Schweitzer Fachinformationen
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[98] Als Erstes besuchen wir das Römische Museum, und dann steigen wir den kleinen Hügel hinauf, um uns ein paar Ruinen anzuschauen. Unsere Jungs spielen. Jetzt, wo mein Mann Bescheid weiß, fühle ich mich erleichtert: Ich muss nicht mehr die ganze Zeit so tun als ob.
»Lass uns etwas am Ufer des Sees laufen.«
Und was ist mit den Kindern?
»Keine Sorge, sie werden schon ruhig auf uns warten. Dazu sind sie alt genug.«
Wir gehen alle vier wieder hinunter zur Uferpromenade des Genfersees. Mein Mann kauft den Kindern ein Eis und sagt, sie sollen hier auf einer Bank warten, damit Papa und Maman ein wenig ungestört miteinander reden können. Unser Älterer beschwert sich, dass er sein iPad nicht mitbringen durfte. Mein Mann geht zum Wagen und holt das verdammte Gerät. Der Bildschirm wird von nun an das allerbeste Kindermädchen sein. Die Jungs werden sich nicht rühren, bis sie nicht jede Menge Terroristen in Spielen getötet haben, die eigentlich für Erwachsene gemacht sind.
Wir fangen an zu laufen. Auf der einen Seite haben wir die Blumenrabatten und Parks, auf der anderen die Möwen und die Segelboote, die die Bise nutzen, die jetzt schon neun Tage [99] weht und für blauen Himmel und gutes Wetter sorgt. Wir joggen eine gute Viertelstunde nebeneinanderher. Nyon liegt schon hinter uns, und ich denke, es wäre an der Zeit umzukehren.
Ich habe ewig lange keinen Sport mehr getrieben. Nach zwanzig Minuten bleibe ich erschöpft stehen. Ich kann nicht mehr.
»Natürlich kannst du noch!«, spornt mich mein Mann an, während er auf der Stelle hüpft. »Nun komm schon, lauf mit mir bis zum Ende!«
Ich beuge mich vor, die Hände auf die Oberschenkel gestützt. Mein Herz klopft wie wild; schuld daran sind die durchwachten Nächte. Mein Mann hüpft weiter um mich herum.
»Jetzt komm schon, du schaffst es! Man darf einfach nicht anhalten. Tu es für mich, für die Kinder! Hier geht es nicht nur um Sport. Es geht darum, dass, wenn man sich ein Ziel setzt, nicht auf halber Strecke aufgeben sollte.«
Spricht er etwa über meine zwanghafte Traurigkeit?
Er hält inne, fasst mich bei den Händen, schüttelt mich sanft. Ich bin zu erschöpft, um zu laufen, und gleichzeitig fehlt mir die Kraft, ihm zu widersprechen. Wir laufen die restlichen zehn Minuten locker nebeneinanderher.
Wir kommen an Wahlplakaten vorbei, die ich auf dem Hinweg nicht bemerkt hatte. Bei den Fotos der Staatssratskandidaten für den Kanton Waadt (in dem wir uns hier befinden) muss ich natürlich an Jacob denken, der mir in Genf von jeder Plakatwand entgegenlächelt.
Ich laufe schneller. Mein Mann ist überrascht und läuft auch schneller. Und wir brauchen für die Strecke, die wir [100] auf dem Hinweg in zehn Minuten zurücklegten, nur noch sieben. Die Kinder haben sich nicht vom Fleck gerührt und starren wie gebannt auf das iPad; der schönen Landschaft ringsum, dem Alpenpanorama, den Segelschiffen und den Möwen gönnen sie keinen Blick.
Mein Mann geht zu ihnen, aber ich laufe weiter. Er schaut mich zugleich überrascht und glücklich an. Er wird sich vorstellen, dass seine Worte Wirkung gezeitigt haben, dass ich meinen Körper jetzt beim Laufen mit den so notwendigen Endorphinen versorge, die ins Blut ausgeschüttet werden, wann immer wir uns etwas intensiver körperlich betätigen, wie beim Joggen oder auch beim Sex, und die nicht nur unsere Stimmung verbessern, sondern auch unser Immunsystem stärken, uns weniger schnell altern lassen, vor allem aber ein Gefühl von Euphorie und Lust hervorrufen.
Bei mir allerdings ist die Wirkung des Laufens eine ganz andere. Die Endorphine haben mir nur gerade den nötigen Schub gegeben, dass ich weiterlaufen kann, bis ich am Horizont verschwinde und alles hinter mir zurücklasse. Warum bloß habe ich so wunderbare Jungs? Warum bloß musste ich meinen Mann kennenlernen und mich in ihn verlieben? Wäre ich ihm nicht begegnet, wäre ich dann nicht eine freie Frau?
Ich bin verrückt. Am besten sollte ich bis zum nächsten psychiatrischen Krankenhaus laufen und um Aufnahme bitten, denn so was darf man nicht denken. Aber ich spinne den Gedanken weiter. Laufe noch ein paar Minuten, kehre um, plötzlich von Panik gepackt, mein Wunsch nach Freiheit könnte Wirklichkeit werden und ich würde bei meiner Rückkehr zu der Parkbank in Nyon niemanden mehr vorfinden.
[101] Aber sie sind da, alle drei, und lächeln der heranjoggenden Mutter und Ehefrau entgegen. Ich umarme sie. Ich bin verschwitzt, fühle, dass mein Körper und mein Geist schmutzig sind, dennoch drücke ich sie fest an mich. Trotz allem, was ich fühle. Beziehungsweise trotz allem, was ich nicht fühle.
[102] Du suchst dir dein Leben nicht aus: Es sucht sich dich aus. Und ob es nun Freude oder Traurigkeit für dich bereithält, nimm es an und schreite voran.
Wir wählen unser Leben nicht aus, aber wir entscheiden, was wir mit der Freude und der Traurigkeit, die es für uns bereithält, anfangen.
An diesem Sonntagnachmittag befinde ich mich (wie ich erst meinem Chef und anschließend mir selbst weismachte) aus rein beruflichen Gründen am Sitz von Jacobs Partei. Es ist 17 : 45 Uhr, und alle feiern. Anders als ich es mir in meinen krankhaften Projektionen vorstellte, wird keiner der gewählten Kandidaten einen Empfang geben. Also werde ich diesmal keine Gelegenheit bekommen, das Zuhause von Jacob und Marianne König von innen kennenzulernen.
Kaum angekommen, erhalte ich erste Informationen. Mehr als 45 % der Stimmberechtigten des Kantons haben gewählt - ein Rekord. Die meisten Stimmen hat eine Frau auf sich vereinigt, Jacob liegt an dritter Stelle, was ihm das Recht geben wird, Mitglied der Regierung zu werden.
Der große Saal ist mit gelben und grünen Ballons geschmückt, die meisten Anwesenden haben bereits ein Glas in der Hand, und einige machen das Siegeszeichen in meine Richtung, vielleicht in der Hoffnung, ihr Foto morgen in der [103] Zeitung zu sehen. Aber heute ist Sonntag, wunderschönes Wetter, und die Fotografen sind noch nicht da.
Jacob sieht mich und wendet sich sofort jemand anderem zu, um mit ihm ein paar (wie ich mir einrede) nichtssagende Worte zu wechseln.
Ich muss arbeiten oder zumindest so tun, als täte ich es. Ich hole einen Notizblock, einen Filzstift sowie ein Aufnahmegerät heraus, mit dem ich herumgehe und Statements einsammle wie »Jetzt können wir endlich das Gesetz über die Immigration bestätigen«, oder »Die Wähler haben offenbar begriffen, dass sie das letzte Mal die falsche Wahl getroffen haben, und mich jetzt zurückgeholt«.
Die große Siegerin des Tages erklärt: »Ohne die Stimmen der Frauen stünde ich jetzt nicht hier.«
Léman Bleu, der lokale Fernsehsender, hat im großen Saal ein behelfsmäßiges Studio aufgebaut. Die für Politik zuständige Moderatorin, das obskure Objekt der Begierde von nahezu allen anwesenden Männern, stellt intelligente Fragen, erhält als Antwort jedoch nur vorgefertigte und von den Beratern genehmigte Phrasen.
Irgendwann wird Jacob König aufs Podium gerufen, und ich versuche näher heranzutreten, um zu hören, was er sagt. Da stellt sich mir jemand in den Weg. »Hallo, ich bin Marianne König. Jacob hat mir viel von Ihnen erzählt.« Was für eine Frau! Blond, blauäugig, elegante schwarze Wolljacke, dazu ein rotes Hermès-Tuch. als einziges erkennbares Label, alles andere jedoch sieht ebenfalls nach einem Pariser Stylisten aus, dessen Name aber geheim gehalten wird, um Nachahmerinnen zu vermeiden.
Ich begrüße sie und spiele die Überraschte.
[104] Jacob hat von mir erzählt? Ja, ich habe ihn interviewt, und einige Tage später haben wir zusammen zu Mittag gegessen. Obwohl Journalisten keine Meinung über Interviewte abgeben sollten, sage ich, dass ich ihren Gatten mutig finde, weil er den Bestechungsversuch öffentlich gemacht hat.
Marianne König tut so, als wäre sie an meinen Worten interessiert. Sie weiß bestimmt mehr, als ihre Augen verraten. Ob Jacob ihr etwas über unser Treffen im Parc des Eaux-Vives erzählt hat? Soll ich das ansprechen?
Das Interview des Senders Léman Bleu hat bereits begonnen, aber sie scheint nicht sonderlich daran interessiert zu sein, was ihr Mann sagt - zweifellos kennt sie seine Antworten schon auswendig. Bestimmt hat sie das hellblaue Hemd und die graue Krawatte für ihn ausgewählt, das perfekt geschnittene Flanelljackett, die Uhr, die er trägt - weder zu teuer, damit es nicht angeberisch wirkt, noch zu billig, was Verachtung für einen der wichtigsten Industriezweige unseres Landes ausdrücken würde.
Ich frage sie, ob sie eine Erklärung abgeben möchte. Sie sagt, in ihrer Funktion als Assistenzprofessorin für Philosophie an der Universität Genf sehr gerne. Aber als Ehefrau eines eben wiedergewählten Politikers wäre dies unpassend.
Ich gehe davon aus, dass sie mich provozieren will, und beschließe, es ihr mit gleicher Münze heimzuzahlen. Ich sage, dass ich ihre Haltung bewundere, mit der sie mit der Meldung, dass ihr Ehemann mit der Frau eines Freundes eine Affäre gehabt hätte, umgegangen sei, dass sie keinen Skandal daraus gemacht habe, nicht einmal, als die Meldung kurz vor den Wahlen durch alle Zeitungen gegangen sei.
[105] »Ganz im Gegenteil. Wenn es sich um Sex in gegenseitigem Einverständnis handelt, bei dem Liebe keinen Raum einnimmt, bin ich für völlige Freiheit in Beziehungen.«
Ob sie damit auf etwas anspielt? Irgendwie gelingt es mir nicht, direkt in die blauen...
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