Schweitzer Fachinformationen
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Bosch fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss hoch. In den letzten Jahren hatte die Bezirksverwaltung dreißig Millionen für die Renovierung der Rechtsmedizin ausgegeben, aber die Aufzüge waren noch genauso langsam wie früher. Er fand Lucia Soto an der Laderampe. Sie lehnte an einer leeren Fahrtrage und schaute auf ihr Handy. Boschs Partnerin war klein und gut proportioniert und wog höchstens fünfzig Kilo. Sie trug einen dieser modischen Hosenanzüge, die bei den weiblichen Detectives gerade in waren. Er ermöglichte ihr, die Dienstwaffe an der Hüfte griffbereit zu haben statt in einer Handtasche. Außerdem vermittelte der Anzug Durchsetzungsvermögen und Autorität, wie es ein Kleid nie vermocht hätte. Er war dunkelbraun, und sie trug dazu eine cremefarbene Bluse. Das passte gut zu ihrer glatten braunen Haut.
Als Bosch sich ihr näherte, hob sie den Kopf und richtete sich überstürzt auf wie ein Kind, das bei etwas Verbotenem ertappt worden war.
»Ich hab sie«, sagte Bosch.
Er hielt die Beweismitteltüte mit der Kugel hoch. Soto griff danach und betrachtete das Projektil durch das Plastik. Hinter ihnen näherten sich zwei Leichenträger, die eine leere Bahre auf den Eingang der sogenannten Großen Gruft zuschoben. In dem neuen Anbau, einer Kühlhalle von der Größe eines Supermarkts, wurden alle eingelieferten Leichen gelagert, bis sie zur Obduktion an die Reihe kamen.
»Ganz schön fett«, bemerkte Soto.
Bosch nickte.
»Und lang. Ich glaube, wir müssen nach einem Gewehr suchen.«
»In bestem Zustand ist sie auch nicht mehr gerade«, sagte Soto. »Ziemlich verknautscht.«
Sie gab Bosch die Tüte zurück, und er steckte sie in seine Jackentasche.
»Für einen Vergleich müsste es trotzdem reichen«, sagte er. »Vielleicht haben wir ja Glück.«
Die Männer hinter Soto öffneten das Tor der Großen Gruft, um die Bahre hineinzuschieben. Der kalte Luftzug, der über die Laderampe streifte, war von einem unangenehmen Geruch durchsetzt. Soto drehte sich um und erhaschte noch einen Blick ins Innere der riesigen Kühlhalle. Endlose Regalreihen mit Leichen, jeweils vier übereinander, alle in Planen aus mattem Plastik gehüllt. Nur ihre Füße standen heraus, und die Etiketten an ihren Zehen flatterten im Luftzug der Kühlschächte.
Soto drehte sich rasch weg, und ihr Gesicht wurde weiß.
»Ist was?«, fragte Bosch.
»Nein, nein«, antwortete sie rasch. »Nur ganz schön krass, findest du nicht?«
»Eigentlich ist es ein enormer Fortschritt. Früher lagen die Leichen in den Gängen rum. Manchmal, wenn am Wochenende viel los war, sogar übereinandergestapelt. Und gestunken hat es hier.«
Um ihn von weiteren Schilderungen abzuhalten, hob Soto die Hand.
»Schon verstanden. Sind wir hier jetzt fertig?«
»Ja, wir sind fertig.«
Er ging los, und Soto folgte ihm in einem Meter Abstand. Sie ging immer hinter Bosch. Er wusste nicht, ob das Ausdruck ihres Respekts vor seinem Alter und Dienstgrad war oder irgendetwas anderes, Unsicherheit zum Beispiel. Er steuerte auf die Treppe am Ende der Rampe zu. Es war eine Abkürzung zum Besucherparkplatz.
»Wohin fahren wir jetzt?«, fragte sie.
»Wir bringen die Kugel zu den Schusswaffen rüber«, sagte Bosch. »Apropos Glück - mittwochs kommt man auch ohne Voranmeldung dran. Anschließend holen wir in der Hollenbeck das Mordbuch und die Beweise ab. Dann sehen wir weiter.«
»Okay.«
Sie stiegen die Treppe hinunter und gingen über den Angestelltenparkplatz zum Besucherparkplatz an der Seite des Gebäudes.
»Hast du deinen Anruf gemacht?«, fragte Bosch.
»Was?«, fragte Soto verständnislos.
»Hast du nicht gesagt, du müsstest telefonieren?«
»Ach so, klar. Sorry auch.«
»Kein Problem. Und? Was dabei herausgekommen?«
»Ja, schon.«
Bosch vermutete, dass sie gar nicht telefoniert hatte. Er glaubte, sie hatte sich vor der Obduktion drücken wollen, weil sie noch nie einen ausgeweideten menschlichen Körper gesehen hatte. Soto war nicht nur in der Einheit Offen-Ungelöst neu, sondern auch im Morddezernat. Dies war erst der dritte Fall, den sie zusammen mit Bosch bearbeitete, und der einzige mit einer Leiche, die frisch genug war für eine Autopsie. Als sich Soto dafür entschieden hatte, kalte Fälle zu bearbeiten, hatte sie wahrscheinlich nicht mit Live-Obduktionen gerechnet. Was man dabei zu sehen und zu riechen bekam, war in der Regel das, woran man sich als Mordermittler am schwersten gewöhnte. Bei kalten Fällen blieb einem in der Regel beides erspart.
In jüngster Vergangenheit war die Kriminalitätsrate in Los Angeles deutlich zurückgegangen, am stärksten die Zahl der Morde. Das hatte beim LAPD zu einer neuen Gewichtung der Ermittlungsbemühungen geführt. Die Polizei konzentrierte sich nun verstärkt auf die Aufklärung sogenannter kalter Fälle. Und bei über zehntausend ungelösten Morden aus den letzten fünfzig Jahren gab es noch jede Menge zu tun. Die Einheit Offen-Ungelöst hatte sich im Laufe des vergangenen Jahres beinahe auf das Dreifache vergrößert und verfügte inzwischen über einen eigenen Führungsstab mit einem Captain und zwei Lieutenants. Neben vielen alten Hasen aus der Homicide Special und anderen Eliteeinheiten der Robbery-Homicide Division waren auch einige junge Detectives mit wenig, wenn nicht sogar keinerlei Erfahrung als Ermittler zu Offen-Ungelöst versetzt worden. Die neue Philosophie, die das OCP, das Büro des Polizeichefs im zehnten Stock, ausgegeben hatte, lautete: Es ist eine neue Welt da draußen, mit neuen Technologien und neuen Sichtweisen, und selbst wenn nichts über ermittlerische Erfahrung geht, kann es nicht schaden, sie mit neuen Ansichten und unterschiedlichen Lebenserfahrungen zu kombinieren.
Die neuen Ermittler - die »Mod Squad«, wie sie von manchen geringschätzig genannt wurden - erhielten die begehrten Stellen bei der Einheit Offen-Ungelöst aus einer Vielzahl von Gründen, die von politischen Beziehungen über besondere Motivation und Aussicht auf Auszeichnungen für aufopferungsvollen Einsatz im Dienst reichten. Einer der neuen Detectives hatte in der IT-Abteilung einer Krankenhauskette gearbeitet, bevor er zur Polizei gegangen war, und maßgeblich zur Aufklärung eines Mordes an einem Patienten beigetragen, der mittels eines computergesteuerten Medikamentenzuteilungssystems verübt worden war. Ein anderer hatte als Rhodes-Stipendiat Chemie studiert. Es gab sogar einen Detective, der Ermittler bei der Police Nationale d'Haïti gewesen war.
Soto war erst achtundzwanzig Jahre alt und noch keine fünf Jahre bei der Polizei. Sie war ein sogenannter »Nacktärmel« - ohne einen Streifen an ihrer Uniform - und hatte den Sprung von einer normalen Streifenpolizistin zum Detective geschafft, weil sie zwei wichtige Eigenschaften in sich vereinte. Sie war eine mexikanischstämmige Amerikanerin und sprach fließend Englisch und Spanisch. Aber sie hatte auch ein traditionelleres Argument für ihre Beförderung vorzuweisen gehabt: Sie hatte für Schlagzeilen gesorgt wegen eines Einsatzes bei einem Überfall auf einen Getränkemarkt in Pico-Union, bei dem sie und ihr Partner es mit vier bewaffneten Männern aufgenommen hatten. Sotos Partner war bei dem Schusswechsel ums Leben gekommen, aber sie hatte zwei der Räuber erschossen und die restlichen zwei so lange in Schach gehalten, bis ein SWAT-Team eingetroffen war und die Männer festgenommen hatte. Die Angreifer gehörten zur 13th Street, einer der brutalsten Gangs der Stadt, und entsprechend ausgiebig berichteten Zeitungen, Internet und Fernsehen über Sotos Heldentat. Später verlieh ihr Polizeichef Gregory Malins die Tapferkeitsmedaille des LAPD. Ihr Partner erhielt sie ebenfalls, posthum.
Captain George Crowder, der neue Leiter der Einheit Offen-Ungelöst, glaubte die Neuzugänge am besten integrieren zu können, indem er alle bestehenden Zweierteams auflöste und jedem Detective, der OU-Erfahrung hatte, einen »Neuen« zuteilte, der keine hatte. Bosch war der Älteste der Einheit und hatte die meisten Dienstjahre vorzuweisen. Infolgedessen bekam er den jüngsten Neuzugang - Soto.
»Harry«, hatte ihm Crowder erklärt, »ich möchte, dass Sie als alter Hase die Anfängerin unter Ihre Fittiche nehmen.«
Bosch ließ sich nur ungern an sein Alter und seinen Status erinnern, war aber trotzdem froh über die Zuteilung. Er stand kurz vor seinem letzten Dienstjahr, und sein DROP-Vertrag lief unaufhaltsam aus. Die Tage, die ihm noch im Polizeidienst blieben, waren unbezahlbar. Jede Stunde war wie ein Diamant - so kostbar wie nur irgendetwas auf der Welt. Er hielt das nicht für die schlechteste Art, seine Zeit bei der Polizei zu Ende zu bringen: einen unerfahrenen Detective auszubilden und an ihn weiterzugeben, was er weiterzugeben hatte. Als ihm Crowder mitteilte, sein neuer Partner sei Lucia Soto, freute sich Bosch. Wie jeder andere beim LAPD hatte er von Sotos Bravourtat bei dem Schusswechsel gehört. Er wusste, wie es war, bei einem Einsatz jemanden zu töten oder einen Partner zu verlieren. Er kannte die Mischung aus Trauer und Schuldgefühlen, die Soto vermutlich plagte. Er war zuversichtlich, gut mit ihr zusammenzuarbeiten und sie vielleicht zu einer guten Ermittlerin auszubilden.
Außerdem brachte die Partnerschaft mit ihr einen Vorteil mit sich. Weil sie eine Frau war, brauchte er kein Hotelzimmer mit ihr zu teilen, wenn sie wegen eines Falls verreisen mussten. Jeder bekam ein eigenes Zimmer. Das war ein großes Plus. Die Aufklärung kalter Fälle ist mit zahlreichen Reisen verbunden. Oft lassen sich diejenigen, die mit einem Mord davongekommen...
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