Schweitzer Fachinformationen
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Die Sonne steht an einem blassblauen Himmel und schickt einen Lichtstrahl durch das Bullauge in die Kabine. Die Schiffsmaschinen dröhnen, und obgleich der Teppich unter Esthers Füßen weich und dick ist, wandert die Vibration von den Sohlen über die Beine und die Hüften bis in die Magengrube hinauf, wo sie sich niederlässt. Hoffentlich ist das kein Vorzeichen von Seekrankheit.
«Dann sollten wir wohl besser einmal auspacken.» Es ist ebenso sehr ein Selbstgespräch wie ein Gespräch mit Anneliese, etwas, was sie seit einem Jahr immer öfter tut. «Dann können die Falten sich aushängen.» Seit ihr Mann Carl gestorben ist.
«Hängen», sagt Anneliese.
«Ja, Herzchen.»
Sie macht sich manchmal Sorgen, dass sie die Wende verpassen könnte, die bestimmt bald kommt. Dann wird die Zweijährige alles verstehen, was sie sagt, und nicht nur einzelne Wörter nachplappern, die ihr vom Klang her gefallen - als hinterließen sie einen angenehmen Geschmack auf ihrer Zunge.
Esther klappt den ersten der beiden Koffer auf. Aus dem Inneren steigt der Geruch von feuchtem Leder auf. An der Grenze zu Italien am Brenner sind die beiden Koffer zusammen mit denen von Esthers jüdischen Mitreisenden aus dem Zug geholt worden. Sie wurden von deutschen Zollbeamten kontrolliert - alle wertvollen Gegenstände konfisziert - und dann stundenlang auf dem Bahnsteig im Regen stehen gelassen. Als einer der Passagiere ausstieg, um sich zu beschweren, schlug ihm ein SS-Mann seinen Pistolengriff gegen die Schläfe. Der Mann kehrte benommen und blutend in den Zug zurück. Danach gab es keine Beschwerden mehr.
Anneliese hustet. Esther legt ihr die Hand auf die Stirn, ein Reflex. Anneliese hatte vor einer Woche eine Erkältung, nichts Ernsthaftes, aber man kann nicht vorsichtig genug sein. Die Stirn der Kleinen ist ein wenig warm, aber vielleicht sind Esthers Hände auch einfach nur kalt. Sie wirft einen raschen Blick auf Annis Zunge - sie ist rosa und feucht - und küsst das Kind auf die Wange. Es hatte einen Frosch im Hals. Mehr nicht.
Sie wendet sich wieder dem Koffer zu und geht die Kleider durch, die ihre Mutter für Anni und sie eingepackt hat - Unterwäsche, Nachthemden, Blusen, ihr bestes Kleid, jetzt hoffnungslos zerknittert. Wer weiß, wie das Wetter dort sein wird? Wer weiß, wie überhaupt irgendetwas dort sein wird?
Es klopft an der Tür. Esther steht auf, doch bevor sie die Kabine durchquert hat, wird die Tür geöffnet. Ein Steward in einer weißen, mit Goldtressen besetzten Uniform - ein blendend heller Kontrast zum mediterranen Braun seiner Haut - schiebt die Tür auf und winkt eine junge Frau herein.
«Sieht so aus, als würden wir die Kabine teilen», sagt die Frau. Sie hat einen breiten, etwas nasalen Akzent. Vermutlich eine Wienerin. Die Frau lächelt Esther an und mustert dann die Kabine: Die beiden großen Betten, die Wandtäfelung aus Mahagoni, die schmale Tür, hinter der ein kleines Badezimmer liegt, die Art-déco-Lampen auf den schmalen Nachttischen und die Schale mit frischem Obst, die auf einem von ihnen steht. Esthers Blick folgt dem der Frau, und zum ersten Mal fällt ihr auf, wie luxuriös hier alles eingerichtet ist.
«Sehr schön», murmelt die Frau. Sie ist vielleicht fünfundzwanzig und blondiert. Ihre Lippen sind geschminkt und die Augenbrauen in dem breiten blassen Gesicht perfekt geformt. Sie nickt dem Steward zu, der einen Koffer in der einen Hand trägt und eine große Hutschachtel in der anderen. Dann wendet sie sich an Esther. «Sie waren als Erste da - haben Sie sich das Bett am Fenster geschnappt?» Sie lacht.
Esther runzelt die Stirn. Hier ist ein Fehler passiert. «Es tut mir leid», sagt sie. «Es hat ein Missverständnis gegeben. Dies hier ist meine - unsere - Kabine.»
Die Frau macht große Augen, sieht den Steward an, zuckt mit den Schultern und wendet sich wieder Esther zu. «Das hier ist Kabine 201?»
«Ja, aber .»
«Signorina?» Der Steward hat sich an die Frau gewandt. «La valigia?» Er deutet auf den Koffer in seiner Hand, der schwer aussieht.
«Sì, sì», antwortet sie. «Stellen Sie ihn einfach hin. Wir kommen schon zurecht.»
«Tut mir leid», wiederholt Esther, diesmal energischer. «Dies ist meine Kabine.»
Der Steward setzt Koffer und Hutschachtel einfach beim Bett neben der Tür ab - mit offensichtlicher Erleichterung.
«Due», sagt Esther zu ihm und deutet auf sich selbst und dann auf Anneliese, die auf einen Stuhl geklettert ist, um aus dem Bullauge zu schauen. «No tre. Eine Kabine für zwei. Für meine Tochter und mich.»
Der Mann antwortet mit einem Schwall Italienisch.
«Ich verstehe nicht», sagt Esther und merkt, dass sie der Frau einen hilfesuchenden Blick zuwirft. Aber diese schaut einfach nur mit leicht hochgezogenen Augenbrauen auf den Steward, als fände sie das alles sehr amüsant.
«Dies ist eine Kabine für zwei», versucht Esther es erneut. Der Mann breitet die Hände aus und zuckt mit den Schultern. Liegt es daran, dass sie ihm vorhin kein Trinkgeld gegeben hat? Sie hat versucht, ihm zu erklären, dass sie kaum Geld dabeihabe und das Ablegen des Schiffs abwarten müsse, bevor sie sich vom Purser das Bordgeld auszahlen lassen könne - ihre Eltern haben es vor Wochen an die Schifffahrtslinie überwiesen, damit Esther vor ihrer Ankunft am anderen Ende der Welt auf dem Boot ein wenig Komfort genießen kann.
Dann ergreift die andere Frau das Wort. «Kitty Blume», sagt sie und streckt Esther die behandschuhte Hand hin. «Es tut mir leid, falls es zu einem Durcheinander gekommen ist, aber .»
Esther lässt sie nicht ausreden. Sie dreht sich um, hebt Anneliese vom Stuhl und setzt sie sich auf die Hüfte. «Ich werde mit einem der Schiffsoffiziere sprechen. Das hier ist ein Fehler. Ich teile mir keine Kabine.»
Als sie zur Kabine zurückkehrt, ist sie noch immer so wütend, dass sie einen Moment lang vor der Tür stehen bleiben muss.
«Mama? Mama?»
Anneliese zieht an ihrer Hand.
«Nicht jetzt, Anni!», fährt sie sie an. Eintausend Reichsmark haben Esthers Eltern für die Überfahrt auf der Conte Biancamano gezahlt, ihre gesamten Ersparnisse und mehr. Das Silber, der Schmuck ihrer Eltern und das Eiserne Kreuz ihres Vaters. Der Orden, den er sich im Ersten Weltkrieg verdient hat, hat bisher seinen Abtransport nach Dachau oder in ein anderes Lager verhindert, wohin so viele jüdische Männer geschickt wurden. Das alles für zwei Fahrscheine, einen für sie und einen für Anneliese. Und eine Überfahrt in der Ersten Klasse, die als einzige noch verfügbar war.
Esther öffnet die Kabinentür. Der süßliche Duft eines schweren Parfüms hängt in der Luft. Die Frau - der Eindringling, wie Esther unwillkürlich denkt - hat Hut und Handschuhe abgelegt und steht mit dem Rücken zu Esther vor dem Bullauge. Ein dunkelgrüner Mantel mit Fuchspelzkragen liegt auf einem der Betten. Sie dreht sich um, als Esther und Anneliese eintreten, und öffnet den Mund zum Sprechen.
Doch Esther kommt ihr zuvor und sagt scharf: «Meine Tochter macht zwischen ein und zwei Uhr einen Mittagsschlaf. Das ist .», sie blickt auf ihre Uhr, «in ungefähr einer Stunde.» Sie sagt es, obgleich sie weiß, dass Anneliese heute für ein Nickerchen viel zu aufgedreht ist. «Um sieben Uhr abends geht sie ins Bett. Ich halte es für das Beste, ein paar Regeln festzulegen, falls wir diese Kabine teilen sollten.»
Falls wir sie teilen sollten . Ihr bleibt gar keine andere Wahl - der Zweite Offizier hat ihr das sehr deutlich gemacht, als sie sich beschwerte. Die Kabine sei groß genug für zwei Erwachsene, sagte er. Die andere Passagierin habe für ein Erste-Klasse-Ticket bezahlt, und das werde sie auch bekommen. Falls das ihr, Signora Niermann, nicht passe, nun, das Schiff habe den Hafen noch nicht verlassen. Sie könne gern von Bord gehen und ihr Glück bei einer anderen Schifffahrtslinie versuchen. Außerdem sei Signorina Blume ebenfalls Jüdin - un'ebrea - und weiter gebe es nichts zu diskutieren. Esther hätte ihn am liebsten angeschrien, doch sie wusste, dass es sinnlos wäre. Sie ist nicht in der Position, es auf einen Streit ankommen zu lassen.
Jetzt steht sie dieser Frau gegenüber und muss sich beherrschen, um nicht vor Enttäuschung zu weinen.
«Ich verstehe», sagt die Frau und hält den Blick ruhig und stetig auf Esther gerichtet. Dann sieht sie Anneliese an, die sich halb hinter den Beinen ihrer Mutter versteckt, und schaut erneut auf Esther. «Das ist alles sehr unglücklich», fügt sie hinzu. «Es tut mir leid. Ich wollte Ihnen keine Ungelegenheiten bereiten. Aber anscheinend ist das Schiff überbucht.»
«Kitty», sagt Anneliese plötzlich. «Kitty.»
Die Frau geht vor ihr in die Hocke und lächelt sie an. «Ja. Ich heiße Kitty. Du hast ein gutes Gedächtnis.»
Anneliese streckt ihre Puppe vor. «Kitty.»
«So heißt ihre Puppe», erklärt Esther, und Kitty lacht.
«Dein Püppchen hat einen sehr schönen Namen. Und wie heißt du?»
Doch statt zu antworten, durchquert Anneliese die Kabine und klettert auf das Bett neben dem Fenster. «Ki-tty, Ki-tty», singt sie leise.
In diesem Moment...
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