Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
James Joyce wohnte im nördlichen Dublin, das heißt nördlich des Flusses. In einer so kleinen Stadt sollte dieser Tatsache keine gesteigerte Bedeutung zukommen. Doch nach Dubliner Ansicht hatte sie das: Die Nordseite war etwas weniger und die Südseite etwas mehr bürgerlich. Joyces Eltern hatten schon in verschiedenen Vierteln gewohnt, doch zur Zeit unseres Kennenlernens war er ein Nordstädter, so wie Leopold Bloom im Ulysses. In den wenigen Jahren, seit ich in die Stadt gekommen war, hatte ich auf der Südseite gewohnt. Joyce war für mich daher ein Mann aus einer anderen Stadt.
Etliche Male nach der ersten Begegnung bei Lady Gregory hatten wir auf der Straße oder in der Nationalbibliothek Sichtkontakt, aber wir kamen nicht ins Gespräch. Joyce war reserviert und seine blauen Augen, wohl wegen seiner Kurzsichtigkeit, schienen keine Annäherung zuzulassen. Gewöhnlich suchte er die Rotunde des Lesesaals der Bibliothek zwischen acht und neun Uhr abends auf. Ich möchte nicht sagen, dass er voll Arroganz eintrat, aber er kam wie jemand herein, der zu den dort Versammelten Distanz wahren wollte. Ich war nicht neugierig auf seine Lektüre, doch einmal, als ich nach ihm an den Schalter kam, sagte ein Angestellter von einem offenbar zur Reservierung beiseite gelegten Buch: «Für Mr. Joyce». Es war ein Buch über Wappenkunde.
Dann kam die Zeit, da ich doch auf Joyce zutrat. Der Schritt wurde durch seinen vorübergehenden Aufenthalt in einem Kreis veranlasst, dem ich angehörte.
Der Patron junger Dichter - besser gesagt der Förderer der Poesie - in Dublin damals war «Æa», George William Russell, Dichter, Maler und Theosoph von großer Herzensgüte. Æ hatte eine Gruppe um sich versammelt, die sich an den Sonntagabenden in seinem Haus traf, um kürzlich erschienene oder vor der Veröffentlichung stehende Werke zu besprechen und den Gehalt der kommenden irischen Literatur zu umreißen. Er hatte bereits Gedichte von Poeten in ihren Zwanzigern gesammelt und veröffentlicht, zu denen auch ich gehörte. (Im Rückblick erscheint dies als ein Akt praktischer Nächstenliebe.) Ich erfuhr also, dass Joyce - der freilich nicht zu unserer Gruppe gehörte - mit einem Manuskript in der Hand ins Haus von Æ gegangen war und dass eine Unterredung stattgefunden hatte. Die Begegnung wurde wie alle die Literaten betreffenden Ereignisse von den Berichterstattern entsprechend dramatisiert. Æ soll zu ihm gesagt haben: «Ich weiß nicht, ob Sie ein Brunnen oder eine Zisterne sind.» Und, was seine Gedichte betraf: «Ich glaube nicht, dass Sie genug Chaos in sich haben, um eine Welt zu erschaffen.»
Da Joyce und ich gleichaltrig waren, war im Gespräch von Æ mit ihm offenbar mein Name gefallen. Diese Erwähnung empfand ich als Herausforderung. «Was für eine Art Gedichte schreibt er denn?», fragte ich meinen Informanten. «Ach, so wie deine - subjektiv-objektive Lyrik», lautete die wenig aussagekräftige Antwort.
Da nun Joyce in meinen Gesichtskreis getreten war, hielt ich es für angebracht, mich mit ihm zu messen. Das setzte ich an einem Abend in die Tat um, als wir uns in der Bibliothek trafen. Als er durchs Drehkreuz nach draußen ging, folgte ich ihm und sprach ihn auf der Treppe an.
Ich denke, er fasste meine Annäherung als eine Art Huldigung auf (was sie auch war) und war bereit, sich auf ein Gespräch mit mir einzulassen. Wir traten auf die Kildare Street hinaus und gingen weiter durch die O'Connell Street, wo wir uns seiner Wohnung zuwandten. Mittlerweile sprach Joyce von sich persönlich, oder ich sollte lieber sagen, von seiner Biografie.
Im Rückblick auf jenen Spaziergang wird mir klar, dass ich keine bessere Einführung in die Persönlichkeit und den Geist dieses einzigartigen jungen Mannes hätte bekommen können. Er sprach wohl wie eine ausgeformte Persönlichkeit zu jemand, den er für unausgeformt hielt. Er gab wie so oft in jenen Tagen einige vorgefasste Reden von sich. Wie reif er mir schon erschien!
Das Ereignis, welches das Zusammentreffen ausgelöst hatte, wurde bald von ihm abgetan, denn die Großherzigkeit von Æ erschien ihm als geistig hohl. In Anbetracht der abendländischen Bildung des einen und des Neuheidentums des anderen erschien ihr kurzzeitiges Zusammentreffen an einem Nachmittag schwer fassbar. Den weiteren Dichter unserer Stadt stellte Joyce auf ein anderes Podest. «Yeats hat wirklich Literatur geschrieben - sogar Dichtung», sagte er und ließ sich dann über eine seiner Geschichten aus, Die Anbetung der Heiligen drei Könige. Der neuen nationalistischen Bewegung, der Gaelic League, schenkte er keine Beachtung. «Ich misstraue jeglicher Begeisterung», meinte er.
Der Gedanke lag nahe - vermutlich hatte ich ihn auch -, dass ein junger Mann, der jeglicher Begeisterung misstraute, ein hervorstechender Charakter war. Und wenn Joyce in jener Zeit in Dublin so etwas sagte, machte er sich zum Häretiker oder Schismatiker, zu jemand, der den Bodensatz des Glaubens aufwühlt. «Und wenn Geschichte und die Lebensgegenwart uns versagen, liegen da nicht unter diesen Speerspitzen und goldenen Krägen drüben im Neuen Museum Anregungen jenes Zeitalters vor der Geschichte, als Kunst, Legenden und wilde Mythologien vom frühesten Irland sich aus dem Nichts erhoben? Dort allein befindet sich genug von dem Stoff, aus dem die Träume sind, um uns tausend Jahre lang zu beschäftigen.» Das hatte Yeats geschrieben, als er so alt wie Joyce gewesen war. Für uns bedeutete damals die Zugehörigkeit zu «einer Bewegung» Gefolgschaft und Aufmunterung. Das hieß, die Verzagtheit der Generation davor zu verlassen und neuen nationalen Ruhm anzustreben. Wer wäre nicht gern in einer solchen Bewegung gewesen? Und sie wurde durch Begeisterung angefeuert.
Ich versuche, eine Bezeichnung für die Art zu finden, wie der junge Mann an der Straßenecke sagte: «Ich misstraue jeglicher Begeisterung.» Das geschah nicht mit jugendlichem Überschwang. Es klang eher wie ein singuläres Veto nach einer ermüdenden Auseinandersetzung.
An derselben Straßenecke sprach Joyce von seinen Eltern auf eine Art, die der würdevollen Rolle, die er an jenem Abend spielte, nicht abträglich war. Und nach was sah diese Rolle aus? Nach einem Mentor vielleicht. Joyce war ein Solitär in seinem Denken, doch er war erfreut, einen Jünger zu haben. Er muss es wohl als notwendig empfunden haben, diesem möglichen Jünger einen Teil seines Lebens zu offenbaren. Wie dem auch sei, dazumal präsentierte er sich als Spross einer bemerkenswerten Familie. Sein Vater, der aus Cork nach Dublin gekommen war, hatte zuletzt einen Posten als Steuereinnehmer gehabt. Er hatte ihn verloren und sein Vermögen in ausgelassener Gesellschaft verjubelt. Joyce verfiel ein wenig in einen Predigerton: «Was ich hatte, verlor ich; was ich gab, habe ich. Wenn mein Vater das sagen konnte, braucht er nicht zu bereuen, was aus ihm geworden ist.»
Der Vater von Joyce, John Stanislaus Joyce, war wohlbekannt in den Bars, den Restaurants und auf den Rennbahnen Dublins. Sein Ansehen in der Stadt war so, wie es eben einem Mann, der seine Existenzgrundlagen in ausgelassener Gesellschaft verplempert hat, in jedem beliebigen lockeren sozialen Milieu zukommen kann. Er verfügte über eine gute Stimme und setzte sich zuweilen in einem Pub ans Klavier, klimperte drauflos und sang ein Volkslied oder eine Opernarie. Zur Zeit meiner ersten Begegnung mit James Joyce machte eine kennzeichnende Geschichte über John Stanislaus die Runde. Sie trägt sich im Regen zu, als er und ein Kumpan eine Droschke besteigen, um zum Pferderennen zu fahren. John Stanislaus flucht. Der Kumpan, ein frommer Mann, weist ihn zurecht: «Weißt du denn nicht, dass Gott die Welt ersaufen lassen kann, John?» «Das könnte er, wenn er sich zu einem verdammten Narren machen möchte.» Das Komische an der Geschichte lag im salbungsvollen Ton des einen und im knorrigen Klang des anderen.
Doch an jenem verheißungsvollen Abend blieb mir nicht der junge Joyce, der sich vom Rest von uns absonderte, in Erinnerung, auch nicht der Sohn eines stadtbekannten Müßiggängers, sondern der Joyce, der wunderschön gedrechselte Gedichte schrieb. Ein Dichter hatte zu jener Zeit seine Gedichte auswendig zu kennen und auch bereit zu sein, sie vorzutragen. Ich hatte Æ, von Vokal zu Vokal schaukelnd, deklamieren hören:
Die Säume geschäumt mit Amethyst und Rubin,
Verwelkt aufs neu die alte blaue Blume des Tags.
Und ich hatte Yeats in echten Singsang verfallen hören:
Oh Frauen, die ihr einst an geweihten Geländern kniet,
Wenn dann meine Liebeslieder euch stören im Gebet.
Joyce sprach seine Verse entschieden und exakt, doch mit einer natürlich schönen Stimme, die von einer Gesangsausbildung zeugte. Die Wirkung war persönlicher als bei Æ oder Yeats. Das war Joyce in einer...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.