KAPITEL 4
Dr. Alex Ripley stellte ihr klingelndes Handy rasch auf »Stumm« und ließ es wieder in ihrer Handtasche verschwinden. Sie kannte die Nummer nicht und hatte jetzt keine Zeit, um mit Reportern zu sprechen, die sofort irgendeinen druckreifen Kommentar von ihr hören wollten.
»Entschuldigung«, sagte sie zu dem Visagisten, der sich erneut über sie beugte.
»Kein Problem, meine Liebe«, erwiderte er. »Besser, so was passiert hier als live auf Sendung.«
»Das stimmt.« Sie lächelte ihn an. »Ich lasse es lieber bei Ihnen, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Sie war eh schon nervös genug, weil sie im nationalen Fernsehen auftreten würde, und hatte keine Lust, sich zu blamieren, indem sie vergaß, ihr Handy auszuschalten. Zwar war dies bei Weitem nicht ihr erster Liveauftritt, aber sie bekam trotzdem noch jedes Mal Lampenfieber.
Als renommierte Skeptikerin, die darauf spezialisiert war, vermeintliche Wunder, übernatürliche oder sogar göttliche Erscheinungen von einem wissenschaftlichen und vernünftigen Standpunkt aus zu untersuchen, wurde Alex häufig hinzugezogen, wenn sich sensationssüchtige Medien mit Glaubensfragen beschäftigten und man dabei noch eine rationale Stimme benötigte.
Sie sollte gleich an einer Talkshow teilnehmen, die jeden Sonntagvormittag gesendet wurde, und »Wunderheilungen« war das Thema der heutigen Diskussionsrunde. Freiwillig hätte sie sich eine solche Sendung niemals angesehen. Sie konnte diese absichtlich polarisierenden Shows nicht leiden, bei denen sich das Publikum mit wütend herausgeschrienen Meinungen einmischte und die Gastredner nur eingeladen wurden, um der Menge die schlimmsten Reaktionen zu entlocken. Nichts als Sensationsgeilheit! Aber sie musste Werbung für ihr Buch machen, in dem es zufälligerweise um Wunderheilungen ging, und daher freute sie sich auf die Gelegenheit, bei einer Livesendung einige Mythen und Missverständnisse scharf zu kritisieren.
Sie wusste, dass sie sich bei einer Diskussion über dieses Thema behaupten konnte, ungeachtet dessen, was man ihr so alles an den Kopf warf. Ihre Bücher gingen immer einigen Menschen gegen den Strich, und das würde bei diesem auch nicht anders sein. Die Menschen wurden oft wütend, wenn man das, woran sie glaubten, infrage stellte, und genau das war schließlich Dr. Alex Ripleys Spezialität. Sie konnte diese Diskussionsrunde durchaus als eine Art Zielgruppenforschung betrachten.
Der Talkmaster hatte sie bei ihrer Ankunft begrüßt und ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie sich nicht zurückhalten musste. Im Privatleben war er ein intelligenter Mann, doch vor der Kamera mutierte er zu einem dieser Moderatoren, die ihre Gäste gern aufstachelten. Er machte dreiste, dramatische Aussagen, verstand Antworten absichtlich falsch und provozierte bei jeder sich bietenden Gelegenheit heftige Auseinandersetzungen. Das machte gutes Fernsehen schließlich aus.
Außerdem hatte er ihr vergnügt mitgeteilt, dass es sich bei einem der anderen Gäste an diesem Morgen um Reverend Bobby Swales handelte - einen der zahlreichen selbst ernannten Heiler, für die sie schon in den ersten Kapiteln ihres Buches deutliche Worte gefunden hatte. Das Wiedersehen mit ihm bereitete ihr jedoch kein Kopfzerbrechen, da es für ihn höchstwahrscheinlich unangenehmer sein würde als für sie.
Schließlich wusste er, dass sie ihn durchschaut hatte. Und sie war überzeugt davon, dass sie ihn in einer Debatte in die Tasche stecken würde. Zwar war er zugegebenermaßen gut darin, die Bibel so auszulegen, wie er es gerade brauchen konnte, und er vermochte sich auf eine charismatische Weise in Szene zu setzen, aber es war ihm nicht einen Moment lang gelungen, Alex zu täuschen. Ihrer Meinung nach war er ein zynischer, egoistischer Mann, der die Schwachen und Verzweifelten ausnutzte und ihnen falsche Hoffnung schenkte, um sich die Taschen zu füllen.
An sich hatte Alex nichts gegen den Glauben oder die Religion, auch nichts gegen Menschen, die bestimmte Ansichten vertraten. Es war eher das Gegenteil der Fall: Sie träumte davon, etwas zu finden, das ihre große Sehnsucht stillen konnte, an eine höhere Macht zu glauben. Alex konnte es allerdings nicht leiden, wenn man sich hinter der Religion versteckte, um grausame, gemeine, egoistische oder, und das waren die schlimmsten, dumme Taten zu rechtfertigen. Wenn jemand andere im Namen irgendeines Gottes betrog, machte es sich Alex zu ihrer Mission, diese Person, ungeachtet ihrer Position oder ihres Rufes, öffentlich bloßzustellen.
Sie wurde häufig als professioneller Advocatus Diaboli eingesetzt, um vermeintliche Wunder mithilfe von Logik und Wissenschaft zu widerlegen. Im Laufe der Jahre war sie von Gruppierungen beider Seiten um Unterstützung gebeten worden, und sie gehörte zu den wenigen Experten auf diesem Fachgebiet, die dafür anerkannt waren, dass sie keine anderen Ziele verfolgten, als die Wahrheit ans Licht zu bringen. Falls Dr. Alex Ripley, so wurde gemunkelt, jemals etwas als Wunder bezeichnen sollte, dann hatte man tatsächlich eines. Was das anbelangte, war sie jedoch bislang auf nichts gestoßen, das sie wirklich überzeugt hätte. Dies lag freilich nicht daran, dass sie sich zu wenig bemüht hatte, nach so etwas zu suchen.
Bisher waren drei Bücher über verschiedene Aspekte von Wundern aus ihrer Feder erschienen, und jedes hatte für genug Kontroversen gesorgt, um sie in den entsprechenden Kreisen ziemlich bekannt zu machen. Sämtliche Nachforschungen von ihr hatten zu demselben Resultat geführt: Das angebliche Wunder war gar keines. Sie hatte es noch jedes Mal geschafft, eine rationale Erklärung für die Heilungen, die weinenden Statuen, die göttlichen Erscheinungen, die Stigmata, die Visionen und sogar für die mysteriösen Stimmen zu finden.
Dabei war es jedoch nicht bei allen Fällen so, dass jemand diese vermeintlichen Wunder absichtlich und zu betrügerischen Zwecken arrangiert hatte. Vielmehr waren manche Menschen ob ihres unerschütterlichen Glaubens schlichtweg blind für die Wahrheit. Allerdings gab es hin und wieder auch Vorkommnisse, für die sich weder eine rationale Erklärung noch Beweise für ein göttliches Eingreifen finden ließen.
Letzten Endes gab es eben nicht nur Schwarz oder Weiß. Und auch wenn sie ihre Ergebnisse noch so vorsichtig formulierte, wusste Alex, dass sie entweder jemanden der Lüge oder zumindest der Naivität beschuldigte. Sie hatte schnell gelernt, mit dem unausweichlichen Zorn und der Kritik zu leben, die mit ihrer Tätigkeit einhergingen.
Verwirrte oder enttäuschte Gläubige hatten sie in all der Zeit der Profitgier, der Heuchelei, der Teufelsanbetung oder des mangelnden Glaubens bezichtigt, weil es ihr immer wieder gelang, eine Erklärung für gewisse Phänomene zu finden. Die meisten Anschuldigungen prallten einfach von ihr ab, aber manchmal überkam sie das Gefühl, der einzige klar denkende und rationale Mensch in einer Welt voller irregeleiteter Fanatiker zu sein.
In letzter Zeit arbeitete sie nur noch an komplexeren Fällen oder an solchen, für die sich die Öffentlichkeit interessierte. Unabhängig von allen anderen Faktoren schienen alle Vorkommnisse auf derselben Grundlage zu beruhen: Die Leute wollten unbedingt daran glauben. Ihnen gefiel die Vorstellung, dass sie auserwählt worden waren, eine besondere Gabe zu erhalten, oder wenigstens letztendlich den Beweis dafür bekommen hatten, dass das Leben nicht nur aus dem Hier und Jetzt bestand.
Ihr letztes Werk war ebenfalls ein Enthüllungsbuch. Sie hatte insgesamt zwei Jahre für die Nachforschungen und das Schreiben gebraucht und sich im Laufe dieser Recherchen einige Feinde gemacht, von jenen an der Spitze der katholischen Kirche bis hinunter zu den verärgerten Scharlatanen, die begriffen hatten, dass ihr Goldesel gerade öffentlich geschlachtet worden war. Reverend Bobby Swales fiel in die letzte Kategorie, was vermutlich auch erklärte, warum man ihn in die heutige Sendung eingeladen hatte. Er brachte zweifellos einige seiner getreuen Anhänger mit, die seine wilden Behauptungen unterstützen sollten.
Dabei hatte Alex ursprünglich gar nicht über Wunderheilungen schreiben wollen. Eigentlich war dies ein Thema, dem sie lieber aus dem Weg ging, weil bei dieser Art von Phänomen so viele nicht genau bestimmbare Faktoren vorlagen. Im Grunde genommen ließ sich keine eindeutige Aussage darüber treffen, was genau geschehen war und ob ein Wunder stattgefunden hatte. Aber sobald sie begonnen hatte, an der Oberfläche zu kratzen, war sie auf immer mehr Fälle von Menschen gestoßen, die tatsächlich glaubten, von Gott geheilt worden zu sein.
Während ihrer Nachforschungen war sie mit dem Vatikan wegen der Wunderheilungen, die Papst Johannes Paul II. zugeschrieben wurden, in Konflikt gekommen, was zu einem andauernden Streit über die Vorgaben für eine Heiligsprechung geführt hatte. Ferner liefen Verleumdungsklagen von drei Heilern gegen sie, allerdings ging sie davon aus, zwei dieser Prozesse auf jeden Fall zu gewinnen.
Man hatte ihr ins Gesicht geschlagen, sodass jetzt eine kleine Narbe über ihrem rechten Auge prangte, nachdem ein besonders verärgerter Heiler nicht hatte an sich halten können - was durchaus nicht einer gewissen Ironie entbehrte. Sie hatte Morddrohungen erhalten, Bestechungsversuche zurückgewiesen, und ihr war sogar eine wöchentliche Fernsehsendung angeboten worden; und das alles noch vor Erscheinen ihres Buches.
»Sie können jetzt ins Studio, Dr. Ripley!«, rief ein junger Regieassistent durch die Tür.
Der Visagist strich ihr noch einmal mit der Puderquaste über die Wange und nickte.
»Alles gut.« Er strahlte sie an. »Machen Sie sie...