Schweitzer Fachinformationen
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Call behauptet, einen Stern zu sehen, was mich zum Lachen bringt.
»Doch wirklich!« Seine Stimme klingt ernst, als er es mir ins Ohr flüstert.
Ich lege den Kopf in den Nacken. Er hat recht. Ein Stern. Er steht tief über dem Horizont. »Das macht sechs«, sage ich.
»Sieben«, erwidert er. »Das war wirklich ein Stern, den wir in der ersten Nacht auf dem Fluss gesehen haben.«
»War es nicht.« Wir streiten seit Wochen darüber, seit wir den Außenposten verlassen und den Schwimmbagger bestiegen haben, um flussaufwärts zu fahren.
Er lacht leise, dann küsst er mich wieder.
Oben auf dem Deck ist es einfacher, den lauten Krach unseres hungrigen Metallschiffs zu überhören. Aber es ist immer noch unmöglich, das unentwegte Stampfen und Schaben des Baggers zu ignorieren, während er sich auf der Suche nach Gold auf dem Fluss bewegt, Steine und Schotter aufnimmt und ausmahlt. Er reißt das Flussbett auf und lässt dafür Müll und Schlamm zurück, zerstört Täler, vernebelt den Himmel mit Rauchschwaden.
»All das nur, weil der Admiral eine Schwäche für Gold hat«, bemerke ich.
»Und ich habe eine Schwäche für dich«, sagt Call. Ich lache, weil es albern ist, so etwas zu sagen, doch es stimmt, und ich spüre, wie er lächelt.
»Es ergibt keinen Sinn«, sage ich. »Was nützt dieses ganze Gold?« Wir alle wissen, dass der Admiral den Außenposten weiterentwickeln will. Er denkt, dass eine größere Menge Gold dazu beitragen kann, aber ich bin mir nicht sicher, warum das so sein sollte. Wir haben genug abgebaut, um eine Weile damit auszukommen, und es gibt nicht viele Möglichkeiten, damit Handel zu treiben. Wir brauchen viele andere Dinge nötiger. Saubere Luft, mehr Wasser, bessere Medizin, Möglichkeiten, die Böden zu regenerieren. Gold kann aber nichts anderes, als uns die Zeit bis zu unserem Tod zu verzieren.
»Wen interessiert das?«, fragt Call. »Wenn der Admiral nicht so unbedingt Gold wollte, wären wir nie hierhergekommen.«
Call sagt öfter so etwas, aber ich habe seinen Gesichtsausdruck gesehen, wenn er die Zerstörung betrachtet, die wir hinterlassen. Ein aufgewühltes Flussbett, alles Leben erstickt, damit wir das Gold rausholen können.
Wenn auch der Gedanke an das Verderben, das wir verursachen, mich erschauern lässt, so kann ich doch die Sterne zählen, solange ich noch die Möglichkeit dazu habe. Schon jetzt, nach zwei Wochen auf dem Fluss, habe ich mehr entdeckt, als die meisten Menschen im Außenposten in ihrem ganzen Leben zu sehen bekommen.
»Es war eine gute Idee, mitzufahren«, flüstert Call. »Gib es zu.«
»Eine gute Idee!«, erwidere ich spöttisch. »Eine echt gute Idee, unsere Tage im Bauch eines lärmenden alten Baggerschiffs zu verbringen, das laut genug ist, um uns taub zu machen. Eine gute Idee, nächtelang hier oben zu stehen, Wache zu halten und uns die Augen zu verderben, indem wir die Dunkelheit nach Gefahren absuchen.«
»Eine sehr gute Idee«, sagt er.
Call hatte bei seiner Arbeit auf dem Schrottplatz einige Maschinisten dabei belauscht, wie sie sich über die Baggerfahrten unterhielten. »Es ist kein idealer Job«, sagten die Maschinisten zu Call. »Es ist gefährlich, und du musst den Außenposten verlassen.« Für Call klang das jedoch mehr nach einer Verheißung als nach einem Nachteil.
»Es ist die einzige Möglichkeit, die Welt zu sehen, Romy«, sagte er zu mir. »Der einzige Weg, wie du den Staub des Außenpostens von deinen Füßen schütteln kannst.«
Und wir wussten beide, dass uns das Anheuern auf dem Baggerschiff eine Möglichkeit bot, zusammen zu sein, ohne uns niederzulassen und Babys zu bekommen und den ganzen Tag, jeden Tag, an denselben Orten zu arbeiten und dieselben Dinge zu tun.
Und dann ist da noch das größte Geheimnis, der schönste Traum von allen.
Wir wollen abhauen.
Am Wendepunkt werden wir uns davonmachen. Weglaufen. Frei sein.
Ich stelle es mir die ganze Zeit vor. Blaue Seen. Duftender Wald. Geräusche anderer, nichtmenschlicher Lebewesen, die den Wald bewohnen und denen es egal ist, was wir sind. Wir überleben womöglich nicht lange in der Wildnis, aber wer weiß. Vielleicht haben wir doch eine Chance.
Ich würde lieber von einem wilden Tier zerrissen werden, als auf nichts zu warten. Und es nützt nichts, sich Gedanken darüber zu machen, was später passieren könnte.
Stattdessen denke ich an jetzt. Ich mag das Jetzt. Ein Kuss auf dem obersten Deck des Baggers unter einem verrußten Sternenhimmel und Calls Hände, die mich berühren.
»Sollen wir jemanden von der Besatzung einladen, mit uns zu kommen, wenn wir gehen?«, fragt Call.
Auch darüber haben wir schon öfter diskutiert.
»Nein«, entgegne ich. »Nur wir beide.«
Call seufzt in mein Ohr, Metall schrammt und kratzt über Stein, die Aufbereitungsanlage im Inneren des Schiffes dreht das Gestein und die Sedimente und siebt das Gold heraus, Wasser klatscht gegen Fels und Metall.
Dann ertönt die Glocke aus dem Minendeck.
Ich fluche, weil ich weiß, was das bedeutet. Sie brauchen Hilfe beim Hauptmotor des Baggers, der alle Systeme auf dem Schiff antreibt.
»Mach schon«, drängt Call. »Umso schneller kannst du wieder raufkommen.«
Die Abenddämmerung gleitet allmählich in die Nacht über.
»Sei vorsichtig, während ich weg bin«, sage ich. »Pass auf die Piraten auf.«
»Ich passe besser auf, wenn du nicht da bist«, erwidert er, und selbst im schwachen Licht erkenne ich, wie sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln kräuseln.
»Das stimmt«, sage ich. »Ich bleibe wohl besser unten.« Das ist kein Scherz. Vielleicht waren wir zu aufgeregt vor lauter Freiheit, der frischen Luft.
»Romy«, sagt Call. »Mach dir keine Sorgen. Wir haben hier am Fluss noch keinen einzigen Piraten gesehen.«
Vielleicht sterben sie aus. Jeder weiß, dass das irgendwann passieren wird.
Der Außenposten ist der einzige Ort, an dem man überleben kann. Der einzige Ort mit zuverlässiger medizinischer Versorgung, genügend Nahrung und dem Schutz des Admirals und seiner Miliz. Man gibt einen Teil seiner Freiheit dafür auf, aber die meisten sind der Meinung, es sei ein fairer Handel.
Call berührt meine Hand im Dunkeln, als ich gehe.
»Da«, sagt Naomi, als die Fördermaschinerie wieder anspringt, ein konstantes, tiefes Brummen und Schleifen, das ein Teil von einem wird, wie ein Herzschlag. Der Hauptmotor wird von Solarzellen und Batteriespeichern angetrieben und aktiviert alles auf dem Bagger über Nebenantriebe. Das Fördersystem ist das lauteste. Wir haben es aus dem ursprünglichen System des Baggers zusammengeschustert, weil wir nicht über die nötigen Mittel verfügten, um es komplett zu ersetzen. Die Eimer bewegen sich auf ihrer Kette, die Siebtrommel, die das Gold vom Gestein trennt, rotiert, alles klirrt und dreht sich und mahlt. Schweiß rinnt über Naomis gebräuntes Gesicht. Sie wischt sich die Hände an einem Lappen ab und nickt Nik und mir zu. »Danke.«
»Gern geschehen«, sagt Nik. Wir müssen schreien, um das Getöse des Goldbaggers zu übertönen. Oft lesen wir den anderen von den Lippen ab. »Tut mir leid, dass wir dich runtergerufen haben, Kleines«, sagt er zu mir. In der Beleuchtung unter Deck sieht sein Gesicht gruselig und doch freundlich aus.
»Und, Sterne auf dem Oberdeck?«, fragt Naomi.
»Ja, einen haben wir heute Abend schon gesehen«, antworte ich. »Du solltest auch hochkommen.«
Nik lacht. »Das ist doch nicht dein Ernst. Du und Call, ihr wollt das Deck doch lieber für euch allein haben.«
Ich verdrehe die Augen, obwohl er recht hat. Aber Naomi und Nik folgen mir beide die Treppe hinauf. Wir lechzen nach frischer Luft, nachdem wir unten auf dem Minendeck waren. Während wir klettern, weht der Geruch von nächtlichen Brisen und vielleicht sogar von Pinienwäldern irgendwo in der Nähe zu uns hinunter. Ich atme ein. Das alles ist es wert.
»Call«, rufe ich, als ich auf das Deck komme, aber er ist nicht dort, wo ich ihn zurückgelassen habe. Ich sehe mehrere Gestalten im Licht der schwachen Scheinwerfer umhergehen, die die Basis des Decks umrahmen. Wer ist noch hier oben? Ein Teil der Crew? »Hey«, sage ich, gehe hinaus auf das Deck, und dann packt Naomi mich fest am Arm und hält mich zurück.
Die Gestalten kommen näher, nehmen Form an. Sie verwandeln sich von Schatten zu Menschen, deren Gesichter ich nicht kenne.
Piraten!
»Wir wollen das Gold!«, sagt einer von ihnen. »Sagt uns, wo es ist. Sofort!«
Meine Gedanken überschlagen sich. Meine Augen huschen umher.
Wo ist Call?
Er hatte keine Zeit, den Alarm auszulösen. Hatte er Zeit, sich zu verstecken?
»Sagt uns, wo es ist!«, fordert ein anderer Pirat. »Oder wir töten euch alle und nehmen es trotzdem.«
Ich sehe Naomi und Nik an. Sie haben die Hände gehoben.
»Ihr könnt uns nicht alle töten«, erwidere ich. »Ihr braucht uns lebend. Ihr wisst nicht, wie man den Bagger führt.«
»Ihr zwei, bringt uns nach unten!«, sagt der Pirat zu Naomi und Nik. »Zeigt uns, wo das Gold ist, oder wir erschießen euch.« Er gestikuliert in meine Richtung. »Haltet sie hier oben fest!«
Die Piraten richten ihre Waffen auf mich. Mein Verstand will, dass ich am Leben bleibe. Mein Herz ist krank vor Sorge um Call. Aber er ist schnell. Er ist gut. Er versteckt sich wahrscheinlich irgendwo und wartet auf seine Gelegenheit. Auf den Moment, in dem er sie alle überwältigen kann.
Ein kurzer Moment vergeht.
Und dann höre ich ein schreckliches Geräusch: Der Motor des Baggers schaltet sich ab. Sie legen uns still.
Ich bewege mich vorsichtig zum...
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