Ein Ass im Ärmel
Colonel Peter J. Launders war nicht der Mann, der in das Büro eines Privatdetektivs kam. Ein hoch dekorierter Offizier aus dem Großen Krieg, Spross einer der angesehensten und auch reichsten Familien des Landes residierte in einem Palast auf der North-Side und hatte einfach gar nichts nötig. Die Launders hatten ihr Geld nicht im Boom von Chicago, der mit dem Bau der Schlachthöfe und den um die Jahrhundertwende entstehenden Industrien gemacht, sondern zu diesem Zeitpunkt schon über ein Vermögen verfügt, gegen das sich die Rockefellers wie Bauchwarenhändler ausnahmen.
Sie besaßen einfach alles: Eisenbahnlinien, Ölfelder in Texas, Goldminen in Südamerika - und die Diamanten, die die Frauen der Familie trugen, stammten ebenfalls aus den eigenen Minen. Umso ruhmvoller war es gewesen, als sich der damals junge Launders für die militärische Laufbahn entschieden hatte. Nun, er hatte natürlich nicht von ganz unten angefangen, sondern gleich in Westpoint nach dem amerikanisch-spanischen Krieg. Er war mit Teddy Roosevelt geritten und hatte den Emporkömmling, der es bis zum Präsidenten schaffte, auf seinen Besitzungen in den Rockys Bären schießen lassen.
Beruhigend für uns Normalsterbliche war allerdings, dass das Schicksal auch vor einem Peter J. Launders nicht Halt machte. Aus dem Großen Krieg war er mit einem Schrapnellsplitter zurückgekehrt, der immer noch in seinem linken Bein steckte und ihm nur unter Schmerzen erlaubte, sich ein paar Schritte mit Hilfe eines Stocks zu bewegen. Für ihn kein großes Handicap, er hatte genug Autos und Bedienstete, die ihn im Rollstuhl herumschoben, wenn er die unzähligen Gemächer seines Anwesens kontrollieren wollte.
Als er 1919 aus Europa zurückkehrte, war er ein gefeierter Volksheld, doch irgendwas dort drüben auf den Schlachtfedern hatte ihn verändert. Früher war er mit seiner bildhübschen Frau ständiger Gast in den Clubs und Restaurants zwischen Chicago und New York gewesen, verbrachte die Winter in Florida, gab an einem einzigen Abend mehr Geld aus, als die gesamte Polizei in Chicago im Monat verdiente - einschließlich der Bestechungsgelder.
Nach seiner Rückkehr allerdings lebte er sehr zurückgezogen, ging nur noch wenig aus, und als vor sechs Jahren seine Frau überraschend starb, verließ er seinen Palast überhaupt nicht mehr. Man konnte inzwischen eher von einer Festung sprechen.
Ich stand in der North Mittner Avenue vor ebendieser Festung. Eine hohe Mauer umschloss das Anwesen, das Haus selbst, ein Backsteinklotz im Tudorstil, war hinter den hohen Bäumen nur zu erahnen. Ich war mir sicher, dass sich das Grundstück bis zum North Branch des Chicago River hinzog. Mindestens drei bis vier Acre.
Mein Plymouth tuckerte vor dem massiven Eisentor, während ich auf die Rückkehr des Wachmanns aus dem etwas zurückgesetzten Wachhäuschen wartete, das in seinen Ausmaßen der Traum einer jeden zwanzigköpfigen polnischen Einwandererfamilie gewesen wäre.
So richtig glauben konnte ich es noch immer nicht. Betty war fast in Ohnmacht gefallen, als sie den Anruf vom Launders-Anwesen entgegennahm. Man bat mich, besser gesagt und mehr zu dem Colonel passend, man befahl mich in die North Mittner Avenue.
Ich hatte genau dreißig Minuten, mich umzuziehen, ich wollte natürlich den besten Eindruck machen, und dort anzutreten. Eine Vorstellung, was mich bei Colonel Launders erwartete, hatte ich nicht.
Viel wusste ich nicht über den Colonel, aber eines war jedem in Chicago klar: Niemand konnte ihm an den Karren fahren. Selbst der »Cardinale« und »The Jar«, die Chefs der beiden großen Syndikate, gingen ihm aus dem Weg. Wenn sie das Geld hatten, die Behörden von Chicago einschließlich Big Bill Thompson, den Bürgermeister, zu kaufen, dann hätte Launders gleich die Regierung der Vereinigten Staaten gekauft. Wenn er gewollt hätte.
Der Wachmann in der Uniform irgendeines Infanterieregiments kam aus dem schmucken Einfamilienhaus zurück. Ich zweifelte nicht daran, dass er wirklich ein Soldat war und der Colonel Macht und Einfluss genug hatte, zu seinem Schutz auf reguläre Soldaten zurückzugreifen. Der Mann schulterte seine Tommy-Gun, entriegelte das Tor und drückte den einen Flügel so weit auf, dass ich mit meinem Plymouth hindurch konnte. Aber nicht weit. Dann hielt er mich an. Ich beugte mich aus dem Seitenfenster.
»Mister«, er spuckte es förmlich aus, »Sie fahren auf der Straße bis zum Haus. Und nur auf dieser Straße. Auf dem Weg halten Sie nicht an. Sie steigen erst vor dem Haus aus, kapiert?«
Der Typ verlangte geradezu nach einer passenden Antwort, die mir aber nicht einfiel. »Und wenn nicht«, brachte ich lediglich heraus.
»Dann sollten Sie jetzt schon wissen, wem Sie diese Schrottkarre vererben. Meine Kameraden haben die strikte Anweisung, auf jeden zu schießen, der nicht zum Haushalt gehört und sich auf dem Gelände herumtreibt.« Er tätschelte seine Tommy-Gun.
»Und wie ist das mit der Aufforderung, stehen zu bleiben und die Hände zu heben, oder einem Warnschuss?«, fragte ich bissig.
Ein Grinsen breitete sich unter der Uniformmütze aus und der Mann hob die Tommy-Gun. »Der erste Schuss ist der Warnschuss.«
Bei einer Feuergeschwindigkeit von über hundert Schuss pro Minute war das nicht wirklich eine Option. Ich nickte und ließ meinen Plymouth ganz vorsichtig anrollen.
***
Die Fassade von Colonel Launders' Familiensitz war beeindruckend, doch ich hatte wenig Zeit, mich den architektonischen Entgleisungen zu widmen. Kaum hatte ich meinen Wagen auf dem breiten Vorplatz zum Stehen gebracht, stürmte schon so etwas wie der Bruder des Torwächters herbei und riss die Fahrertür auf. Auch er hatte eine Tommy-Gun lässig an der Seite hängen.
Ich musste mich mit den Händen an den Wagen lehnen, dann wurde ich nach Waffen abgetastet. Ein zweifelhaftes Vergnügen für mich und eine Enttäuschung für den Wachsoldaten. Mein Smith & Wesson lag sicher in der Schublade meines Schreibtischs und bedrohte bestenfalls Betty beim Fingernägellackieren.
Nachdem ich das Eingangsportal, von einer Tür zu sprechen wäre genauso gewesen, als wenn man den Lake Michigan als Teich bezeichnet hätte, passiert hatte, traf ich den ersten normalen Menschen in diesem Irrenhaus. Das heißt natürlich nicht, dass der mich auch als Mensch behandelt hätte.
Der Butler, ohne Zweifel ein Souvenir, das sich der Colonel aus Merry Old England mitgebracht hatte, musterte mich wie etwas, das an heißen Sommern aus den finsteren Kanallöchern bei den Schlachthöfen in Scharen auf die Straßen drängte. Trotzdem streckte er mir die Hand hin. Er ergriff sie, schüttelte sie herzlich und sagte: »Connor, Pat Connor, private Ermittlungen.«
Das letzte Mal hatte ich einen solchen Gesichtsausdruck gesehen, als Brendon in einem Schnellimbiss eine Kakerlake in seinem Hot Dog fand. Der Butler zog seine Hand zurück und besann sich im letzten Moment darauf, sie nicht an seiner kostbaren Livree abzuwischen. Dann fanden auch seine entgleisten Gesichtszüge ihre angestammten Trassen der Herablassung wieder.
»Ihren Hut, Sir.« Seine Hände behielt er jetzt bei sich, bis ich das angesprochene Kleidungsstück vom Kopf genommen und ihm entgegengestreckt hatte und keinesfalls die Gefahr bestand, dass ich ihn noch einmal anfassen würde.
Er ging zu einer Garderobe auf der rechten Seite der Halle und legte meinen Hut dort ab. Ich machte keinen Versuch ihm zu folgen, denn Tommy-Gun hinter mir gab mir zu verstehen, dass ich mich erst zu bewegen hatte, wenn ich dazu aufgefordert würde.
Der Butler führte mich durch die Halle in eine riesige Bibliothek, in der man auf die Tapete verzichtet und dafür die Wände mit Büchern verkleidet hatte. In einer Ecke befand sich ein Kamin, in dem man einen ganzen Ochsen grillen konnte, und davor eine Gruppe von teuren Ledermöbeln, für die man wohl die Haut der letzten zehn hier gerösteten Ochsen verarbeitet hatte. Wir wühlten uns durch die dicken Teppiche zu einer schmächtigen Gestalt, die mit dem Rücken zu uns auf einem der Ledersofas saß.
Ich kam mir vor wie Alice im Wunderland und der Butler war das weiße Kaninchen. In gemessener Entfernung blieb er vor dem unbeweglichen Rücken stehen, räusperte sich und sagte: »Der erwartete Gentleman ist eingetroffen, Colonel.«
In meinen Ohren klang es allerdings wie: »Die Kanalratte ist aus ihrer Höhle gekrochen.«
Die Gestalt musste wohl irgendein Zeichen von sich gegeben haben. Bemerkt hatte ich nichts, doch Mister Herablassung zog sich zurück. Normalerweise ließ ich nichts auf die Italiener kommen, wenn es um die unsympathischsten Menschen ging. Sie mit ihrem Tralala und dem Rotwein, den sie für eine genießbare Form des Alkohols hielten, aber dieser englische Lackaffe mit seinem näselnden Akzent war in der Lage, mein Weltbild ins Wanken zu bringen. Ich blickte ihm nach, wie er die Teppiche in Richtung Tür durchpflügte wie die Titanic den Nordatlantik, und hoffte auf einen Eisberg.
»Mister Connor«, eine kräftige Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Vielen Dank, dass Sie so kurzfristig kommen konnten. Nehmen Sie doch bitte Platz.«
Endlich mal jemand mit Umgangsformen. Ich streifte an dem Sofa vorbei und setzte mich dem Colonel gegenüber auf ein zweites dieser ausladenden Möbelstücke. Im ersten Augenblick war ich erschrocken. In meinem Hinterkopf hatten sich die Bilder befunden, wie er als zwar verletzter, aber strahlender Held aus dem Großen Krieg zurückgekehrt war, hoch dekoriert mit allem, was die Armee zu bieten hatte. Ein Mann in seinen besten Jahren.
Jetzt saß mir eine hagere Gestalt...