Schweitzer Fachinformationen
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Das Treppenhaus
Als die Bautätigkeiten am Berg auf ihrem Höhepunkt waren, unterschrieb ein junger Architekt namens Nicolai Vedel-Nielsen einen Kaufvertrag für ein Stück Bauland auf der Nordseite des Mount Kopenhagen, auf dem später die attraktivsten Wohnungen im Großraum Kopenhagen entstehen sollten. Das Besondere des Gebäudes und der eigentliche Grund, warum die Reichen der Stadt sich auf den Wartelisten für diese Wohnungen tummelten, waren weder die großartige Aussicht über Kopenhagen und den Øresund noch die reich ausgeschmückten, riesigen Wohnungen oder die großen, individuell gestalteten Terrassen, sondern das ganz spezielle Treppenhaus. Es steigerte die Freude, ins Gebäude und die Wohnungen zu kommen, ließ die Menschen ruhiger, sicherer und tiefer schlafen und war damit ein wahrer Pluspunkt für die gesamte Immobilie. Ohne dieses Treppenhaus hätten sich die Appartements nicht von denen in anderen Luxusimmobilien am Berg unterschieden.
Kaum dass die ersten Striche gezeichnet waren, hatte Nicolai Vedel-Nielsen das sichere Gespür gehabt, dass das Treppenhaus eine entscheidende Rolle für sein Projekt spielen sollte. Er hatte über mehr als ein Jahr hinweg Eingänge und Treppenhäuser im ganzen Land studiert und umfangreiches Bildmaterial gesammelt.
Ausgerechnet ein Besuch bei einer Exfreundin, die in einem ebenso traurigen wie verfallenen Sozialbau in Esbjerg wohnte, war von entscheidender Bedeutung. Von diesem Tag an nahmen die Dinge Fahrt auf, und wenige Wochen später wurde mit dem Bau begonnen.
Die Bauzeit betrug zwei Jahre, und das Treppenhaus wurde als Letztes fertiggestellt. Dabei legte Nicolai Vedel-Nielsen selbst Hand an.
Der Haupteingang führte in ein attraktives Foyer aus Marmor und Rosenholz, in dem ein uniformierter Wachmann rund um die Uhr dafür sorgte, dass nur die Hausbewohner und deren legitimierte Gäste Zutritt hatten. Die Einrichtung des Foyers war bis auf ein kleines Detail vergleichbar mit anderen luxuriösen Appartementhäusern, nur dass es hier ganz hinten eine kleine schäbige Tür gab. Diese Tür zog die Aufmerksamkeit fast magisch auf sich, weil sie im Gegensatz zu allem anderen im Foyer aus billigen Materialien hergestellt worden war und weil man, wenn man nahe genug dran war, sehen konnte, dass auf dem zersprungenen Mattglas der Scheibe, die den oberen Teil der Tür ausmachte, »Scheiß Hure« stand. Auf der linken Seite der Tür waren die Klingeln zu den jeweiligen Wohnungen angebracht. Die meisten Namen waren nicht mehr zu erkennen. Anscheinend hatte jemand mit einem Feuerzeug einen ganzen Streifen abgefackelt. Durch diese Tür kam man ins Treppenhaus.
Die Stufen, die Wände und die Decke waren aus weißem Beton, das Geländer aus einem einfachen Stahlband, das in einem traurigen, matten Rot gestrichen worden war. Auf jedem Stockwerk und neben jeder Wohnungstür fand sich ein verschlossener Abfallschacht. Beinahe an jeder Wand prangten Graffiti und Tags, verschiedene Kürzel und Nachrichten, die Nicolai persönlich aufs Genaueste von den Fotos kopiert hatte, die er in Esbjerg gemacht hatte. Ein Teil der Texte war auf Arabisch. Außerdem hatte Nicolai als Letztes vor der Einweihung Türen und Wände zerkratzt und das Gehäuse des Sicherungskastens im Keller mit einem Baseballschläger zertrümmert. Als Nicolai mit seiner Arbeit fertig gewesen war, hatte niemand mehr einen Unterschied zwischen dem Treppenhaus in Esbjerg und der Kopie am Mount Kopenhagen erkennen können.
Die Wohnungen wurden ihm in weniger als zwei Wochen aus den Händen gerissen, und nach drei Jahren war nicht einer der Bewohner ausgezogen. Einmal pro Woche wurde das Treppenhaus mit neuen Graffiti und Kritzeleien an den Türen versehen. Des Weiteren sorgte jemand dafür, dass Glasscherben herumlagen und es immer wieder neue Brandflecken gab. Auch diese Änderungen waren genaue Kopien der realen Veränderungen in dem Treppenhaus in Esbjerg. In dem Gebäude am Mount Kopenhagen herrschte eine angenehme Atmosphäre, die Bewohner begannen, sich abends im Treppenhaus zu treffen, zu plaudern und ein Glas Wein zu trinken, während sie die Tags zu deuten versuchten. Das Treppenhaus hatte etwas Exotisches, Fremdes, Aufregendes, das sie in ihren Bann zog, sie irgendwie aber auch beruhigte und ihnen ein Gefühl von Zuhause gab.
Ein emeritierter Archäologieprofessor, Ole Christensen, der im vierten Stock wohnte, erzählte eines Abends, dass er einen längeren, arabischen Schriftzug hatte übersetzen lassen. Er war mit einem Edding an die Wand zwischen dem zweiten und dritten Stock geschrieben worden, und bei jedem Vorbeigehen hatte er sich nach dem Sinn gefragt.
»Der Text erwies sich als ein Zitat von einem gewissen Sultanhussein Tabandeh«, erklärte Ole Christensen und las seinen Nachbarn dann die Übersetzung vor:
»Die Ungläubigen befinden sich auf einem Entwicklungsstadium gleich dem der Tiere. Sie müssen als Ausgestoßene betrachtet werden. Sie gehören nicht zum Kreis der Menschen. Ihre Existenz muss als schädlich für die Menschheit angesehen werden. Juden und Nazarener stehen etwas oberhalb der Gottlosen. Ihr Glaube ist aber nicht auf dem Niveau des Islam. Sie folgen anderen Regeln als den Gesetzen des Islam. Sie befinden sich in einem niederen Stadium und können deshalb nicht mit den Muslimen gleichgestellt werden. Der Islam teilt den Nichtmuslimen ein niedrigeres Existenzstadium zu. Wenn ein Muslim einen solchen Nichtmuslim tötet, darf gegen ihn keine Todesstrafe ausgesprochen werden, da sein Entwicklungsstadium höher als das seines Opfers ist. Wer den Islam verlässt, stellt sich auf eine Ebene mit den Tieren und hat sein Leben verspielt. Ein Wechsel der Religion ist nur von einem niederen zu einem höheren Stadium möglich, vom Christentum zum Islam.«1
Nachdem er die Zeilen vorgetragen hatte, blieb es einen Augenblick still. Dann bemerkte Else Smith Eliasen, eine pensionierte Anwältin aus dem siebten Stock, wie erstaunlich es sei, dass die Akustik in ihrem Treppenhaus genau wie die in Esbjerg sei. Kurz danach sagte der noch aktive Immobilienmakler Birger Paulsen aus dem elften Stock mit lauter, klarer Stimme in gebrochenem Dänisch: »Jetzt halt dein fucking Maul, du verficktes Dänenluder!« Alle lachten laut.
Ein paar Monate später wachten die Bewohner des Gebäudes durch eine Serie lauter Geräusche auf, die aus dem unteren Bereich des Treppenhauses zu kommen schienen. Kurz darauf waren alle im Erdgeschoss versammelt, die meisten noch in Nachthemden oder Morgenmänteln. Einige waren geistesgegenwärtig genug gewesen, eine Tasse Kaffee oder Tee mitzunehmen. Die Bewohner standen im Kreis und starrten auf eine Stelle vor der Tür. Niemand sagte etwas. Vor ihnen auf dem Terrazzoboden war eine dunkelrote Blutlache, und in der Tür waren vier deutlich erkennbare Einschusslöcher. Das matte Glas war zersplittert, und die Scherben lagen im Blut. Von den untersten Treppenstufen waren Betonstücke abgeplatzt, dort waren Kugeln eingeschlagen. Einige Projektile lagen auf dem Boden. Eine Blutspur führte nach oben, was vermuten ließ, dass der Verwundete sich blutend die Treppe hinaufgezogen hatte.
Ole Mathiesen, ein pensionierter Oberarzt, der mit seiner Frau Mimi Mathiesen im fünften Stock wohnte, war der Erste, der das kollektive Schweigen brach. Er sagte, dass er und seine Frau beim Runtergehen bemerkt hätten, dass die Blutspur im dritten Stock endete, dort wohnte in Esbjerg ein gewisser S. Khan.
Wieder folgte Schweigen, bis der frisch verwitwete Oberstleutnant a. D. Ove Ringgaard aus dem zweiten Stock mit der Analyse fortfuhr, während er die Einschusslöcher in der Tür studierte:
»Die Schüsse wurden aus einer automatischen Waffe abgefeuert. Vermutlich aus nächster Nähe.«
Schweigend untersuchte er den Tatort.
»Es sieht aus, als hätte das Opfer zu fliehen versucht, es wurde dann aber wohl getroffen, als es gerade an der Tür zum Treppenhaus war.«
Ringgaard öffnete die Tür, um sich die Einschusslöcher genauer anzusehen. Die alten Tags waren übersprüht worden. Quer über der Tür stand nun: »Esbjerg Tigers«. Mimi Mathiesen fragte, ob das wohl der Täter geschrieben hatte. Else Smith aus der siebten Etage untersuchte die Tür mit dem Vergrößerungsglas, das sie extra mitgebracht hatte, und schlussfolgerte:
»Ja, ich glaube schon. Die Worte sind auf jeden Fall nach der Schießerei geschrieben worden.«
»Bandenkriminalität«, sagte Ringgaard.
Er ging zur Treppe und sah sich die dortigen Einschussstellen an.
»An der Tür kann man erkennen, dass mindestens vier Schüsse abgefeuert wurden, aber nur zwei davon haben die Treppe getroffen. Wir können also wohl davon ausgehen, dass das Opfer von zwei Kugeln getroffen wurde. Nach der Menge des Blutes zu schließen, ist er oder sie lebensgefährlich verletzt worden.«
Ole Mathiesen hatte die Blutspur nach oben untersucht, während Ringgaard gesprochen hatte, und ergänzte:
»Ja, aus ärztlicher Sicht kann ich das nur bestätigen. Vermutlich wurde das Opfer an der Halsschlagader getroffen. Mit einer solchen Verletzung stirbt man innerhalb von fünfzehn Minuten am Blutverlust. Da die Spuren an der Wohnung enden und auch keinerlei Spuren von irgendwelchen Sanitätern zu sehen sind, müssen wir wohl vom Schlimmsten ausgehen.«
»Dann reden wir hier also von Mord«, schloss Birger Paulsen. Seine Stimme hallte von den Wänden wider.
Der Rest des Tages verging mit der Untersuchung der näheren Umgebung, nur unterbrochen von einer Pause, in der die...
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