Schweitzer Fachinformationen
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Eli war dreizehn, als er Harry zum zweiten Mal begegnete.
Er war in die unschöne Phase der Pubertät eingetreten, in der sich sein Körper hatte entscheiden müssen, ob er zuerst wachsen oder zunehmen wollte. In Elis Fall war eindeutig Letzteres eingetreten. Er war noch keinen Meter fünfzig groß, hatte aber vergangenen Sommer die fünfundsechzig Kilo überschritten. Seitdem war er nicht mehr auf die Waage gestiegen, obwohl seine Mutter ihm versichert hatte, dass sich letztlich alles einpendeln würde.
Mr. Jackson ließ ihn an diesem Tag eine halbe Stunde früher gehen, weil er alle Regale sortiert hatte und es nichts mehr zu tun gab. So früh in der Saison bestand kaum die Chance, dass es kurz vor Schluss noch zu einem Ansturm kam. Eigentlich gab es zu keiner Jahreszeit einen Ansturm auf irgendein Geschäft in Sanders. Eli war sich ziemlich sicher, dass sich Sanders ohne die Fremden (wie seine Oma die Touristen immer nannte), die kein Motel näher am Strand gefunden hatten, lange vor seiner Geburt aufgelöst hätte wie ein Furz im Wind.
Wenn er Glück hatte, würde er Corey und Josh noch erwischen. Vor einer Stunde waren sie bei Jackson's vorbeigekommen, um ein paar Zeitschriften und Comics und ein Sixpack Mountain Dew zu kaufen. Sie waren auf dem Weg zu den Tribünen gewesen, wo sie bis zum Einbruch der Dunkelheit rumhängen würden. Josh hatte angedeutet, dass vielleicht auch Mädchen da wären. Keine Mädchen wie Robin, die ziemlich cool und eigentlich eher ein Junge war, sondern solche wie Nicole, die schon im ersten Jahr an der Highschool bei den Cheerleadern war und mindestens einmal pro Woche in Minirock und Kniestrümpfen zur Schule kam.
Eli trug sein Zehn-Gang-Rennrad aus dem Verkaufsraum, trat in die Pedale und fuhr hinter dem Video Emporium vorbei zum Founders House. Es war ein Umweg zum Baseballfeld, aber besser, als am Pizza Pub und an der Feuerwache vorbeizufahren. Die kleine Rasenfläche dazwischen war Zeke Millers Lieblingsplatz, und Eli hatte heute keine Lust, sich mit dem Kleinstadttyrannen auseinanderzusetzen.
Eigentlich hatte er nie Lust, sich mit Zeke auseinanderzusetzen. Sein Leibesumfang machte ihn zu einem einfachen Ziel. In vielerlei Hinsicht.
Das Founders House ragte vor ihm auf. Es erstreckte sich über einen kleinen Hügel. Der weiße Anstrich war im Laufe der Zeit vergilbt und drei der vier Fenster gesprungen, aber keines richtig kaputt. Eli konnte sich nie entscheiden, ob es eher wie ein großes Herrenhaus oder wie ein Nobelhotel aussah. Er hatte dort noch nie jemanden gesehen, den er hätte fragen können, und selbst wenn, hätte es ihn nicht genug interessiert. Das Founders House stand einfach da, nicht ganz in der Mitte des Orts, und tat nichts, außer von Jahr zu Jahr älter zu werden. Es kursierten nicht mal irgendwelche guten Geschichten darüber. Keine Selbstmorde oder Landstreichermorde oder wütenden Gespenster oder so.
Sanders war zu langweilig, um auch nur ein anständiges Spukhaus zu haben.
Wie auf ein Zeichen zersprang klirrend eines der Fenster. Eli zog die Bremse und kam schlitternd zum Stehen. Er hörte das Kichern, kurz bevor der nächste Stein von seinem Lenker abprallte. Er riss die Hände weg, und das Gelächter wurde lauter.
»Was suchst du, Flea-lie?« Zeke ließ einen weiteren Stein auf der Handfläche hüpfen und schien sich kaum zurückhalten zu können. Für jeden Zentimeter, den Eli in den letzten Jahren nicht gewachsen war, hatte Zeke zwei abbekommen. Er trainierte sogar schon mit dem Footballteam, obwohl er erst nächstes Jahr spielberechtigt war.
Zekes bester - und wahrscheinlich einziger - Freund Dougie leistete ihm Gesellschaft. Die beiden standen am Fuß des Hügels auf der gekiesten Nebenstraße, die zum Baseballfeld führte. Im hohen Gras hinter ihnen lagen ihre Räder.
»Nichts, Zeke.« Eli seufzte. Er warf einen Blick auf die Straße und überlegte, ob er entkommen könnte, ohne einen Stein an den Hinterkopf zu kriegen. Zeke zielte nicht besonders gut, aber es genügte. Und Eli war ein einfaches Ziel.
Rauch kräuselte sich aus Dougies Hand. Elis Blick wurde davon angezogen. Er sah nicht zum ersten Mal einen Klassenkameraden mit einer Zigarette, trotzdem war er verblüfft. Es war albern, aber in seiner Vorstellung war Rauchen etwas für Studenten und Erwachsene.
Dougie bemerkte die Bewegung seiner Augen. Seine Miene verhärtete sich. »Du verpfeifst uns doch nicht, oder, Fettsack?«
Eli schüttelte den Kopf. Wenn er nicht angehalten hätte, wäre er bereits an ihnen vorbei und auf dem Weg zum Footballfeld. Wahrscheinlich hätte er schon Corey und Josh getroffen. Und vielleicht Nicole.
»Und?«, fuhr Zeke ihn an. Wie immer, wenn er aufgeregt war, ging seine Hand auf und zu, auf und zu. Alle nannten es seine Spastifaust. »Antworte ihm. Verpfeifst du uns, oder hältst du die Klappe?«
»Ja«, stöhnte Eli.
Ein Grinsen verzog Zekes breiten Mund. »Ja, du hältst die Klappe, oder ja, du verpfeifst uns?«
Elis Brust sackte ein. Sein Bauch spannte am Bund der Jeans. Er hatte dieses Spiel mit Zeke schon öfter gespielt. Zu oft. Deshalb war er unvorbereitet, als sich die Regeln änderten.
Der Stein traf ihn knapp über dem rechten Auge an der Braue. Der Aufprall hallte durch seinen Schädel, und einen Moment lang erschlafften die Muskeln in Hals, Rücken und Beinen.
Er klammerte sich an den Lenker, aber das Fahrrad drohte, mit ihm umzukippen.
Zeke und Dougie kicherten. »Ich glaube, er fängt an zu heulen«, sagte der Junge mit dem Affengebiss.
»Heult wie ein kleines dickes Mädchen«, sagte Dougie.
Elis Beine wurden wieder fest. Die Welt schwankte nicht länger. Er streckte die Knie durch und richtete das Rad auf. Ein paar Regentropfen fielen auf seinen Handrücken.
Zekes Augen weiteten sich. »Scheiße«, murmelte er. Er ließ einen weiteren Kiesel auf den Boden fallen.
Eli blickte zu dem grauen, aber wolkenlosen Himmel auf. Dann sah er auf seine Hand. Die Regentropfen waren dunkelrot.
Er wischte sich über die Stirn. Seine Augenbraue schmerzte und war klebrig. Ein roter Fleck blieb auf seiner Hand zurück.
»Hey«, sagte Zeke. Er räusperte sich. »Hey, Eli. Alles in Ordnung?«
Beleidigungen, Schläge, Kindern zwischen den Stunden auf dem Flur ein Bein stellen und sie herumschubsen - das alles war nicht angenehm, wurde aber geduldet. Blutige Wunden nicht. Jeder wusste, dass es Regeln gab, selbst für einen Schläger.
Eli zitterte am ganzen Leib. Kampf-oder-Flucht-Reaktion nannte das sein Biolehrer. Eli kannte das Gefühl nur zu gut.
»Entschuldigung«, sagte Zeke. »Ich glaube nicht . ich glaube nicht, dass es so schlimm ist, wie es aussieht.«
Eli stellte den Fuß aufs Pedal und trat. Das Rad rollte an der Vorderseite des Founders House entlang. Das andere Pedal kam nach oben, und er stieß es mit den Zehen hinab.
Zeke folgte ihm ein paar Schritte. »Eli«, rief er.
Eli stellte sich auf die Pedale und trat mit aller Kraft. Davonzukommen war das einzig Wichtige, und er hasste sich dafür. Als er das Founders House halb hinter sich gelassen hatte, hörte er, wie Zeke ihm nachrief und Dougie lachte.
Ein paar Minuten später ließ er das Fahrrad im Leerlauf rollen, wischte sich über die Augen und sah sich um. Er war den Hügel hinaufgefahren und hatte den Ortskern halb umrundet, sodass er fast wieder die Main Street erreicht hatte. Er war auf der Cross Road, genau zwischen den beiden Kirchen. Auf seiner Straßenseite stand die in hellen Farben gestrichene katholische Kirche und schräg gegenüber die dunkle protestantische. Die Cross Road trug ihren Namen nicht wegen der Kirchen, aber es war ein günstiger Zufall. Sie kreuzte auch keine anderen Straßen, sondern endete an beiden Seiten an einer T-Kreuzung.
Seine Augenbraue war immer noch klebrig, und er wischte sie mit seiner feuchten Hand ein wenig ab. Als er mit den Fingern über die Jeans rieb, blieb ein dunkler Fleck zurück, den nur eine Mutter entdecken konnte. Mit Hilfe von etwas Spucke wischte er noch mehr ab.
Er sah zur katholischen Kirche auf. Die Türen waren groß und aus massivem Holz, aber er wusste, dass es eine Hintertür zum Keller gab, die ein Fenster hatte. Da die Sonne schon tief über den Bäumen stand, würde er sich in der Scheibe spiegeln und die Wunde säubern können. Wenn er Glück hatte, würde es als Fahrradunfall durchgehen. Für ein dickes Kind war das erste Jahr an der Highschool schwer genug, ohne dass seine Mutter herumtelefonierte und Beschuldigungen aussprach.
»Verflixt!«
Der Ausruf ließ ihn zusammenzucken. Zeke hatte beschlossen, man müsse sich wegen ein bisschen Blut keine Sorgen machen, und hatte wahrscheinlich die Tasche voller Steine. Aber der Augenblick ging vorbei, und Elis Atem beruhigte sich. Es war weder Zekes noch Dougies Stimme gewesen. Ein metallisches Klirren ertönte.
Eli fuhr an den Büschen vorbei, um auf den Parkplatz der Protestanten zu spähen. Weit hinten, halb im Schatten verborgen, stand ein altes Auto. Dahinter entdeckte Eli eine schlanke Gestalt, die in einer universellen Geste des unerwarteten Schmerzes die Hand schüttelte.
Eine Erinnerung regte sich. Eli vergaß die verletzte Augenbraue und Zeke und seine Mutter. Mit einem Tritt ließ er das Rad über die Straße rollen. Eine weitere Umdrehung beförderte ihn auf den Parkplatz.
Er erinnerte sich an einen Film im Geschichtsunterricht über Henry Ford und Fließbänder, in dem solche Autos vorgekommen waren. Dieses war dunkelblau und hatte Schutzbleche über den...
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