Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ein Schneetag
Webcomic Von Oliverartssometimes Folge 7: Das Mädchen auf der Brücke (Heiligabend, 23:22 Uhr)
Hochgeladen am 4. Februar 2022
Schneetage haben etwas Magisches.
Als Kind haben sie mich vom Schulstress und meiner lähmenden Sozialphobie befreit. An Schneetagen ging ich einfach raus, und es fiel mir so leicht, Freund:innen zu finden, wie mit behandschuhten Händen einen Schneeball zu formen.
Im College an der Ohio State University haben mich Schneetage von meinem strengen Studienplan befreit. Meine beste Freundin Meredith platzte oft um ein Uhr nachts in mein Wohnheimzimmer, wir stahlen Essenstabletts aus der Kantine und gingen zum South Oval Park, um darauf zu rodeln.
In Portland bedeutete ein Schneetag, von allem befreit zu sein.
Meine Stiefel versinken im Schnee, während ich auf die Burnside Bridge schreite. Im Laufe des Tages haben sich die Grenzen der Stadt verwischt, und nun ist nichts mehr an seinem gewohnten Platz. Gras, Bürgersteig und Straße sind gleichmäßig zugeschneit und dadurch eins geworden - eine viel zu süße Zuckerbäckerwelt. Vor mir fährt ein Paar auf Langlaufskiern über die Brücke, aus ihrem tragbaren Lautsprecher dröhnt »White Christmas«. Hinter mir amüsiert sich eine Gruppe Zwanzigjähriger bei einer Schneeballschlacht mitten auf der Straße, und neben mir rutscht meine Begleitung aus und flucht ziemlich laut: »Dieser Scheißschnee!«
»Liegt es wirklich am Schnee?«, frage ich ruhig. »Oder eher an deinen Schuhen?«
»Am Schnee«, antwortet sie und stampft bei jedem Schritt bewusst auf. »Die Stiefel sind super.«
Ich deute darauf und sage: »Sie sehen aus, als hättest du beim Kauf eher auf den Look gesetzt als auf den Nutzen. Wie bei deiner Jacke.«
Sie bleibt stehen und sieht mich an. »Moment. Was stimmt denn mit meiner Jacke nicht?«
Sie trägt eine dieser braunen Carhartt-Jacken, die bei einer ganz bestimmten Bevölkerungsgruppe in Ohio und einer gänzlich anderen hier in Portland so beliebt sind. Ihre hat nicht einmal einen Reißverschluss, man kann ihr Flanellhemd sehen, das in ihre Light-Wash-Jeans gesteckt ist.
Sie setzt ganz eindeutig auf den Look.
»Es ist eine sehr schöne Jacke«, versichere ich ihr. »Aber nicht gerade praktisch, wenn es schneit, oder?«
»Zu meiner Verteidigung: Es schneit hier fast nie.«
»Aber als du heute Morgen aus dem Haus gegangen bist, hattest du die Wettervorhersage gehört.«
Sie brummt und schüttelt die Schneeflocken aus ihrem Haar, ähnlich wie sich ein Golden Retriever im Regen schüttelt. Ihr schwarzes Haar ist auf der einen Seite rasiert und auf der anderen lang, sodass es ihr in einem feuchten Büschel über die Stirn fällt. Den ganzen Tag über habe ich gegen den Drang angekämpft, ihr das Haar aus den Augen zu streichen.
An einem Schneetag in Portland kann man eine Fremde in einer Buchhandlung treffen, den ganzen Tag mit ihr verbringen und sich dann an Heiligabend um 23:23 Uhr auf einer Brücke mit Blick auf den Willamette River wiederfinden. An einem Schneetag könnte man die Art von Person sein, die einer Fremden überallhin folgt, selbst wenn sie sich über den Schnee beklagt.
Die besagte Fremde geht zum Brückenrand und starrt auf das schwarze Wasser. »Okay, erklär es mir, Ohio: Was ist an Schnee so toll?«
»Zunächst einmal ist er wunderschön.« Ich atme aus, und sie dreht sich um und sieht mich von der Seite an. Die Sommersprossen unter ihren Augen sehen auf ihrer hellbraunen Haut fast wie Schneeflocken aus. Ich habe sie erst vor vierzehn Stunden getroffen, aber das Muster auf ihren Wangen hat sich mir bereits eingeprägt. Ich habe ihre Sommersprossen kartografiert, damit ich sie später zeichnen kann.
Ich wickle meinen blauen Schal fester um den Hals, um zu verbergen, dass ich errötet bin. »Echter Schnee, so wie jetzt, und große Schneestürme haben die Macht, die Welt anzuhalten. Schnee friert die Zeit ein. Der ständige Alltagsstress ruht dann für einen Augenblick unter der Schneedecke, und es fühlt sich so an, als könne man wieder zu Atem kommen.«
Sie lehnt sich ans Geländer und lässt die Arme lässig darüberbaumeln. »Dir ist schon klar, dass du dich entspannen darfst, auch wenn es nicht schneit, oder?«
»Wenn es schneit«, sage ich mit mehr Nachdruck, »verwandelt sich die Welt. Schnee ist magisch.«
Ich zeige um uns herum, zum Nachthimmel, der in einem hellen Lila schimmert, ja fast leuchtet und so gut zu all dem Weiß passt. Zu den Bäumen, die silbern funkeln. Und den Schneeflocken, die durch die Luft schweben und die Illusion erwecken, dass sie sich in alle Richtungen bewegen und der Schwerkraft trotzen. Ich strecke meine Zunge heraus und schaffe es, eine Schneeflocke aufzufangen. Dabei bemerke ich zu spät, dass sie ihr Handy herausgeholt hat und mich mit herausgestreckter Zunge fotografiert.
»Was machst du da?«
»Ich versuche, den angeblichen Schneezauber zu dokumentieren. Für wissenschaftliche Zwecke.«
»Und aus einem so vorteilhaften Blickwinkel.«
»Komm schon. Du bist bezaubernd, und ich bin mir sicher .« Sie hält inne, neigt den Kopf zur Seite, um auf ihr Display zu schauen, und reißt die Augen auf. »Oh, vielleicht sollten wir noch eins machen .«
Ich schubse ihren Arm weg. »Das reicht für heute mit dem Spott.«
Sie hält mir ihr Handy vors Gesicht. »Komm schon, Ellie. Ich hätte gern eine hübsche Erinnerung an dich, bevor die Nacht vorbei ist.«
»Ich werde mich um Mitternacht nicht in einen Kürbis verwandeln.«
»Hmmm, nein.« Sie grinst. »Aber ich vielleicht. Außerdem werde ich ein Foto von dir haben wollen, wenn du eine berühmte Filmemacherin geworden bist. Ein Oscar für den besten Animationsfilm ist ja wohl Teil deines Zehnjahresplans.«
»Zwanzigjahresplan«, korrigiere ich sie. »Lass uns nicht unrealistisch sein.«
»Ellie«, sagt sie, ihr Tonfall ist überraschend ernst. »Ich bin mir ganz sicher, dass du alles erreichen wirst, was du dir vornimmst.« Sie hält wieder ihr Handy hoch. »Schau doch bitte so, als würdest du mich nicht gleich umbringen.«
Ich lasse meine Arme schlaff herunterhängen und zucke mit den Schultern, als wollte ich fragen: So?
Sie schüttelt den Kopf. »Nein, zeig dich, deinen Wesenskern. Das ist es noch nicht.«
»Ich denke, du kennst mich noch nicht lange genug, um über meinen Wesenskern urteilen zu können.«
Sie sieht mich durch die Handykamera an. »Ich weiß immerhin, dass er kein unbeholfenes Achselzucken ist.«
»Bist du dir sicher? Ein unbeholfenes Achselzucken könnte durchaus mein Wesenskern sein.«
Sie schnalzt ungeduldig mit der Zunge, und ich hebe meine Arme in die Luft wie ein stehender Schnee-Engel und drehe mich auf einem Fuß in einem langsamen, schwungvollen Bogen in der Mitte der Brücke. Die Augen geschlossen, die Zunge hinausgestreckt.
»Wie war das?«, frage ich leicht benommen, während ich Mühe habe, die Orientierung wiederzufinden.
Sie schaut mit einem nicht zu entschlüsselnden Gesichtsausdruck auf ihr Handy, dann tritt sie einen Schritt näher an mich heran. »Hier.« Sie zeigt mir das Foto. Es ist verschwommen, im Vordergrund sind ein paar Schneeflocken scharf abgebildet, im Hintergrund bilde ich einen kontrastreichen Farbwirbel: das gedeckte Dunkelbraun meines Zopfes und das blasse Weiß meiner Haut gegen das Lila meiner Jacke, das Blau meines handgestrickten Schals und das kleine Stückchen Rot meiner lächelnden Mundwinkel und meiner Zunge.
»Ich finde es perfekt«, sagt sie.
»Ich bin dran.« Ich schnappe mir ihr Handy. Da ist sie, im Porträtmodus, 1,80 Meter groß, mit den Füßen fest im Schnee stehend. »Zeig mir deinen Wesenskern.«
Sie schiebt ihre Fäuste in die Taschen ihrer Jacke, lächelt mich von der Seite an und lehnt sich an das Brückengeländer. Ihr Wesenskern - perfekt destilliert in einer einzigen Pose, als wüsste sie unmissverständlich, wer sie ist.
Ich mache das Foto.
Sie streckt die Hand nach mir aus. »Noch eins«, murmelt sie, bevor sie einen Arm um meine Taille schlingt. Ich weiß, dass ich ihren Körper nicht wirklich spüren kann unter all den Klamottenschichten, aber ich stelle es mir vor. Ich stelle mir vor, wie es wäre, ihre Haut an meiner Haut zu spüren. Ich kann den Eierlikör riechen, die Ahorn-Speck-Donuts von Voodoo und den Duft des frisch gebackenen Brotes, der ihrer Kleidung anhaftet. Sie sieht aus, als sollte sie nach Kiefern und Lagerfeuer riechen, nach den wilden und ungezähmten Gegenden des Pazifischen Nordwestens der USA. Nach Regenwasser, feuchter Erde und Moos.
Aber in Wirklichkeit riecht sie nach Brot. Nach Wärme. Wie etwas, das dich satt macht.
»Ich zähle bis drei«, beginnt sie, und auf dem Bildschirm ihres iPhones kann ich unsere Gesichter sehen, Wange an Wange. Ich und neben mir das schöne Mädchen mit der unpraktischen Jacke und dem halbmondförmigen Lächeln. Schneeflocken in ihrem schwarzen Haar und die Lichter der Stadt, die hinter uns funkeln.
Wir lächeln beide.
»Eins . zwei . drei.«
Ihr Daumen wischt über das Display, um das Foto aufzurufen, und ich starre das Mädchen an, das festgehalten wurde.
»An einem Schneetag«, sage ich, »kann man eine andere werden.«
Den Arm immer noch um meine Taille gelegt, fragt sie: »Wer möchtest du denn sein?«
Kein unbeholfenes Achselzucken. Ich möchte eine Person sein, die eine...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.