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»Blind Dates sind was für Loser.« Julie Marone klemmte sich den Hörer zwischen Kinn und Schulter und schob mit beiden Händen die Papiere auf ihrem Schreibtisch zu einem sauberen Stapel zusammen. »Hältst du mich wirklich für einen Loser?«
»Einen Loser nicht gerade.« Amelias Art, das Wort zu betonen, ließ alle Möglichkeiten offen.
Julie schnaubte prustend. »Na, herzlichen Dank, Schwesterherz! Nur keine falsche Zurückhaltung!«
»Du weißt, was ich meine. Du bist jetzt seit drei Jahren vom Markt. Irgendwo musst du schließlich wieder anfangen.«
»Klar, aber musste es ausgerechnet beim Bodensatz sein?«
»Peter ist ein netter Kerl!«, protestierte Amelia.
»Absolut«, stimmte Julie ihr in liebenswürdigem Tonfall zu. »Und er hat seine Mami so lieb, dass er immer noch bei ihr im Souterrain wohnt.«
Amelia gab ein >Jetzt geht das wieder los<-Stöhnen von sich. »Er ist Optiker, Herrgott noch mal! Ich dachte, er hätte eine eigene Wohnung.«
Julie setzte zu dem alten Spruch über das Denken und die Pferde an, aber Amelia ließ sie nicht zu Ende reden. »Ja, ja. Das Denken den Pferden überlassen. Größere Köpfe und so. Schon verstanden. Wie auch immer. Leo« - das Date für den heutigen Abend - »ist auf jeden Fall besser. Ich hab mich bei seiner Schwester erkundigt« - Amelias Friseurin - »und die sagt, er hat ein Haus in Natick. Seine Kanzlei läuft prima.«
»Warum lässt er sich dann auf ein Blind Date ein?«
»Er ist seit Kurzem geschieden.«
Julie stöhnte. Frisch geschiedene Männer fielen in zwei Kategorien. »Auf der Suche nach Ersatz oder immer noch voller Verbitterung?«
»Komm schon, Jules, gib ihm eine Chance!«
Mit einem resignierten Seufzer schob Julie die Papiere in die Mappe mit der Aufschrift Westin / Anderson und steckte sie für die morgige Vertragsunterzeichnung in ihre Aktentasche. »Sag mir einfach, wo ich ihn treffen soll.«
»In der Hanover Street, um sieben. Er hat in einem Lokal in der Prince Street reserviert.«
»Na, wenn das so ist ." Ein Abendessen im North End von Boston war fast die Mühe wert. Für gutes italienisches Essen war Julie immer zu haben. »Woran erkenne ich ihn eigentlich? Groß, dunkelhaarig und gut aussehend?« Man würde doch schließlich noch hoffen dürfen!
»Dunkelhaarig ja . aber . groß eher nicht. Er trägt einen roten Schal.«
»Gut aussehend?«
Amelia räusperte sich. »Ich hab vorgestern Abend zufällig einen seiner Werbespots gesehen. Er hat ein nettes Lächeln.«
»Wow, Moment mal! Werbespots? Was für eine Art Anwalt ist er denn?«
»Schmerzensgeld.« Amelia ließ die Info so hastig fallen wie eine heiße Kartoffel, gleich darauf rief sie: »Oh, hör mal, Ray ist grad gekommen. Muss Schluss machen«, und legte auf.
Julie zählte zwei und zwei zusammen und stöhnte erneut. Bei Leo konnte es sich nur um diesen allgegenwärtigen >Ich fühle mit Ihnen<-Typ Leo Payne handeln, dessen Werbespots ständig im Nachtprogramm liefen und den schlaflosen Einwohnern Bostons versprachen, Payne werde nicht ruhen, bis sie jeden Penny bekamen, der ihnen zustand - abzüglich seines Drittel-Anteils natürlich.
»Wo hab ich mich da bloß reingeritten?«, murmelte sie.
Seit drei Jahren, seit David gestorben war, versuchte sie ihrer Schwester begreiflich zu machen, dass sie durch ihren Beruf, ihren strengen Trainingsplan (dieses Jahr würde sie wirklich den Marathon laufen) und ihre umfangreiche italienisch-amerikanische Familie viel zu beschäftigt für Männer war. Und auch wenn Amelia ihr das nicht abkaufte, hatte sie Julies Wunsch stets respektiert.
Bis jetzt.
Der Auslöser, das wusste Julie, war Amelias bevorstehende Hochzeit an Heiligabend. Julie war Trauzeugin, und Amelia wollte, dass sie einen Begleiter zur Hochzeit mitbrachte. Und zwar ein echtes Date, nicht ihren schwulen Freund Dan. Amelia liebte Dan wie einen Bruder, aber er war ebenfalls Single und ging sehr gern aus, was es Julie allzu leicht machte, sich vor Verabredungen mit anderen Männern zu drücken.
Also hatte Amelia drei geeignete Männer ausgesucht und erklärt, falls Julie ihnen keine Chance gebe, würde ihre Mutter einen Begleiter für sie beschaffen - und die war eine wahre Raubkatze, was Männer betraf, und hatte einen ziemlich fragwürdigen Geschmack.
Julie wusste, was für eine Katastrophe das werden würde. Also hatte sie widerstrebend nachgegeben und eingewilligt, mit allen dreien auszugehen. Bisher lief es noch schlimmer als befürchtet.
Jan tauchte in der Tür auf. »J.Julie?« Ihre sonst so blassen Wangen waren rosig, und ihre aufgeregten Atemzüge brachten ihren winzigen Busen zum Erbeben. »Oh Julie, du wirst es nicht glauben . Es ist . Ich meine ."
»Immer mit der Ruhe, Jan!« Julie deutete mit zwei Fingern zuerst auf Jans Augen und dann auf ihre eigenen. »Konzentrier dich.«
Jan saugte Luft durch die Nase ein und stieß sie mit einem pfeifenden Keuchen wieder aus. »Okay, ein Kunde ist gerade reingekommen. Aus Austin.« Sie keuchte erneut. »Er ist umwerfend! Und dieser Akzent ." Keuch.
Julie nickte ermutigend. Es brachte nie etwas, Jan zu drängen.
»Er sagt .« Jan fächelte sich Luft zu, und zwar kräftig. Sie schwitzte regelrecht. »Er sagt, jemand in der Notaufnahme hätte ihm von dir erzählt.«
Das klang ominös.
Julie warf einen Blick auf die Armbanduhr. 17:45 Uhr. Zu spät, um sich mit geheimnisvollen Fremden auseinanderzusetzen. Wenn sie jetzt ging, blieb ihr gerade noch genug Zeit, sich zu Hause für ihre Verabredung umzuziehen.
»Bitte ihn, morgen wiederzukommen«, sagte sie. »Ich habe keine Zeit ."
»Er will nur ganz kurz mit dir sprechen.« Jan wischte sich die Handflächen an ihrem grauen Faltenrock ab. Trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre kleidete sie sich wie Julies Oma, aber innerlich war sie immer noch sechzehn: In Gegenwart eines attraktiven Mannes schmolz sie dahin. »E.es tut mir leid. Ich konnte nicht Nein sagen.«
Julie seufzte und fragte sich - wieder einmal -, warum sie ihre alberne Cousine überhaupt eingestellt hatte. Weil sie zur Familie gehörte, deshalb. »Na schön. Schick ihn rein.«
Zehn Sekunden später füllten knapp eins neunzig texanische Wucht ihren Türrahmen. Dunkelblonde Haare, karamellfarbene Augen, gebräunte Wangen. Wow.
Ihr eigenes sechzehnjähriges Herz machte Klopf-klopf. Der Mann durchquerte den Raum, ließ ihre Hand in seiner mächtigen Pranke verschwinden und sagte in geradezu lächerlich gedehntem Tonfall: »Cody Brown. Freut mich wirklich sehr, dass Sie für mich Zeit haben, Miss Marone.«
»Nennen Sie mich Julie«, gelang es ihr zu erwidern. Ihre Hand fühlte sich nackt an, als er sie wieder freigab, so als hätte sie an einem kalten Wintertag einen warmen Handschuh abgestreift.
Kein Wunder, dass Jan völlig die Fassung verloren hatte. Cody Brown war groß wie eine Eiche und schlank wie ein Puma.
Sie wies auf einen Sessel, und er nahm Platz. Dabei öffnete sich seine abgewetzte Lederjacke und gab den Blick auf ein indigoblaues Hemd mit Druckknöpfen aus Perlmutt und eine riesige Gürtelschnalle frei. Er trug enge Jeans und Cowboystiefel, und als er die Beine übereinanderschlug, den Knöchel des einen lässig auf dem Knie des anderen, hörte sie im Geiste Sporen klirren.
Ihr Mund wurde trocken.
Sie nahm ihren Kugelschreiber und klickte nervös die Mine rein und raus, rein und raus. »Also, Sie sind neu in Boston?«
Er lächelte träge, wobei kleine Fältchen um seine Augen erschienen. »Wie haben Sie das erraten?«
Sie stieß ein kurzes, schnaubendes Lachen hervor. »Okay, das war eine dumme Frage.«
Gott, sie war genauso schlimm wie Jan!
Er winkte ab. »Ach was«, erwiderte er in seinem schleppenden Tonfall. »Sie wollten nur höflich sein.« Der Dezemberwind hatte ihm das Haar zerzaust, und dass er sich jetzt mit den Fingern hindurchfuhr, machte es nicht besser. »Sie haben recht, ich bin nagelneu in Boston. Bin erst letzte Woche angekommen, und seit mein Flieger aufgesetzt hat, habe ich jeden Tag gearbeitet.«
»Verstehe.« Sie betrachtete die dunklen Bartschatten an seinen Wangen. Dann zwang sie sich, wieder auf den Notizblock vor ihr auf dem Schreibtisch zu schauen. »Suchen Sie ein Haus? Eine Eigentumswohnung?«
»Eine Wohnung, denke ich.«
Sie machte sich eine Notiz. »Ist Ihre Frau derselben Meinung?«
»Ich bin nicht verheiratet.«
Sie blickte hoch. »Verlobt?«
Verneinend schüttelte er den Kopf. »Auch keine Freundin. Oder Freund, was das betrifft.« Er brachte schon wieder dieses Lächeln an.
Sie legte den Kugelschreiber auf den Tisch. »Wer hat mich Ihnen empfohlen?«
»Marianne Wells. Sie sagte, Sie hätten ihr Traumhaus für sie gefunden.«
Julie erinnerte sich an die Kundin, eine Krankenschwester am Mass General. »Ja, ich habe ein Haus für sie gefunden. Für sie und ihren Ehemann.« Sie lächelte entschuldigend. »Das ist es, was ich tue. Ich bringe Häuser und Paare zusammen.«
Fragend neigte Cody den Kopf zur Seite. »Nur Paare? Warum?«
»Das ist meine Spezialität.«
Er nickte freundlich. »Okay. Aber warum?«
Ungeduldig rutschte sie auf ihrem Stuhl herum. »Weil es eben so ist.« Und das ist alles, was Sie...