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Im Folgenden wird der Zusammenhang von Kirchenbild und Predigtideal an historischen Konstellationen entfaltet. Als immer auch exemplarische Konstellationen sind diese nicht nur historisch interessant, sondern haben, so meine These, auch für die Gegenwart Relevanz (vgl. Kap. III). Sie zeigen typische Konstellationen des Verhältnisses von Kirchenbild, Predigtideal und kirchlicher Wirklichkeit. Die Kapiteleinteilungen sollen im Folgenden nicht suggerieren, es gebe Eindeutigkeiten in der Abgrenzung von Epochen und Entwicklungen. Zu jeder Zeit gab und gibt es Überschneidungen, Fluides, Nachholendes und Vorauseilendes. Nichtsdestotrotz gibt es für bestimmte Phasen mehr oder weniger typische Konstellationen, die homiletischen Diskurse gruppieren sich um vergleichbare Fragen, die Predigtpraxis folgt bestimmten Tendenzen. Diese erkennbar werden zu lassen, ist das Ziel dieses Kapitels. Die Schwerpunktsetzung erfolgt also in systematischem Interesse. Wir beginnen bei den Reformatoren Luther und Calvin, denn hier wird der Zusammenhang von Predigt und Kirche explizit zum Thema gemacht. Luther und Calvin führen zwei grundlegende und bis heute wirkmächtige Modelle der Verhältnisbestimmung ein, denn die homiletischen Konzepte von Luther und Calvin spiegeln im Nebeneinander die spezifische protestantische Unruhe und Dynamik in der Verhältnisbestimmung von Glauben und Handeln, von Innerlichkeit und Weltbezug.
Jede Darstellung von Luthers (1483-1546) Predigtverständnis steht vor mindestens zwei gewichtigen Problemen: Erstens dem methodischen Problem, dass von Luther keine ausformulierte Predigtlehre vorliegt. Die Äußerungen zur Predigt sind in seinem Werk breit gestreut und finden sich in unterschiedlichen Textgattungen (in Tischreden, Vorreden zu Predigtsammlungen, Texten zur Liturgie wie auch Predigten; eine Zusammenstellung in BoA 7; zu Luthers Predigten vgl. Zschoch 32017).1 Zweitens stellt sich ein inhaltliches Problem: Luthers homiletische Ansichten lassen sich kaum aus dem Gesamtzusammenhang seiner Theologie isolieren. Sie sind aufs engste mit seiner Theologie insgesamt verknüpft. Luthers Predigtverständnis lässt sich nur in Bezug auf zentrale Denkfiguren seiner Theologie und die damit einhergehenden (Neu-) Akzentuierungen im Kirchenbegriff beschreiben.
Betrachtet man die Homiletik als Funktion der Ekklesiologie, fallen in diesem Zusammenhang drei Aspekte auf: Erstens werden Kirche und Predigt gleichermaßen als Wortereignisse bestimmt, zweitens begegnet das eine Wort Gottes dem Menschen nur in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und drittens entwickeln sich die Reformvorschläge für Gottesdienst und Predigt genau aus diesen theologischen Entscheidungen heraus. Die Praxis der Predigt leitet sich aus deren Inhalt ab (Herms 1992).
Luthers Überlegungen zu Wesen und Gestalt der Kirche nehmen ihren Ausgang bei seinem Leiden an der vorfindlichen Kirche, an deren Glaubwürdigkeitsverlust, der Veräußerlichung von Glaubenspraktiken (insbesondere Ablass) und ihre Inanspruchnahme politisch-weltlicher Macht. Dieser >Verfall< hatte, folgt man Luther, unmittelbare Folgen für die Gottesdienst- und Predigtpraxis - sie wurden zu einem >Werk<, das der Mensch Gott darzubringen habe, zu einem Gegenstand religiöser Ökonomie. Die Frage, ob Gottesdienst und Predigt für die Menschen verständlich seien, ihren Glauben befördern, das Gottvertrauen und die Lebensgewissheit stärken, traten dabei, so Luther, in den Hintergrund. Luthers Kritik an der zeitgenössischen Kirche und ihrer Gottesdienstpraxis spiegelt damit ein dem Christentum strukturell innewohnendes Problem - das Verhältnis von innerem und äußerem Menschen, den Widerspruch zwischen »eusserlichen wercken« und »ynnerlichem vortrawen« (WA 6, 212, 2, vgl. Kaufmann 2009, 97). Ein zentrales Paradox der Predigt besteht darin, dass sie zum äußeren Menschen spricht - zu seinem Ohr -, aber den inneren Menschen - sein Herz - erreichen möchte. Dieses Paradox suchte Luther konstruktiv zu gestalten.
Um 1500 fanden homiletische Reformbestrebungen grundsätzlich erhebliche Resonanz. In den Städten wurden sog. Prädikaturen eingerichtet, also Predigtstellen, die mit besonders qualifizierten Predigern besetzt wurden, um auf die wachsenden Bildungs- und Religionsansprüche urbaner Eliten zu reagieren. Die Erhöhung der Zahl der Predigerstellen sollte zugleich die Wirksamkeit der Predigt in einer religiös unübersichtlichen und aufgeladenen Zeit erhöhen. In diesem Zusammenhang entstanden spezielle, teilweise volkssprachliche Predigtliturgien (sog. Pronaus; vgl. Winkler 32003; Figel 2013, 109-185). Auch in der Anleitungsliteratur wurde die Predigtkompetenz ausdrücklich als »integraler Bestandteil des geistlichen Amtsprofils« benannt (Kaufmann 2009, 89). Exemplarisch sei verwiesen auf das Manuale Curatorum von Ulrich Surgant (ca. 1450-1503): Handbuch für Seelsorger, das eine Anleitung zum Predigen bietet durch lateinische und volkssprachliche Rede, praktisch erläutert, mit allen anderen zur Seelsorge gehörenden Dingen, wohl ausgestattet, so zweckdienlich wie heilsam. Bereits dort findet sich der bemerkenswerte Hinweis, dass die Predigt mehr zum Heil nütze als die Messe (vgl. die Übertragung bei Conrad/Weeber 2012, 31) und dass das Predigtamt deshalb besonderen Qualifikations- und Ausbildungserfordernissen unterliege. Luthers Kritik an der zeitgenössischen Kirche verband sich mit den Impulsen dieser Reformbestrebungen.
Für Luthers Predigtverständnis ist kennzeichnend, dass er den zugrunde gelegten Kirchenbegriff radikal umcodiert. Die wahre Kirche ist die unsichtbare Kirche, also die Gemeinschaft derer, die Gottes Wort hören und dem darin verkündeten Evangelium glauben (vgl. zum Folgenden u.?a. Wendebourg 32017).2
Wo du nu solch wort hörest odder sihest predigen, gleuben, bekennen und darnach thun, da habe keinen zweivel, das gewislich daselbs sein mus ein rechte Ecclesia sancta Catholica, ein Christlich heilig Volck, wenn jr gleich seer wenig sind, Denn Gottes wort gehet nicht ledig abe [.] (WA 50, 629, 28-31).
Alles hängt am Wort, das den Glauben des Einzelnen und darin die Kirche als eine geistige Gemeinschaft schafft. Kirche ist, vor aller organisatorischen Ausgestaltung, also - um diese Formulierung noch einmal zu wiederholen - ein »Ereignis im Bewusstsein der Glaubenden« (Lauster 2020, 301, vgl. oben I.2.2.a; s. auch Barth 22023, 419-469). Sie ist »creatura [.] Euangelii« (WA 2, 430, 6f.), deren wesentliche Aufgabe der Gottesdienst ist, damit »das wort ym schwang gehe« (WA 12, 37, 27-28) und die lebendige, weil mündliche Stimme des Evangeliums (»viva vox [evangelii]«, WA 5, 537, 14) erklinge.
Das bedeutet bis heute: Das Evangelium ist der Kirche vorgeordnet. Deshalb ist die Kirche nicht Gegenstand ihrer eigenen Verkündigung. Die Kirche gibt es aufgrund des Wortes Gottes und um dieses Wortes willen und nicht umgekehrt.
Dieses Wort kann der Mensch sich freilich nicht selbst sagen. Er muss es hören - durch und von Gott selbst (vgl. Beutel 1991/2006, 126-130; 150-205). »Das Menschsein des Menschen besteht darin, daß er angeredet ist und deshalb hören, antworten und selbst reden kann« (Bayer 21990, 44, Hervorh. RC). Dass Gott redet und sich im Wort selbst vergegenwärtigt, ist die Voraussetzung alles menschlichen Redens von Gott. Hörend konstituiert und vollzieht sich der Glaube. Die Entscheidung, den Glauben und nicht die Liebe als »die für das Heil entscheidende Lebensform des Christen« (Hamm 2010, 66) zu bestimmen, hat erhebliche homiletische Implikationen. Denn weder können Gottesdienst und Predigt zugunsten der Tat des Glaubens (Diakonie) aufgegeben werden noch kann der Inhalt der Predigt ausschließlich ethisch bestimmt werden.
Eine zweite Asymmetrie kommt dazu: Nur und gerade im gemeinschaftlichen Hören (vgl. Schmalkaldische Artikel, Art. XII, BSLK 776f.) ereignet sich die Ansprache an den Einzelnen. Das heißt: Einerseits wird das gemeinschaftlich Gehörte in der unvertretbaren Antwort individuell - »Ich gleube, das Jhesus Christus [.] sey mein Herr« (Kleiner Katechismus, BSLK, 872, Hervorh. RC). Anderseits ist der Glaube nie nur innerlich. Er will sich aussprechen und soziale Gestalt gewinnen. Im Gottesdienst wird der innerliche Glaube öffentlich, sichtbar. Beides zeigt sich hier - die individualisierende wie die gemeinschaftsstiftende Kraft des christlichen Glaubens. Auch die Predigt ist stets beides - gemeinschaftliches wie individuelles Reden und Hören, und das gilt für Prediger wie für Hörer.
Damit ist zugleich auch entschieden, wer predigen darf - grundsätzlich jeder. Weil im Glauben jeder Mensch unvertretbar ist, sind alle Getauften gleichermaßen Priester. »Dan was ausz der tauff krochen ist, das mag sich rumen, das es schon priester, Bischoff und Bapst geweyhet sey, ob wol nit einem yglichen zympt, solch ampt zu uben« (WA 6, 408, 11-13). Die Gemeinschaft der Glaubenden, die Kirche ist bestimmt durch »Gnadenegalität« und »Vollmachtsegalität« (Barth 2014, 25). Für die Frage, wer legitimiert ist zu predigten, ist diese Entscheidung für künftige Entwicklungen bahnbrechend (vgl. III.2).
Die Predigt zielt auf den Glauben an das Evangelium. Daher ist jede Predigt ihrem Wesen nach Evangeliumspredigt. Als solche erfolgt sie in der hermeneutischen...
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