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Kapitel 1
Nastig
Stig warf einen Blick auf sein Telefon, während das Wasser für den Kaffee kochte. Er hatte eine Nachricht von Ulrik Haagerup bekommen, einem Künstler Ende fünfzig, der seit Jahren nur Ölbilder malte, die Kreise in verschiedenen Farben und Größen zeigten. Seine Werke waren beinahe unverkäuflich, weshalb Stig ihm vor ein paar Wochen vorsichtig nahegelegt hatte, auch um seiner selbst willen, das Repertoire zu erweitern. Allem Anschein nach hatte er bei Ulrik damit eine heftige Krise ausgelöst; die Nachricht war um 3.47 Uhr abgeschickt worden.
»Habe SEHR VIEL nachgedacht über das, was du gesagt hast .« Aber damit endete die Nachricht auch schon. Er schrieb weder, zu welchem Schluss er gekommen war, noch, warum er diese Nachricht mitten in der Nacht abgeschickt hatte.
Stig goss das kochende Wasser in die Tasse mit dem Nescafé und ging zum Rauchen in den Wintergarten an der hinteren Treppe. Elisabeth saß bereits mit ihrem Laptop dort. Sie hatte geduscht und war bereit, zur Arbeit zu fahren.
Er zündete sich eine Zigarette an und blickte in den Himmel. Die Sonne färbte die Wolken hellrot und orange. Es war kalt. Er drückte das Fenster etwas weiter zu.
»Sie haben noch einmal Kontakt mit mir aufgenommen«, sagte sie.
Stig sah sie wortlos an.
»Das klingt wirklich absolut faszinierend, Stig.«
Stig sagte noch immer nichts. Irgendein Forschungszentrum versuchte Elisabeth abzuwerben, aber das Institut lag auf Lolland, und wer in dem Institut arbeiten wollte, musste dort auch wohnen. Elisabeth drehte den Laptop, sodass er einen Blick auf den Bildschirm werfen konnte.
»Guck dir das mal an, Stig. Sieht doch echt toll aus, oder?« Sie versuchte, Begeisterung auszudrücken, aber in ihrem Blick lag eine Unruhe, eine Nervosität, wie er sie in den fünfundzwanzig Jahren, die sie jetzt zusammenwohnten, nur selten gesehen hatte. Auf dem Bildschirm war ein idyllisches Bauernhaus zu sehen.
»Nicht schon wieder«, sagte Stig ärgerlich und sah noch einmal gen Himmel.
Warum hörte sie mit diesem Scheiß nicht endlich auf? Er musterte sie. Ihr Mund bewegte sich, aber Stig hörte nicht zu. Er wusste ohnehin, was sie sagte. Hatte das alles schon oft gehört. Das Morgenlicht ließ sie alt aussehen, aber sie war ja auch wirklich nicht mehr jung. Ihr Mund war durch die Falten, die sich vom Mundwinkel nach unten zogen und Kinn und Wangen wie bei einem Nilpferd trennten, irgendwie breiter geworden. Sie war nicht dick. Nein. Sie gehörte gewiss nicht zu den Frauen, die mit dem Alter fett wurden. Eher im Gegenteil, ihre Beine waren knochig wie bei einem alten Pferd. Warum wollte sie aufs Land ziehen? Da wohnten doch nur Leute, die irgendwie krank waren, degeneriert, ja gefährlich.
»Das könnte richtig toll werden, meinst du nicht auch?«, fragte sie mit angestrengtem Lächeln.
»Aber Schatz, das geht doch nicht. Wie soll ich das denn machen?«, erwiderte Stig und lächelte etwas herablassend.
»Warum soll das denn nicht gehen?«
Stig sah ihr in die Augen, sie hielt seinem Blick aber stand. Es machte ihm langsam Sorgen, dass sie immer wieder mit dieser Sache ankam. Es war jetzt bestimmt schon das zehnte Mal, dass sie diesen Job ansprach. Sie schien es wirklich ernst zu meinen. Stig wusste, dass er sich alle Mühe geben musste, damit der Kelch, von Kopenhagen aufs Land zu ziehen, an ihm vorbeiging. Und nicht einfach nur aufs Land, sondern nach Lolland.
»Das geht aus vielen Gründen nicht«, begann Stig und reihte die Argumente im Kopf auf. Er lächelte noch einmal, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Sache einfach abwegig war und beruflich für ihn nicht infrage kam.
»An erster Stelle steht natürlich, dass ich dann die Galerie aufgeben müsste.«
Elisabeth lehnte sich enttäuscht zurück und sah aus dem Fenster. Sie kannte seine Argumente, hatte aber gehofft, dass er sich die Sache noch einmal überlegt hätte.
»Du kannst doch pendeln. Außerdem musst du ja nicht jeden Tag in der Galerie sein. Maximal ein paar Tage pro Woche«, fuhr sie fort.
»Es ist wichtig für das Geschäft, dass ich in Kopenhagen bin«, sagte Stig und nahm einen tiefen Zug von der Zigarette. »Wir haben doch schon mal darüber gesprochen. Ich begreife nicht, dass du das nicht verstehst.«
»Ich verstehe das wirklich nicht. Du bist achtundfünfzig, Stig.« Sie drückte die Zigarette aggressiv im Aschenbecher aus.
»Es wirkt völlig lächerlich und blöd, immer auf diesen dummen Vernissagen herumzustehen. Die haben doch keinerlei Bedeutung. Früher vielleicht, aber heutzutage ist das doch vertane Zeit. Willst du wirklich einer dieser Alten werden, die am Rollator durch Kopenhagen zöckeln?«
»Ja, das will ich«, antwortete Stig trotzig. »Und was ist mit Emma? Vielleicht denkst du auch mal an sie?«
»Was soll mit ihr sein? Sie ist einundzwanzig.«
»Du weißt ganz genau, wie ich das meine. Es ist wichtig, dass wir dort sind, wo sie ist!«
Elisabeth sah ihn müde an und klappte den Computer zu.
Er hatte gewonnen. Sie zündete sich eine weitere Zigarette an und sah resigniert aus dem Fenster, als sähe sie ihr Scheißleben in Großaufnahme irgendwo über den Dächern der Nachbarhäuser vorbeiziehen. Nur eine Frau Mitte fünfzig, die ein Kind geboren und großgezogen und ihr ganzes Leben gearbeitet hatte, konnte auf diese Art und Weise aus dem Fenster blicken, wenn sie sah, wie ihr das Leben durch die Finger rann, dachte Stig. Angestrahlt vom Morgenlicht wirkte ihr Gesicht wie aus einem Bild von David Hockney kopiert. Stig hatte keine Angst, dass sie ihn verlassen würde, denn trotz all ihres Missmutes spürte er auch den Respekt vor seiner Entscheidung. Sie war traurig, weil ihr mit der Zeit immer deutlicher wurde, dass aus dem Umzug nichts werden würde und sie das akzeptieren musste. Ihr Mund bewegte sich wieder, und Stig beobachtete ohne zuzuhören, wie ihre Lippen Worte formten und die Haut ihrer Wangen vibrierte.
». also sag nicht, dass das was mit Emma zu tun hat«, schloss sie und ging zur Tür. »Dabei wäre es bestimmt toll für sie, uns dort besuchen zu können. Vielleicht hätte sie sogar Lust, mit uns dorthin zu ziehen.« Elisabeth verschwand in der Wohnung.
»Mann, sie ist einundzwanzig! Die will doch nicht bei ihren Eltern wohnen!«, rief Stig ihr hinterher.
Ärgerlich zog er an seiner Zigarette. Die Packung lag im Fensterrahmen. Darauf ein Bild von einem Säugling in einem Aschenbecher.
Er betrachtete seine langen, dünnen, übereinandergeschlagenen Beine. Die Haut war gelblich bleich, und unter den Haaren waren zahllose Knötchen, über die er sich keine Gedanken machen wollte. Die Haut eines Menschen verändert sich mit den Jahren. Es tauchen dabei immer wieder seltsame Sachen auf. Wie bei einem Bild, das langsam entsteht.
Er hatte nicht vor, sich beruflich zurückzuziehen. Warum auch? Die Arbeit als Galerist war physisch nicht gerade anstrengend, außerdem hatte er nur diese Arbeit. Andererseits hatte Elisabeth vielleicht wirklich recht, er musste nicht unbedingt in der Stadt bleiben. Im Grunde war das nur eine alte Gewohnheit, und vielleicht würde es Emma tatsächlich guttun, aufs Land zu ziehen.
Er drückte die Zigarette aus und zündete sich eine neue an. Es war 8.22 Uhr. Er hatte alle Zeit der Welt.
Noch einmal musterte er seine Beine. Sie sahen wirklich nicht wie Menschenbeine aus. Waren viel zu lang und ließen den Morgenmantel kurz wirken. Eher erinnerten sie an die Beine einer gehäuteten Gazelle. Er sah aus wie ein kolumbianischer Drogenbaron oder ein Pornofilmregisseur in L.A. Dabei war er gar nicht mehr so dünn wie in seiner Kindheit in Roskilde.
Im Sommer mit Badehose hatte er damals so grotesk gewirkt, dass die Leute in der Stadt sich Sorgen gemacht hatten, erst über ihn und dann über die Menschheit als Ganzes. Sein knochiger Körper hatte Erinnerungen an die Grausamkeiten geweckt, die die Nazis den Juden angetan hatten. An all das Schreckliche, das noch heute in den Kriegen überall auf der Welt passierte, und damit daran, dass der Mensch im Grunde schlecht war.
Stig hielt sich als Jugendlicher die meiste Zeit in seinem Zimmer auf, hörte Musik und spielte Gitarre. Die Songs der Sechziger faszinierten ihn Hendrix, Beatles, Stones, Kinks, The Who, Pink Floyd, all das alte Zeug. Später dann Slade, Sweet, Alvin Stardust, Bowie, T.Rex und Roxy Music. An den Wochenenden arbeitete er an einer Tankstelle, ansonsten kam er nicht viel raus.
Mit achtzehn, im Frühling 1981, zog er nach Kopenhagen in die Wohnung seines Onkels Knud. Sie lag in der Griffenfeldsgade, damals der reinste Slum. Als er im Umzugsbulli saß und aus der Einfahrt rollte, konnte er sich nicht des Gedankens erwehren, dass seine Mutter erleichtert wirkte. Sie blieb jedenfalls nicht draußen stehen und winkte, als der Wagen davonfuhr.
Mit einem Mal wohnte Stig in Nørrebro, ohne auch nur irgendjemanden in Kopenhagen zu kennen. Er arbeitete Teilzeit in einem Kindergarten, es belastete ihn aber mehr und mehr, dass er keine Freunde hatte, mit denen er einfach abhängen konnte. Er hatte damit gerechnet, dass sich das schon entwickeln würde, wenn er erst in der Großstadt war. Irgendwie war er davon ausgegangen, dass die Leute in der Stadt weniger beschränkt wären als in der Provinz. Ein Irrtum, der ihm zunehmend zu schaffen machte. Wenn er abends vor dem Fernseher aufgewärmte Fertignahrung aß und das blaue Licht auf sein blasses Gesicht und die kahlen, weißen Wände fiel, überkam ihn eine Einsamkeit, die sich mit der Zeit zu einer richtigen Paranoia auswuchs. Er bekam Wahnvorstellungen, fürchtete, dass jemand die Wohnungstür eintreten und ihn abschlachten könnte. Wenn er von der Arbeit oder vom Einkaufen nach Hause kam, suchte er...
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