge Männer gilt Schönheit mehr als Esprit und Charme, und dies wird sich nie ändern«, sagte Nanette in einem Ton, den Isabella nicht recht zu deuten wusste, und befühlte den jadegrünen Seidenstoff. Die Sonne schien durchs Fenster herein. Nanette schob sich eine graue Strähne hinters Ohr.
»Da haben Sie wohl recht«, sagte die Schneiderin. »Solange die Töchter schön und anmutig sind, haben sie sich am Ende der Saison eine erstklassige Verlobung gesichert. Damit beruhige ich immer die Mütter der Damen, die keine hohe Mitgift zu erwarten haben. Schönheit zählt mehr als Reichtum und Stellung und ein tadelloser Stammbaum.«
Isabella hatte bemerkt, wie Louisa bei der Erwähnung der Herkunft zusammengezuckt war. Wie immer, wenn sie sich nicht wohlfühlte, betastete sie ihre blonden Haare, als wollte sie sichergehen, dass sich keine Strähne aus dem Dutt gelöst hatte, und zupfte an ihrem Kleid, das weich über ihre Figur fiel. Vor wenigen Monaten noch hatte sie als Dienstmädchen im Hause von Seybach gearbeitet, bevor sich Maximilian in sie verliebt und Vater und Großmutter vor ein Fait accompli gestellt hatte. Sie oder keine, hatte ihr Bruder gesagt, und letztendlich hatten sie seine Wahl akzeptiert. Isabella fand, dass sich Louisa in ihrer neuen Stellung großartig machte, allerdings wusste sie, dass ihre Schwägerin immer noch mit ihrer Rolle haderte. Bemerkungen wie die der Schneiderin trafen sie ins Mark.
»Einem Haushalt vorzustehen kann man lernen, sich zu lieben nicht«, sagte Isabella.
Die Schneiderin nahm ihr Notizbuch und überprüfte ihre Eintragungen. »Die Fürstin Windisch pflegt zu betonen, Liebe sei etwas für Stubenmädel.« Im Spiegel sah Isabella, wie sich Louisas Hand um die Armlehne schloss.
»Und für Erbgrafen«, entgegnete Isabella. »Ist das nicht vorzüglich? Mein Bruder ist seinem Herzen gefolgt.«
»Dafür bedarf es Courage«, meinte Frau Wertmann.
»Sie nennen es Courage, ich nenne es Intelligenz und Herzensbildung«, antwortete Isabella.
»Fortschritt«, fiel Nanette ein. »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - wir haben einen künftigen Hausherrn, der diese Werte lebt.«
Isabella sah auf ihre Gouvernante und stellte sich vor, wie Nanette eine Trikolore schwenkend die Revolutionstruppen nach Versailles führte. Bestimmt hätte sie das getan, wenn sie damals schon gelebt hätte. Die Pariser wären schon allein deswegen mitgegangen, weil sich niemand getraut hätte, Nanette zu widersprechen. Obwohl sie jünger wirkte, wenn sie lachte, verliehen ihr die grauen Strähnen, die ihr Haar durchzogen, eine Autorität, die kein Mensch infrage stellte. Ausgenommen Henriette von Seybach.
Großmutters Stock donnerte auf das Parkett. »Ich muss doch sehr bitten! Wir haben Reputation und Stammbaum genug, um zwei Familien zu equipieren. Meine Schwiegerenkelin ist eine von Seybach, dafür bedarf es keiner weiteren Erklärung.« Damit wandte sie sich wieder den Stoffen zu.
Großmama verhielt sich sonst gegenüber Außenstehenden distanziert. So gerne man sich den Tratsch über andere Familien anhörte, man wollte doch selbst keinesfalls zum Gegenstand eines solchen werden.
Isabella musste lächeln. Sie rechnete es ihrer Großmutter hoch an, dass sie sich so für Louisa einsetzte. Ein Seitenblick verriet ihr, dass auch ihre Schwägerin die Worte der Matriarchin überrascht und dankbar aufnahm. Dennoch schien es Isabella geraten, ein anderes Gesprächsthema zu suchen.
»Wenn es weiter so regnet, wird meine Haut bis zum ersten Ball wieder...
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