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Der Denisova-Jäger des Nordens ähnelte im Erscheinungsbild dem Neandertaler.
Sommer 2010. Der erste Anpfiff der Fußball-Weltmeisterschaft ertönt in Südafrika. «This time for Africa!», singt Shakira. Diesmal findet es in Afrika statt. Das trifft für die Fußballfans zu, aber nicht für die Prähistoriker. Merkwürdiges Paradoxon: Während die ganze Welt auf die Wiege der Menschheit schaut, richten sie den Blick nach Asien, auf einen entlegenen Winkel Sibiriens, auf eine Höhle an einem Talhang - die Denisova-Höhle. Dort soll eine bis dahin unbekannte Menschenform aus der Altsteinzeit ihre Nasenspitze, eigentlich ein Fingerglied, gezeigt haben. Jedenfalls behaupten das Forscher des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
In der Urgeschichte ist der Nachweis einer neuen menschlichen Spezies ein seltenes Ereignis. Normalerweise löst eine solche Entdeckung in der Fachwelt Begeisterung aus, wirft jedoch zahlreiche Fragen auf: Wie sind diese Menschen einer fernen Vergangenheit mit den heutigen verwandt? Sind sie unsere Vorfahren? Oder sind sie das Ergebnis eines anderen Zweiges der menschlichen Evolution? Das hatte das Zeug, die Weltgemeinschaft in helle Aufregung zu versetzen.
Doch diesmal war das nicht der Fall. Die Ankündigung der Leipziger Forscher stieß auf einen gewissen Unmut und tiefe Skepsis. Das war ja eine verkehrte Welt! Was war es bloß, das den Paläoanthropologen die Haare zu Berge stehen ließ? Ein Detail haben wir unerwähnt gelassen: Die Entdecker sind Genetiker. Und ihre Schlussfolgerung stützte sich nicht auf eine anatomische Untersuchung des Fingerfragments, sondern auf die DNA, die sie daraus extrahieren konnten. Praktisch gleichzeitig schockierte das Team auch mit der Veröffentlichung der Neandertaler-DNA und dem Nachweis, dass die Eurasier Neandertaler-Gene geerbt hatten. Also eine neue eurasische Spezies . wirklich? Und dann auch noch allein anhand ihrer DNA? Ohne andere Fossilien als ein Fingerglied? Aber wohin verstiegen sich die Genetiker? Allgemeines Erstaunen unter den Prähistorikern.
So seltsam es auch klingen mag, die Paläoanthropologen hatten dennoch allen Grund, an diese neue Spezies zu glauben. Und zwar einfach deshalb, weil sie eine offensichtliche Lücke im Puzzle der langen Menschheitsgeschichte füllte. Um zu verstehen, welche Lücke das ist, muss man sich vor Augen halten, dass seit mehr als zwei Millionen Jahren von Afrika aus immer wieder Wellen von Menschen nach Eurasien kamen. Diese Populationen trafen auf die Nachkommen der vorherigen Wellen. Vor etwa 70.000 Jahren, als die größte Welle der Gattung Homo sapiens Afrika verließ, lebte in Europa seit Hunderttausenden von Jahren eine Spezies: der Homo neanderthalensis.
Die Neandertaler waren zäh und kältegewohnt, in Europa hatten sie vier Eiszeiten überstanden. In den Warmzeiten breiteten sie sich in den Nahen Osten und später nach Zentralasien aus. Allerdings waren sie dort nicht schon immer gewesen. Sie stammen von archaischen Menschen ab, die ihrerseits aus Afrika gekommen waren. Diese Vorfahren, die den vorangegangenen großen Migrationsschub repräsentierten, breiteten sich über den gesamten eurasischen Kontinent aus und veränderten sich im Lauf der Zeit körperlich. In Europa entwickelte sich der Neandertaler. Daher traf der Homo sapiens, als er von Afrika nach Norden vordrang, diesen robusten und widerstandsfähigen Menschentypus.
So weit das Szenario im Westen des großen eurasischen Kontinents, aber was geschah auf der anderen Seite, im Fernen Osten? Auf welche Spezies traf der Homo sapiens in Asien? Wenn die vorangegangene Welle den Neandertaler in Europa hervorbrachte, hat sie dann nicht zu einer eigenen Menschenform in Asien geführt? Merkwürdigerweise stellte sich im Jahr 2010 die Welt der Paläoanthropologen diese Frage nicht, obwohl in Asien menschliche Fossilien entdeckt worden waren.
Welcher Spezies wurden sie zugeschrieben? Einem der großen Eroberer der Familie der Homininen, dem Homo erectus. Diese Menschenform mit kräftigem Körperbau, zum Gehen und Rennen geschaffen, aber noch mit geringer Schädelkapazität, tauchte in Afrika auf und verließ es vor etwa zwei Millionen Jahren. Der H. erectus ist unser sehr ferner Vorfahr, da ja Sapiens aus den fernen Nachkommen der in Afrika verbliebenen Populationen hervorgegangen ist.
Man nahm an, H. erectus stehe am Beginn der Besiedelung Asiens, finden sich seine fossilen Spuren aus über einer Million Jahren doch in ganz Asien. Mit anderen Worten, im Jahr 2010 stellten sich die Prähistoriker die Dinge folgendermaßen vor: In Asien war der «archaische H. erectus» im Lauf einer langsamen und kontinuierlichen Evolution ohne Speziessprünge vom «entwickelten H. erectus» abgelöst worden.
Offensichtlich brachte diese Sichtweise eine Asymmetrie zwischen dem östlichen und westlichen Eurasien ins Spiel. In Europa hatte sich der «archaische H. erectus» nicht zu einem «entwickelten H. erectus» gewandelt, sondern war vielmehr einer deutlich anderen Spezies gewichen: dem Neandertaler! Warum also wurde in Bezug auf Asien das erstaunliche und wenig plausible Szenario einer kontinuierlichen Entwicklung über einen sehr langen Zeitraum hinweg (ein Drittel der gesamten Menschheitsgeschichte!) gegenüber dem Szenario der Entstehung einer neuen Spezies bevorzugt?
Trotz des Eindrucks, dass hier mit «zweierlei Maß» gemessen wurde, ließen sich die Paläoanthropologen nicht beirren: Vor dem Sapiens und bis auf vereinzeltes Eindringen des Neandertalers war der H. erectus der einzige Bewohner des riesigen asiatischen Kontinents gewesen. Deshalb runzelten die Paläoanthropologen - gelinde gesagt - die Stirn, als sie von der Entdeckung einer bislang unbekannten Spezies in der Denisova-Höhle erfuhren.
Der zweite Grund für ihre Skepsis war, wie bereits erwähnt, der Umstand, dass dieses Ergebnis aus einem Genetiklabor stammte. Betreut wurden die beiden Forschungsprojekte von dem schwedischen Biologen Svante Pääbo: das eine zu dem in der Denisova-Höhle ausgegrabenen Fragment eines Fingerglieds, das andere zur für die Prähistoriker so verstörenden DNA des Neandertalers. Svante Pääbo, dieser Visionär, ist der Begründer der Paläogenetik, wofür er 2022 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt in Anerkennung der großen wissenschaftlichen Fortschritte, die er angestoßen hatte.
Svante Pääbo war der Erste, der glaubte, alte DNA in Fossilien finden zu können; er nahm die Herausforderung an, entdeckte und überwand das größte Hindernis auf diesem Weg: die Kontaminierung. Bei der Veröffentlichung bedeutender paläogenetischer Entdeckungen steht sein Name oft am Ende der Autorenliste. Wer mit der Forschung vertraut ist, weiß, dass bei einer wissenschaftlichen Publikation der erste und der letzte Name auf der Liste der Autoren am relevantesten sind: Ganz oben wird derjenige genannt, der die Arbeit durchgeführt hat, am Ende steht der Name der Person, die die Forschung initiiert, konzipiert und betreut hat. Die Journalisten haben sich daran gewöhnt: Der Name Svante Pääbo ist Ausweis für einen Meilenstein in der Forschung. Heute feiert die Welt seine unschätzbare Leistung, doch wie in vielen Legenden der Wissenschaft hat Svante Pääbo als junger Mann allein begonnen...
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