Schweitzer Fachinformationen
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Er kniete sich hinter das zerschlagene Fensterbrett, den alten Mann an seiner Seite. Hoch oben schnurrte langsam eine viermotorige Tupolev über den Hafen. Das Hotel war alt, noch vor der ersten Revolution für Touristen erbaut. Eine Rakete hatte ein gut Teil des Dachs fortgerissen; der Gang hinter ihnen führte ins Leere, auf einen kuriosen, steilen Längsschnitt durch Zimmer; die Möbel standen noch an ihrem Platz, die Bilderrahmen hingen schief. Jenseits des Boulevards lagen dunkel die Dächer ausgebrannter Wohnhäuser; unten flitzten uralte Chevys und ein paar russische Zweitürer zwischen toten Ampeln daher. Ganz am Ende des Boulevards sah er das weiße Hochhaus mit dem Wald von Antennen, grau im schwindenden Sommerlicht.
«Das da ist die Radiostation?», fragte Jorge Ortega.
«Das hohe», sagte der alte Felipe.
«Daran erinnere ich mich gar nicht.»
«Ist auch neu. Die alte ist weiter hinten, unterhalb vom Baseballstadion.»
Jorge breitete den Azetatstadtplan auf dem Teppich aus. Er war vor zehn Jahren nach einem Aufklärungsflug gezeichnet worden und ziemlich ungenau. Santa Rosa war eine Kleinstadt, unbedeutend, am anderen Ende der Insel gelegen; deswegen hatte die Firma sie - und ihn - wohl ausgesucht, nahm Jorge an.
Der alte Mann sah ihm über die Schulter und murmelte vor sich hin. Er war groß, aber stämmig. Er trug eine marineblaue Detroit-Tigers-Windjacke, ausgebeulte Jeans und abgewetzte Arbeitsschuhe. Man sah ihm an, dass er einmal Säufer gewesen war, es aber überwunden hatte. Er atmete pfeifend, von der Kletterei die Feuerleiter hinauf und von seinen Zigarillos. Jorge erinnerte er an den Professor in El Salvador - die gleiche leicht gebeugte Haltung, die gleiche beiläufige Pflichterfüllung. Armer Kerl, der Professor. Jorge wollte nicht an El Salvador denken, vor allem nicht jetzt. Es war erst ein Jahr her, aber ihm kam es so vor, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Damals, als er noch an etwas glaubte. An was? Und warum? Es gab keinen Grund.
Er kappte den Gedanken und konzentrierte sich auf die Station, überließ seiner kostspieligen Ausbildung in Langley die Regie. Ziel, Strategie, Taktik. Zerlege es, setze es zusammen. Zuerst mussten sie einen Zugang finden.
«Von hier aus sieht man den Eingang nicht.»
«Hinter den Bäumen dort», sagte der Alte. «Über den Türen hängt eine Markise, gegenüber liegt ein Park.» Er sprach gewunden, einen entlegenen Bauerndialekt, und Jorge musste innehalten, um die Sätze zu verstehen.
«Ich erinnere mich.»
«Auf der anderen Seite gibt es einen zweiten Eingang und auf der Rückseite einen Lastenaufzug, den wir für den Rückzug nehmen können.»
An den Rückzug zu denken war voreilig, aber selbst Jorge fing schon an, sich den Aufzug vorzustellen. Ein Fehler. Ein Schritt nach dem anderen.
«Können wir heute Abend noch mal herkommen und uns das genauer anschauen?»
«So gut wie geschehen.»
«Die Wachen schlafen nicht in dem Gebäude?»
«Sie sind im Arsenal stationiert, unter Leutnant Clemente.» Der Alte zeigte hin, sorgsam darauf bedacht, nicht zu nahe ans Fenster zu kommen. Gerüchten zufolge hatte die Regierung überall in der Stadt Heckenschützen postiert.
Jorge nahm sein Nachtsichtgerät aus dem mattierten Stahlgehäuse und schaltete es ein. Es summte wie ein Blitzlicht, und die Umrisse der Gebäude schimmerten strahlend grün. Castro war seit fast einem Jahr tot, und an allen Fassaden hingen zerschlissene schwarze Fahnen, selbst an den halbierten und zerstörten. Die Meeresbrise versetzte die Stoffbahnen in trügerische Bewegungen, die zu ignorieren Jorge sich nicht leisten konnte. Er stellte das Gerät am geriffelten Knopf scharf, bis er durch die Bäume Bruchstücke von Buchstaben auf der Markise erkennen konnte. Er meinte, eine Stiefelspitze, das gestreifte Bein einer Uniformhose zu sehen. Dann richtete er das Fernglas auf die Straßenseite gegenüber; die Welt verschwamm und wurde wieder scharf. Vor dem Arsenal standen Straßenteiler aus Beton, wie vor dem Weißen Haus.
«Im Wachhäuschen ist niemand.»
«Sie sind da», versicherte ihm Felipe. «Clemente hält sie bedeckt.»
«Du hörst dich an, als hättest du Angst vor ihm, hombre.»
«Mach dich nicht lustig über mich. Ich habe die anderen gesehen, und ich habe Clemente gesehen.»
Jorge verfolgte einen grauen Saracen-Panzerwagen, dessen Geschützturm sich drehte, den Boulevard entlang. Auf dem Gehsteig hielt sich eine Frau ihre Handtasche vors Gesicht und rannte in einen Hauseingang. «Wie viele schlafen im Arsenal?»
«Sechzehn, ohne den Unteroffizier. Der geht nachts nach Hause zu seiner Frau.»
«Und in der Flughafenkaserne?»
«Hundertfünfundzwanzig Mann, die Hälfte davon Berufssoldaten.»
«Wie viele sind wir?»
«Über hundert, aber in kleinen Gruppen, und unsere Waffen sind Schrott. Wie viele Männer brauchst du?»
«Das sage ich dir, wenn ich mir die Station genauer angesehen habe. Um das Reinkommen mache ich mir keine Sorgen, eher ums Rauskommen.»
«Glaubst du wirklich, dass es dazu kommt?»
Jorge Ortega suchte die Straße ab, dann wieder das Arsenal. Am Rand der Stadt erhoben sich die Flutlichter des Baseballstadions wie riesige Fliegenpatschen. In der Ferne startete eine uralte MiG donnernd vom Rollfeld. «Nein», sagte er, «aber schön wäre es.»
Stetig stiegen sie den Berg hinauf, der alte Felipe mit seinem Gehstock vorneweg. Palmzweige und die wächsernen Wedel der Bananenpflanzen nickten, doch sie beide erreichte kein Lüftchen. Der Dschungel fühlte sich genauso an wie in El Salvador - die Luftfeuchtigkeit, der faulige Gestank -, und Jorge gefiel das nicht. Aber er hielt es aus, solange er nicht Catalina vor Augen hatte. Solange er sich nicht erinnerte.
Er konnte keinen Pfad erkennen. Die Träger seines Rucksacks schnitten ihm in die Schultern; es galt die Regel, dass diejenigen, die aus der Stadt kamen, so viel mitbrachten, wie sie nur konnten. Felipe schleppte in seinem Rucksack neben Jorges Ausrüstung noch Weizen- und Maismehl und ein paar Dutzend Schachteln Munition mit. Jorge hatte das PRC-60-Funkgerät in seinem Rucksack; der Plastiksprengstoff steckte in einem ausgehöhlten Satz Batterien.
Sie stießen auf ein Rinnsal von Bach, und der Alte setzte seine Stiefel platschend zwischen die bemoosten Steine und führte ihn das Bachbett hinauf. Die Bergwand wurde immer steiler, bis der Bach schließlich am Fuße einer senkrechten Felswand aufhörte, wo das Wasser auf schwarzes Gestein stürzte und ihnen ins Gesicht spritzte. Felipe atmete japsend, aber sein Gesicht war noch das alte, überhaupt nicht rot, und er schwitzte auch nicht wie Jorge. Er setzte seinen Rucksack auf einem Felsen ab, legte die gewölbten Hände zusammen und trank.
«Warte hier», sagte er. «Ich gebe ihnen das Zeichen.»
«Wie weit ist es noch?», fragte Jorge. Die Vorstellung, schutzlos mitten im Dschungel zu hocken, gefiel ihm nicht. Das hatte er schon allzu oft getan, in Guatemala, Kolumbien, Nicaragua. Nach den Marines hatte er sich bei der Firma beworben, in der Hoffnung, genau hier zu landen, hatte Castros schwindende Gesundheit im Auge behalten wie ein Dieb, der ein Haus beobachtet. Doch Castro hielt durch, und mit jedem neuen Einsatz nahm der Job eine Gleichförmigkeit an, die Jorge hasste, und sei es nur, weil sie seine eigentlichen Ambitionen abstumpfen ließ. Selbst die Gefahr motivierte ihn nicht länger, sondern bewies nur, dass seine Vorgesetzten das Risiko für ihn unterschätzt hatten und es ihm überließen, ihre Papierfehler mit Blut zu korrigieren. Erst vor ein paar Minuten waren sie an den dampfenden Haufen einer Kavallerieeinheit vorbeigekommen. Die Fidelistas zogen Bauern ein, die die Berge von Kindheit an kannten; das erfüllte Jorge nicht gerade mit Zuversicht.
«Nicht mehr weit», sagte Felipe. «Ruh dich aus. Ich werd dich nicht verraten.»
«Ich weiß, tío.» Onkel.
Er sah den alten Mann im Unterholz und im Lianengewirr verschwinden. Wenn er ganz ehrlich war, traute er Felipe nicht, denn noch bevor er Miami verließ, um in den Krieg zu ziehen - sogar schon vor Catalina und dem Professor -, hatte Jorge Ortega...
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