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Pelé wird bald das 1.000. Tor seiner Karriere schießen. Seit Wochen schon kennt die Presse nur ein Thema. Wann? Gegen wen? Wo? 1969 ist es das zweite Ereignis von globaler Bedeutung, nach der Mondlandung. In den Straßen der Provinzstädte, in denen der FC Santos zu Gast ist, kommt es zu spontanen Karnevalsszenen. Hunderte Reporter, Fotografen und Kameraleute, Leitartikelschreiber und anonyme Begleiter der Medienkarawane sowie die Volksmassen haben ihr Leben auf seines ausgerichtet. Die Fußballstadien, in denen er spielt, summen wie Bienenstöcke. Spieler, Journalisten, Zuschauer, Politiker und Militärs strömen herbei. Alle warten sie darauf, auf den Rasen zu laufen, ihn zu interviewen, zu sehen, zu umarmen, ihn auf ihren Schultern zu tragen oder eben das zu verhindern. Es herrscht Ungeduld. Denn Pelé trifft nicht mehr. Der Erfolg ist ihm abhandengekommen. Nicht gegen die Corinthians, deren Trikot er als Kind so gern getragen hätte. Nicht gegen den FC São Paulo. Zweimal verhindert der Pfosten den Treffer, einmal die Latte. Gegen Bahia feuert das ganze Estádio Fonte Nova nicht etwa die Heimelf an, sondern ihn, Pelé. Wenige Minuten vor dem Abpfiff tanzt O Rei, der König, mit einem seiner unnachahmlichen Dribblings, die alle kennen und jeder fürchtet, den Torwart aus. Er schießt auf das leere Tor. Die Menschen stehen, sie schreien "Goooool", doch da taucht Verteidiger Nildo auf und lenkt das Leder mit dem linken Bein am Pfosten vorbei. Für den Rest des Spiels brüllen die eigenen Anhänger ihn nieder und beleidigen ihn, der den historischen Moment zunichtegemacht hat. Jetzt werden andere die Ehre haben, dabei gewesen zu sein, nicht sie. Nach der Partie gegen Botafogo glauben manche gar, Pelé habe absichtlich den Platz seines verletzten Torhüters eingenommen (Ersatzspieler gab es zu jener Zeit noch nicht), weil er die große Gala im Maracanã plante.
Trotz des unvermeidlichen Rekords, der da ansteht, befindet sich Pelé in einem Zustand ständiger Anspannung. Diese Ungeduld, die er in den Blicken spürt, in den Zeitungsartikeln und im Radio, raubt ihm den Schlaf und lässt sein engelsgleiches Lächeln verkrampfen. Fünf Tage später, am Tag der brasilianischen Nationalflagge, treten Zehntausende im Regen von Rio im Maracanã von einem Fuß auf den anderen. Wie viele mögen es sein in der so lange verfluchten Arena, die damals 220.000 Zuschauer fasst? Bis zum Bau des Stadions im Jahr 1948 stand der größte Fußballtempel der Welt in Europa, in Glasgow. Und nun ist genau hier, in diesem Kolosseum aus Beton, das errichtet wurde als Schrein für die goldenen Momente des brasilianischen Fußballs, an diesem 19. November 1969 um 23:11 Uhr Pelé nach einem Steilpass von Clodoaldo im gegnerischen Strafraum zu Boden gegangen. Sogleich zeigt Schiedsrichter Manoel Amaro de Lima auf den Punkt. "Ich war allein gegen den Rest der Welt", wird der 2019 verstorbene argentinische Torhüter Edgardo Andrada später sagen. Zwölf Minuten bleiben noch zu spielen in der entscheidenden Partie des Robertão-Turniers, dem Vorläufer der brasilianischen Meisterschaft. Es steht unentschieden zwischen dem FC Santos und Vasco da Gama, einem der als Ruderklubs gegründeten Vereine Rio de Janeiros, wie auch Flamengo und Botafogo. Das schwarze Trikot zieren das Malteserkreuz und weißer Diagonalstreifen - Schwarz wie das unbekannte Meer und Weiß wie der Seeweg nach Indien, den der portugiesische Seefahrer entdeckte.
Die Spieler von Vasco da Gama, die Pelé von Spielbeginn an ständig provoziert haben, beschweren sich beim Schiedsrichter. Derweil skandieren ihre eigenen Anhänger seinen Namen. "Pelé! Pelé!" Die übrigen Spieler von Santos reihen sich an der Mittellinie auf - ein zuvor abgesprochenes Szenario. Ein Vasco-Verteidiger versucht, den Elfmeterpunkt unbrauchbar zu machen, indem er zornerfüllt mit dem Fuß darauf herumstapft. Pelé und Andrada fassen sich am Arm, tauschen einige - der Gestik nach zu urteilen - höfliche Worte aus. Die Spieler von Vasco sind noch nicht fertig mit ihrer Einschüchterungsaktion. Sie umzingeln ihn, schubsen ihn, bearbeiten erneut den Strafraum. Pelé reagiert nicht. Pelé legt sich den Ball zurecht. Ein gegnerischer Spieler legt ihn zur Seite. Der Schiedsrichter legt ihn zurück. Andrada versetzt ihn nochmals, ehe er auf seine Linie zurückgeht - der Einzige, der das 1.000. Tor noch verhindern kann. Die Hände in die Hüften gestemmt, beugt Pelé sich vor, als müsse er Luft holen, dann dreht er sich um zu seinen Mitspielern, die in über 40 Metern Entfernung aufgereiht stehen. "Zum ersten Mal in meiner Karriere war ich nervös. Andrada war in Form. Ich hatte noch nie so einen Druck verspürt. Ich zitterte." Ein Raunen geht durch die Ränge, dann folgt eine atemlose Stille. Pelé dreht sich zum Tor und läuft in einer einzigen flüssigen Bewegung zum Ball. Es folgt eine paradinha, dieser kleine Moment des Verzögerns, den die FIFA Jahre später zunächst verbieten und dann wieder zulassen würde. Pelé platziert den Ball präzise in die rechte untere Ecke. Andrada berührt ihn leicht mit den Fingerspitzen. Er lenkt ihn ab, aber es reicht nicht. Der Ball ist drin.
Gooooooooool! Ein lang gezogener Schrei zerreißt die Nacht. Es ist 23:23 Uhr, und niemand beachtet Andrada, der vor Zorn heult und immer wieder mit der Faust auf den Boden schlägt: "Ich war verzweifelt. Ich hatte absolut keine Lust, auf diese Weise in die Geschichte einzugehen." Die Welt schaut nur noch auf Pelé, der ins Tor läuft. Der Ball rutscht ihm aus den Händen. Er hebt ihn auf und küsst ihn lange, bevor er hinter einer Traube von Menschen verschwindet, die aus allen Ecken des Stadions zu ihm gelaufen sind. Es sind fast 100 Männer. Seine Mitspieler stehen noch immer an der Mittellinie. Schließlich taucht er wieder auf, von irgendwelchen Schultern getragen, in den Händen den Ball, den er wie eine Opfergabe präsentiert und inbrünstig küsst. Endlich gelingt es ihm, sich der Meute zu entziehen und sich in die Arme seiner Mitspieler zu werfen. Erneut wird er im Triumphzug getragen. Man reicht ihm ein Trikot, das er überzieht, während er in Richtung Tribüne läuft. Dann folgt eine fast dreißigminütige Ehrenrunde in einem Dress von Vasco da Gama mit der Rückennummer 1000. Es ist einer der wichtigsten Tage seiner Karriere. Wie seinerzeit das WM-Finale 1958 in Schweden oder seine intergalaktische Leistung beim Weltpokal-Rückspiel in Lissabon 1962, wie der spätere Triumph 1970 in Mexiko oder wie sein Abschiedsspiel Cosmos gegen Santos 1977. Doch dieser Tag gehört dem 1.000. Treffer seiner Karriere, eine unvorstellbare Zahl. Kaum ist die Partie vorüber, wird Pelé zum Stadioneingang geführt, wo bereits eine Marmorplatte eingelassen worden ist, auf der steht: "Hier krönte am 19. November 1969 mit seinem 1.000. Tor Pelé seine Karriere als bester Fußballer aller Zeiten."
Gefeiert wurde er wegen seines herausragenden Talents, aber auch, weil das Ereignis in die Zeit fiel, als gerade das Fernsehen populär wurde und die Globalisierung ihren Anfang nahm. Pelé erhielt für seine Leistung einen Ball aus 18-karätigem Gold. Das Magazin Drible schenkte ihm ebenfalls einen vergoldeten Ball. Die Regierung von São Paulo ließ sich zu einer Bronzebüste herab, und General Médici, der diktatorisch herrschende Präsident und Urheber des berühmt gewordenen Satzes "Brasilien liebt man, oder man verlässt es", empfing ihn am 22. November in seinem Palast in Brasília. Jahre später ergab eine genauere Zählung, dass Pelés 1.000. Tor eigentlich in einem Spiel am 12. November 1969 gefallen war - also eine Woche zuvor, gegen den bescheidenen Verein Santa Cruz de Recife, weit weg von der grandiosen Szenerie des Maracanã. Pelé bestritt das nicht.
An diesem 19. November aber sprach er ins Mikrofon des Journalisten Geraldo Blota von Radio Gazeta eine Botschaft der Hoffnung für die criancinhas ("Kindlein") Brasiliens. Was genau hatte er gesagt? "Diese 1.000 Tore schenke ich den armen Kindern meines Brasilien" oder "Ich widme dieses Ziel den Kindlein Brasiliens" oder "Jetzt, wo alle zuhören: Helft um Himmels willen den Kindern, helft denen, die in Not sind. Das ist mein einziger Wunsch in diesem für mich so besonderen Moment"? Pelé erinnerte sich später nicht mehr so genau. Aber indem er die criancinhas erwähnte, diese Straßenkinder ohne Schulbildung und Zukunft, diese Opfer extremer Armut in einem Land, das sie ignorierte, hatte er sein Schicksal besiegelt und damit begonnen, das Drehbuch für sein restliches Leben zu schreiben.
Jahre später brachte ihn das Candelária-Massaker dazu, das Amt des Sportministers zu übernehmen und sich für Jugendliche...
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