Schweitzer Fachinformationen
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Nur wenn du wagst, Dinge zu tun,
die du bisher nicht beherrscht hast, wirst du wachsen.
Chinesen stehen früh auf. Sehr früh. Zuerst rührt sich der Vogel unserer Nachbarin, ein schwarzer Beo, der ni hao sagen kann, das ist meist so gegen fünf. Es folgt der Recyclingmüllmann, der mit seiner aus zwei blechernen Topfdeckeln selbstgebastelten Klingel auf seinem Fahrrad um unser Haus scheppert und Pappe, Glas und alles irgendwie Wiederverwertbare sammelt. Dann, so gegen halb sechs, erwacht der Rest der Nachbarschaft. Spätestens um sechs herrscht reger Betrieb auf den Straßen, und die Chinesen widmen sich ihrer Lieblingsbeschäftigung: Essen. Das Frühstück wird in der Regel auf der Straße eingenommen, im Gehen, auf dem Weg zum Bus oder zur U-Bahn. Dafür kauft man im Supermarkt oder in den kleinen Kiosken, die es an jeder Ecke gibt, Baozi (sprich: Baodse), gedämpfte, farblose Brötchen mit Fleisch-, Gemüse- oder einer klebrigen, süßen Bohnenpastenfüllung. Sie werden in einem kleinen Plastiktütchen gereicht, falls man beim Essen kleckert. Ich habe es noch nie geschafft, ein Baozi zu essen, ohne zu tropfen, denn die Füllung ist mal mehr, mal weniger flüssig und immer kochend heiß. Die Brötchen schmecken nach rein gar nichts, die Füllung variiert von Kiosk zu Kiosk. Jedenfalls sind sie billig (20 Cent pro Stück) und machen satt.
Spätestens ab sechs Uhr morgens also sind die Bürgersteige voller Menschen, die ihre verschlafenen Gesichter in dampfenden Plastiktüten vergraben. Der Preis für das frühe Aufstehen: Mittags, spätestens um halb eins, schlafen alle wieder ein. Egal wo. Unser Recyclingmüllmann auf dem Müllhaufen seines Fahrradanhängers, Bauarbeiter auf Steinhaufen, Köche in der Küche, Männer vor leeren Suppenschüsseln im Restaurant, Zigarettenverkäufer am Kiosk, Melonenverkäufer auf Melonen, Rentner im Klappstuhl am Straßenrand. Selbst bei Meetings im Büro sind Zehnminutennickerchen am Konferenztisch gang und gäbe.
Auch ich bin heute früh aufgestanden, denn ich habe eine Mission: Amélie will unbedingt all ihren Freunden in Deutschland Lernstäbchen schicken. Sie isst inzwischen ziemlich gut damit, vor allem Guilings Shrimps. Also haben wir Briefe geschrieben, Lernstäbchen gekauft und in Kuverts gepackt; und nun stehe ich auf dem Postamt am Ende einer circa 50 Meter langen Menschenschlange. Die Hälfte der Leute trägt Schlafanzug. Ich fühle mich blendend und abenteuerlustig und sehr selbstständig. Gerade habe ich Amélie mit dem Fahrrad in der Kita abgeliefert, habe zum ersten Mal eine Kreuzung auf Chinesisch überquert (Ampel missachtet, in die Mitte gefahren, abgewartet, in der Nase gebohrt, eine freie Lücke genutzt und mich mit viel Klingeln quer hinübergekämpft). Und ich habe sogar das Postamt allein gefunden.
Als ich nach 45 Minuten endlich an die Reihe komme, packe ich meine Briefe aus und simuliere mit den Armen ein Flugzeug und mache dabei Pfeifgeräusche. Der Postbeamte sieht mich fassungslos an, dann brüllt er los. Ich zucke mit den Schultern, er brüllt noch lauter, ich versuche es noch mal mit der Flugzeugnummer, da greift er schließlich nach den Briefen in meiner Hand und reißt sie mit Gewalt auf. Dann brüllt er wieder und drückt mir die aufgerissenen Kuverts in die Hand und zeigt mir mit einer angewiderten Handbewegung den Ausgang. Ich fliege aus dem Postamt. Auch eine Form von Luftpost - und das erniedrigende Ende meines Abenteuers, meines selbstständigen Höhenflugs. Ich könnte heulen. Ich habe Abitur, fünf Jahre studiert und bin nicht einmal in der Lage, allein einen Brief aufzugeben.
Vor dem Postamt kichern ein paar Chinesen, die die Szene beobachtet haben. Bloß schnell weg hier. Leider hat mein Fahrradsattel inzwischen die Temperatur einer Kochplatte, ich verbrenne mir fast den Hintern darauf. Jetzt weiß ich auch, warum so viele Chinesen im Sommer immer mit nassen Handtüchern auf dem Kopf unterwegs sind. Sie kühlen das Hirn und alles, was man sonst noch braucht.
Wir haben 41 Grad, und das bei einer Luftfeuchtigkeit von 95 Prozent. Die Stadt klebt vor Schweiß und Staub. Das Gute an der Luftverschmutzung ist, dass der Feinstaub offenbar auch die UV-Strahlen filtert. Jedenfalls habe ich die 28 Flaschen importierte chemikalienfreie Lavera-Sonnencreme noch nicht ein einziges Mal angerührt, und trotzdem ist keiner von uns bisher verbrannt.
Die Shanghainesen haben ihre eigene Art, mit der Hitze umzugehen: Sie essen Unmengen von Wassermelonen. Überall auf den Straßen sieht man Menschen, die in der Hocke balancieren und mit einem Suppenlöffel riesige Wassermelonen aushöhlen. Wassermelonen zählen in der Traditionellen Chinesischen Medizin zu den »kalten Nahrungsmitteln«, die die Hitze im Körper eindämmen und eine heilende Wirkung auf den Organismus haben sollen. Die Jüngeren krempeln sich zusätzlich zur Belüftung ihre T-Shirts bis zu den Brustwarzen hoch, so dass ab 36 Grad aufwärts die Straßen voller nackter, schmaler Hühnerbrüste sind.
Die Frauen bewahren mehr Contenance und tragen auf ihren Elektrofahrrädern eine Art Tischdecke mit Spitzenbordüre und Gummizug obendran auf dem Kopf. Dann noch den vollverspiegelten Sonnenschutzschild aufgesetzt, der immer ein bisschen nach »Star Wars« aussieht - und fertig ist Darth Vader im Spitzenumhang. Damit kombinieren sie gern fleischfarbene Nylonsöckchen, denn Chinesen gehen davon aus, dass Kälte (und damit Krankheiten) über die Füße in den Körper wandert, weswegen diese unter allen Umständen wohltemperiert sein müssen. Die modebewussteren Frauen schützen sich vor der Sonne, indem sie ihre Jacken verkehrt herum anziehen und hinten offen lassen.
Ich habe mir auch so ein Darth-Vader-Visier gekauft. Es hält zusätzlich den Baustellenstaub ab und ist sehr praktisch, auch wenn es die Frisur ruiniert. Nicht dass mich das stören würde, denn wer keine Frisur hat, kann sie auch nicht ruinieren. Ich habe keine Ahnung, wo ich hier einen guten Friseur finden soll oder besser gesagt: einen Friseur, der auch Haare schneidet. Das mit den Friseursalons ist in Shanghai nämlich so eine Sache. Man erkennt sie in der Regel an sich drehenden kleinen Litfaßsäulen mit holographischen, hypnotisierenden Mustern vor dem Eingang. Sind die Muster jedoch pink oder glitzern und leuchten nachts in funky Farben, kann man sicher sein, dass man dort keinen Haarschnitt, sondern einen Blowjob bekommt (sehr günstig übrigens, habe ich mir sagen lassen, für umgerechnet drei bis fünf Euro). Jedenfalls habe ich das Haareschneiden auf unbestimmte Zeit verschoben.
Wir haben hier ohnehin andere Probleme: Kakerlaken zum Beispiel. Heute Morgen saß ein fünf Zentimeter großes Exemplar (ohne Fühler gemessen) im Wohnzimmer, das Tobi mit einem Hammer zertrümmert hat. Und dann diese Sprache! Putonghua, das Hochchinesisch, ist die meistgesprochene Sprache der Welt. Ja, ich weiß, es muss theoretisch möglich sein, Chinesisch zu lernen: 1,4 Milliarden Chinesen haben es geschafft und diverse Expats auch. Praktisch scheitern Tobi und ich jedoch beide an dieser Aufgabe.
Nach fünf Privatstunden können Tobi und ich nicht mehr als das besagte ni hao und xiexie (danke) und üben immer noch Laute und Töne beziehungsweise den Gesang der Laute. Tsch, dsch, sch, ch - bei jedem Laut muss man die Zunge anders rollen und in Kombination mit Vokalen mal von unten nach oben, mal von oben nach unten singen. Ein und dasselbe Wort kann je nach Singsang komplett verschiedene Bedeutungen haben. Die Silbe ma beispielsweise heißt je nach Intonation »Mutter« oder »Pferd«. Wer ein Mädchen mit ein paar Brocken Chinesisch beeindrucken will, sollte bei dem Kompliment »Du gleichst deiner Mutter« also vorsichtig sein.
Hinzu kommt, dass Chinesisch lernen für Ausländer eine reine Willens- und Geduldsfrage ist. Es geht schlicht darum, möglichst viele Wörter auswendig zu lernen. Grammatikalisch ist Chinesisch nämlich unglaublich einfach: Es gibt keine Zeitformen, es wird weder dekliniert noch konjugiert. Statt »ich bin Deutsche« sagt man hier »ich sein deutsch Mensch« (wo shi deguo ren), statt »Wie viel kostet das?« einfach »Viel wenig Geld?« (duo shao qian?). Auch die Wortkombinationen sind simpel und logisch: Mai (von unten nach oben gesungen) heißt beispielsweise »kaufen«, mai (von oben nach unten gesungen) »verkaufen« und maimai »Geschäfte machen«.
Ich finde das Rauf- und Runtersingen niedlich, Tobi findet es schwul. Genauer gesagt hat er Probleme mit dem vierten Ton, den man von oben nach unten singt, wie bei einem affektierten »Puuuh!«. Er weigert sich, den vierten Ton auszusprechen (»Ich bin doch keine Tunte!«), was unseren armen Chinesischlehrer Liwei jedes Mal zur Verzweiflung treibt. Ich kann mich beim Unterricht ohnehin kaum konzentrieren, weil ich ständig von pubertären Lachkrämpfen geschüttelt werde, wie ich sie nur aus der Schulzeit kenne. Die Tränen laufen, der Bauch tut weh, ich kann nicht aufhören zu lachen, und Tobi übt weiter »tschrrrr«.
Tore und Fenster müssen einander entsprechen.
Man kann in Shanghai so gut wie alles kaufen: Schwarzbrot, Sauerteigbrot (es gibt sogar eine deutsche Bäckerei), Pfanni-Knödelpulver, Illy-Kaffee (für schlappe zwölf Euro), die gesamte H&M-Zara-Mango-Palette, sogar Flensburger Bier. Nur leider: kein Grün. Ich hätte nie gedacht, dass mir diese Farbe so fehlen würde. Statt...
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