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Angesichts der Krise der repräsentativen Demokratie gewinnen radikaldemokratische Theorien zunehmend an Bedeutung. Das Handbuch bietet mit mehr als 80 Beiträgen von ausgewiesenen Expert*innen erstmals einen umfassenden Überblick zu Ansätzen, die unter Demokratie eine besonders intensive Form der Volkssouveränität verstehen. Neben Artikeln zu zentralen Begriffen und Beiträgen zu ideengeschichtlichen Vorläufern sowie wichtigen Kontroversen enthält er auch Porträts einflussreicher Vertreter*innen der radikalen Demokratietheorie, darunter Miguel Abensour, Etienne Balibar, Wendy Brown, Judith Butler, Ernesto Laclau, Jacques Rancière und Iris Marion Young.
Dagmar Comtesse, Oliver Flügel-Martinsen, Franziska Martinsen, Martin Nonhoff
Das Handbuch zur radikalen Demokratietheorie stellt ein Denken vor, das den derzeitigen demokratietheoretischen Mainstream herausfordert. Bislang dominieren in der aktuellen Demokratieforschung vor allem zwei Herangehensweisen: Auf der einen Seite steht ein traditions- und facettenreicher Strang normativer Theoriebildung, dem es um die Begründung liberaldemokratischer, institutionalisierter Ordnungen, ihrer Prinzipien und konstitutiven Merkmale zu tun ist. Auf der anderen Seite hat sich ein einflussreicher Forschungszweig herausgebildet, der sich positivistisch mit der Messung und dem Vergleich von Demokratiemodellen beschäftigt. Zwei Aspekte geraten bei beiden Herangehensweisen leicht aus den Augen: Zum einen kann man von der Stabilität der institutionalisierten Formen der repräsentativen Demokratie keineswegs einfach ausgehen, sondern Demokratie muss sich immer konkret in der stets kontingenten politischen Praxis manifestieren. Zum anderen ist demokratische Praxis keine beliebige politische Praxis, sondern unauflösbar an die Idee gebunden, dass wir uns als Freie und Gleiche begegnen.[1] Allerdings wird dieser emanzipatorische und egalitäre Kern der Demokratie in den institutionalisierten Formen der Demokratie regelmäßig verfehlt.
Bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen teilen die in diesem Handbuch vorzustellenden Ansätze radikaldemokratischen Denkens das Ziel, diesen beiden sonst oft wenig beachteten Aspekten mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Sie verknüpfen eine Befragung der normativen Begründungen der Demokratie mit der (im Grunde genommen kaum umstrittenen, aber leicht in Vergessenheit geratenden) Erkenntnis, dass sich bestehende Ordnungsmuster im Rahmen politischer Handlungen aufbrechen lassen. Zum Beispiel konfrontiert Jacques Rancières vielbeschworene Losung von 12der Unterbrechung der Logik institutioneller Politik und ihrer auf Konsens abgestellten Regelwerke liberale repräsentative Demokratien mit einem Konzept des Politischen, das sich als widerständiger Dissens gegenüber den in vermeintlicher Alternativlosigkeit eingerichteten Regierungspolitiken ausdrückt.[2] Und mit der vielleicht bekanntesten Fassung radikaler Demokratietheorie, nämlich jener, die von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe 1985 explizit als »sozialistische Strategie« formuliert wurde,[3] lassen sich liberale (und für gewöhnlich kapitalistische) Demokratien als etablierte Hegemonien begreifen, die aber gleichwohl weiter demokratisiert werden können, wenn sich verschiedene emanzipatorische Kräfte in einer gegenhegemonialen Bewegung zusammenschließen.
Bemüht man sich um eine systematische Skizze des Feldes, so kann man unseres Erachtens auf drei Weisen sinnvoll von radikaler Demokratietheorie sprechen:[4] Erstens lässt sich von einer radikalen Demokratietheorie dort sprechen, wo über eine besonders intensive und alle Gesellschaftsformationen durchdringende Form der demokratischen Selbstregierung nachgedacht wird. Radikalisierung bedeutet dabei, die Demokratie als Lebensform einer gemeinsamen Verfügung über alles, was die Gemeinschaft betrifft, auf möglichst viele Bereiche des Lebens auszuweiten. So kann es z. B. darum gehen, Betriebe zu demokratisieren. Das Ziel besteht nicht nur darin, gemeinsam zu entscheiden, sondern überhaupt bestimmte Fragen zu Fragen zu machen, die in der Öffentlichkeit bekannt gemacht und beraten werden sollen.[5] Die Forderung einer »Demokratisierung der Demokratie«[6] wird auch regelmäßig erhoben, um in repräsentativen Demokratien Entwicklungen zu kritisieren, die auf Formen einer eher hinter geschlossenen Türen stattfinden13den Elitenherrschaft hinauslaufen. In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf das Recht des Volkes verwiesen, die Eliten zu kontrollieren und sie in die Schranken zu weisen.[7] Auch die Frage der Reichweite und der Grenzen der Volkssouveränität wird hierbei zum Thema.[8]
Zweitens kann das Etikett der radikalen Demokratietheorie dort Verwendung finden, wo Autor*innen darauf verweisen, dass in modernen Demokratien grundsätzlich jede Institution und jede Norm legitimerweise zum Gegenstand kritischer Befragung durch alle (oder wenigstens durch alle Betroffenen) werden kann. Grundlegend für radikale Demokratie in diesem Sinne ist ein postessentialistischer Gesellschaftsbegriff, also die Überlegung, dass menschliche Gesellschaften keine festgelegten, >natürlichen< Konturen oder Eigenschaften besitzen, sondern eine variable Gestalt aufweisen, die auf menschliche Entscheidungen und menschliches Handeln zurückgeht. Dass gesellschaftliche Verhältnisse radikal befragbar sind, heißt aus dieser zweiten Perspektive allerdings nicht, dass es nicht einen angemessenen Modus gäbe, um Antworten zu finden: nämlich den rationalen Austausch von Argumenten. Paradigmatisch für diese Position steht die deliberative Demokratietheorie von Jürgen Habermas, der durchaus auch auf den Begriff der »radikalen Demokratie« rekurriert[9] und damit insbesondere meint, dass Normen nur dann Gültigkeit beanspruchen können, wenn »alle möglicherweise Betroffenen [.] aus guten Gründen zustimmen können«.[10] Die Rede von den »guten Gründen« verweist darauf, dass in dieser Fassung radikaler Demokratie zwar »alles Inhaltliche in den Bereich des Kontingenten«[11] gehört, dass aber zugleich die Klärung von Geltungsansprüchen erfolgt, indem man die Maßstäbe einer einheitlich zu denkenden Vernunft in Anschlag bringt. Das Zusammenspiel der Öffentlichkeit mit den etablierten Institutionen des 14demokratischen Rechtsstaats ist dann gelungen, wenn es ermöglicht, Geltungsansprüche vernünftig zu klären.
Drittens schließlich umfasst auch die heute wohl häufigste Form, von radikaler Demokratie zu sprechen, den Verweis darauf, dass moderne Gesellschaften von einer unausweichlichen Kontingenz geprägt sind.[12] Allerdings macht die Kontingenzannahme weder bei den etablierten Institutionen des demokratischen Rechtsstaats noch bei der Idee einer einheitlichen Vernunft halt. Die erforderlichen Verfahren und Institutionen der Selbstregierung, aber auch die normativen Leitlinien des Zusammenlebens werden vielmehr von der je konkreten Praxis derjenigen her gedacht, die sich als Freie und Gleiche begreifen. Soziale, ökonomische und kulturelle Zustände werden als Ergebnisse kontingenten politischen Handelns begriffen, wobei zwar gelegentlich wahrgenommene Sachzwänge oder moralische Erwägungen eine Rolle spielen mögen, aber letztlich keine Ableitung von Entscheidungen erlauben. In diesem Sinne sind alle spezifischen Ausgestaltungen der menschlichen Welt politisch hervorgebracht; nichts ist einfach gegeben oder »vernünftig«. Vielmehr gilt als das Kennzeichen der Demokratie, »daß sie die Grundlagen aller Gewißheit auflöst«.[13] Aus Sicht von radikalen Demokratietheorien verweist z. B. einer der demokratietheoretischen Zentralbegriffe schlechthin, nämlich >das Volk< der Demokratie, gerade nicht auf einen festen Bezugspunkt. Vielmehr handelt es sich um einen jeweils anders besetzbaren Begriff, den es in demokratisch-diskursiven Kämpfen in Anspruch zu nehmen gilt.
Demokratie ist nach diesem dritten, gebräuchlichsten Verständnis also deswegen radikal, weil sie sich selbst immer wieder hervorbringen und absichern muss - jenseits dieser Selbstgenerierung besitzt Demokratie kein Fundament. Bei vielen Autor*innen zeigt sich die Radikalität auch in einem originär emanzipatorischen Anspruch, der die Veränderbarkeit der herkömmlichen Politikstrukturen repräsentativer, liberal-kapitalistischer Demokratien betont. In diesem Zu15sammenhang kommt der Unterscheidung zwischen dem Begriff der Politik (la politique) und dem Begriff des Politischen (le politique)[14] eine konstitutive Rolle zu. Es...
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