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Berlin 1936
»Du willst doch jetzt nicht etwa alles hinschmeißen?«, fragte Anneliese besorgt.
»Das kannst du nicht machen, Henriette, nicht jetzt, wo wir fast am Ziel sind«, fiel Ruth ein.
Henriette starrte auf den hellen Kiesweg. Sie fühlte sich nicht wohl in der Rolle, die ihr in der ganzen Geschichte zugedacht war. Ihr braun-schwarzer Mischlingshund Rufus, dessen spitze Ohren viel zu groß waren für das schmale Gesicht, stupste sie an. Vermutlich war ihm langweilig, und er wollte endlich weiter durch den Park laufen.
»Meint ihr nicht, wir haben übertrieben?«, meinte Henriette schließlich. »Die Idee mit unserer kleinen Rache an den Nazis war ja anfangs ganz lustig, aber am Ende verletzen wir doch nur einen Jungen, der auch nichts dafür kann, dass sein Vater in der Partei ist.«
»Das ist nicht dein Ernst!« Anneliese war ehrlich erbost. »Rolfs Vater ist in der Partei, und Rolf selbst stolziert seit Jahren in der Uniform der Hitlerjugend herum wie ein eitler Pfau. Ohne solche Hohlköpfe und ihre Hassparolen wäre Hitler vor drei Jahren nicht an die Macht gekommen, und es gäbe die Nürnberger Gesetze nicht.«
»Genau«, stimmte Ruth ein. »Und wir müssten uns nicht ständig anhören, dass wir Juden minderwertig wären und keine Beziehungen und Ehen mehr mit sogenannten Ariern eingehen dürfen. Leute wie die Reinhardts finden das gut, dabei sieht dein pickeliger Rolf nicht halb so arisch aus wie ich.« Sie deutete auf ihre blonden Locken.
Auf Henriettes Gesicht stahl sich ein Lächeln, doch dann wurde sie wieder ernst. Er war nicht ihr Rolf, das war es ja gerade, und sie hatte mittlerweile Bauchschmerzen bei der ganzen Sache. Zwar hatte sie zugestimmt, Rolf schöne Augen zu machen, damit er sich in sie verguckte und anschließend am eigenen Leib erfuhr, wie absurd die Rassegesetze der Nationalsozialisten waren. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass Rolf so tiefe Gefühle für sie entwickeln würde.
»Ihr steckt ja nicht in meiner Haut«, klagte sie. »Rolf hat sich richtig in mich verliebt . nicht nur so ein bisschen, wie wir dachten. Er meint es ernst. Bei unserem letzten Treffen hat er sogar gesagt, dass er mit seinem Vater über mich sprechen will. Da gehört schon was dazu, oder nicht? Vielleicht ist er ja gar kein schlechter Kerl. Wenn er erfährt, dass ich ihm alles nur vorgespielt habe, wird er gekränkt sein. Und das hat er eigentlich nicht verdient.«
»Das ist genau unser Problem«, erklärte Anneliese ungerührt. »Die Nazis stempeln uns zu Untermenschen ab. Gestern waren wir noch geschätzte Freunde und Nachbarn, heute sind wir Schädlinge. Denen macht es gar nichts aus, dass sie uns damit demütigen und unsere Gefühle verletzen. Aber wir fühlen uns schuldig, weil wir einem Hitlerjungen einen harmlosen Streich spielen.« Sie sah Henriette prüfend an. »Oder hast du dich etwa selbst in ihn verliebt?«
»Natürlich nicht«, wehrte Henriette ab. »Ich komme mir bloß schäbig vor, ihn so hinters Licht zu führen und ihm Gefühle vorzutäuschen, die ich nicht habe.«
»Wie auch immer«, meinte Ruth. »Jetzt ist es für Reue zu spät, also lasst es uns zu Ende bringen wie abgemacht. Wenn er dich zum ersten Mal küsst, verraten wir ihm die Wahrheit. Und so wie du uns das geschildert hast, könnte es heute schon so weit sein. Also, Kopf hoch, Henriette. Denk an das, was sie uns angetan haben. Mein Vater war Beamter und wurde entlassen, nur weil er Jude ist. Und meiner Cousine hat es das Herz gebrochen, dass ihr Verlobter sie sitzen gelassen hat, weil er sich vor Repressalien wegen seines Verhältnisses mit einer Jüdin fürchtete.«
Henriette nickte zögerlich. Sie wusste, dass Ruth recht hatte. Schon vor Hitlers Machtübernahme hatte sie erleben müssen, dass Klassenkameraden aus nationalsozialistischen Familien ihr ins Gesicht sagten, dass Juden - und damit auch sie - Deutschlands Unglück seien. Doch durch die Nürnberger Gesetze quasi über Nacht zu Bürgern zweiter Klasse zu werden, hatte sie alle bis ins Mark getroffen. Ihr Großvater, einer der besten Anwälte der Stadt, war zutiefst enttäuscht, dass sich selbst langjährige Mandanten und Freunde von ihm abwandten, weil sie nicht mehr mit Juden verkehren wollten.
Sie sah ihre Freundinnen an. »Gut. Augen zu und durch.«
»So gefällst du mir!«, rief Anneliese und strich sich die dunklen Haare hinter die Ohren. »Außerdem musst du jetzt los. Rolf wartet wahrscheinlich schon auf eurer Parkbank.« Ihre braunen Augen leuchteten. »Auf in den Kampf, meine Liebe. Und denk daran: Wir sind in deiner Nähe.«
Henriette grinste schief und stand auf. Rufus fuhr hoch. Endlich ging der Spaziergang weiter. Freudig wedelnd lief er Henriette voran.
Anneliese hatte recht gehabt. Rolf saß bereits auf der Bank und wippte nervös mit dem rechten Fuß. Er trug eine elegante dunkle Jacke, die Henriette noch nicht an ihm kannte, dazu Hosen mit Bügelfalten und schwarze Schuhe. Als müsse er zum siebzigsten Geburtstag seiner Großmutter, dachte Henriette amüsiert. Dabei wusste sie, dass Rolf sich fein gemacht hatte, um sie zu beeindrucken. Neben ihm lag der Hut, mit dem sie ihn schon ein paarmal aufgezogen hatte, weil er versuchte, mit seiner Hilfe wie achtzehn zu wirken, obwohl er erst sechzehn war. Leise seufzend straffte sie die Schultern und näherte sich der Bank. In diesem Augenblick drehte Rolf den Kopf in ihre Richtung. Als er sie sah, erschien ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht.
Henriette lächelte zurück. »Guten Tag, Rolf.«
Er stand auf und drückte kurz ihre Hand, doch sie spürte, dass er gerne mehr getan hätte.
»Ich dachte schon, du kommst nicht mehr«, sagte er, obwohl sie pünktlich war.
Henriette fand, dass er nervöser wirkte als sonst. Als sie ihn ansah, wich er ihrem Blick aus und beugte sich zu Rufus, um ihn zu streicheln. Der lehnte sich erfreut gegen seine Beine.
»Wie kommt es eigentlich, dass ihr einen Hund habt?«, fragte er. »Ein Kamerad von mir sagt .« Er unterbrach sich und wurde rot.
»Dass Juden keine Hunde halten?« Es war das erste Mal seit dem Beginn ihrer Verabredungen, dass das Wort Jude zwischen ihnen fiel. Bislang hatte Rolf das Thema ausgespart, als wäre es das Normalste auf der Welt, dass ein Hitlerjunge eine Jüdin ins Kino oder Café ausführte und stundenlang mit ihr im Park spazieren ging.
Henriette grinste unwillkürlich. »Es gibt tatsächlich ein jiddisches Sprichwort, das besagt: >Wenn ein Jude einen Hund hat, ist entweder der Hund kein echter Hund oder der Jude kein echter Jude<, aber eine strenge Regel ist es nicht. Du kennst doch die Friedmanns von der Konfiserie, oder? Die haben zwei große Schäferhunde. Hier in Berlin haben viele Juden .«
»Die Friedmanns sind Juden?«, unterbrach Rolf sie. Sein erschrockener Gesichtsausdruck rief Henriette ins Gedächtnis, neben wem sie hier saß, doch Rolf wechselte schnell wieder das Thema. »Ich möchte dir etwas zeigen, aber du musst mir versprechen, dass du es niemandem sagst - wirklich niemandem.«
Henriette zog die Augenbrauen hoch, doch sie nickte, und Rolf fischte eine kleine Fotografie aus der Innentasche seiner Jacke. Wortlos reichte er sie ihr. Zunächst wusste sie nicht, was sie damit anfangen sollte. Das Bild zeigte einen älteren Herrn mit schlohweißem Bart, zwischen seinen Knien ein etwa dreijähriger blonder Junge. Auf der Kommode im Hintergrund stand ein siebenarmiger Leuchter.
Doch plötzlich erkannte sie das Kind. »Das bist ja du!«, rief sie erstaunt.
Rolf nickte, und als Henriette nicht weitersprach, drehte er das Foto in ihrer Hand um, wobei seine Finger ihre berührten.
»Rolf Reinhardt und sein Großvater Salomon Goldblatt, Wilna/Litauen«, las sie. »Du hast jüdische Großeltern?«
»Nur einen jüdischen Großvater.« Rolf lächelte zaghaft. »Er war der Vater meiner leiblichen Mutter, aber die ist ja schon vor Jahren gestorben. Deshalb weiß das auch niemand.« Sein sonst eher blasses Gesicht war gerötet, eine dunkelblonde Strähne fiel ihm in die Stirn, und er sah sie eindringlich an. »Du wirst es doch keinem sagen, oder? Mein Vater meint, das wäre fatal für meine Karriere.« Er kratzte sich verlegen an der Hand. »Ich habe dir das Bild nur gezeigt, damit du weißt, dass wir uns gar nicht so unähnlich sind.«
Henriette gab ihm die Fotografie zurück. Dass Rolf glaubte, sie seien sich ähnlich, zeigte nur, wie wenig Ahnung er hatte. Abgesehen davon, dass es Reinhardt und seiner neuen Frau gelungen war, den Vorfahr im fernen Litauen unter den Teppich zu kehren, machte ein einzelner jüdischer Großvater Rolf noch nicht zum Juden. Doch dem schien die Sache wichtig zu sein. Die Preisgabe seines Familiengeheimnisses war offenbar als Vertrauensbeweis gedacht, und Henriette schämte sich erneut für ihr Verhalten. In diesem Moment ergriff Rolf zaghaft ihre Hand, und Henriettes Herz schlug schneller. Sie war nicht in Rolf verliebt - wirklich nicht! Trotzdem war es das erste Mal, dass ein Junge sie berührte. Erst nach mehreren langen Sekunden wagte sie es, Rolf dabei in die Augen zu sehen.
»Heute ist es genau sechs Wochen her, dass du mich angesprochen hast und wir uns zu Limo und Kuchen verabredet haben.«
»Ach ja?«, fragte Henriette nervös.
»Ja, das weiß ich genau. Ich war so überrascht, denn eigentlich sollten wir ja .« Wieder brach er hastig ab. Vermutlich wurde ihm bewusst, wie so ein Satz auf Henriette wirken musste, und er versuchte die Bemerkung zu retten: »Du bist so viel hübscher als ich. Deine braunen Haare . wie eine Löwenmähne. Und ich kann nie entscheiden, ob deine Augen nun grün oder grau sind. Es hängt vom...
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