Schweitzer Fachinformationen
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Jetzt war August. Das Meer war warm und jeden Tag wärmer.
Alex wartete, bis eine Reihe von Wellen zu Ende war, bevor sie sich einen Weg ins Wasser bahnte, mit stapfenden Schritten, bis es tief genug war für einen Kopfsprung. Einige kraftvolle Schwimmzüge und sie war draußen, jenseits der Brandung. Das Wasser war ruhig.
Von hier aus war der Sand makellos. Das Licht - das berühmte Licht - gab dem Ganzen etwas Liebliches und Mildes: dem dunklen europäischen Grün des Buschwerks, dem Dünengras, das sich in flüsterndem Einklang wiegte. Den Autos auf dem Parkplatz. Selbst den Seemöwen, die einen Mülleimer umschwärmten.
Am Ufer waren die Handtücher von gelassenen Strandgängern besetzt. Ein Mann mit der Bräune teurer Ledertaschen stieß ein Gähnen aus, eine junge Mutter wachte über ihre Kinder, die zur Brandungslinie hin und zurück rannten.
Was würden sie sehen bei Alex' Anblick?
Im Wasser war sie genau wie alle anderen. Nichts Ungewöhnliches an einer jungen Frau, die allein im Meer schwamm. Unmöglich zu sagen, ob sie hierhergehörte oder nicht.
Als Simon zum ersten Mal mit ihr an den Strand gegangen war, hatte er am Eingang seine Schuhe abgestreift. Das machten anscheinend alle: Vor dem niedrigen Holzgeländer stapelten sich Schuhe und Sandalen. Und die nimmt keiner mit?, hatte Alex gefragt. Simon zog die Augenbrauen hoch. Wer würde denn anderer Leute Schuhe mitnehmen?
Doch das war Alex' erster Gedanke gewesen - wie einfach es wäre, hier draußen Sachen mitgehen zu lassen. Alle möglichen Sachen. Die Fahrräder, die am Zaun lehnten. Die Taschen, unbeaufsichtigt auf Handtüchern. Die Autos, die unabgeschlossen blieben, denn niemand wollte seine Schlüssel am Strand dabeihaben. Ein System, das nur funktionierte, weil alle glaubten, sie seien unter ihresgleichen.
Bevor Alex zum Strand aufgebrochen war, hatte sie eine von Simons Schmerztabletten geschluckt, Überbleibsel einer lang vergangenen Rückenoperation, und schon hatte sich die vertraute Watte über sie gelegt, und das Salzwasser ringsum wirkte zusätzlich narkotisierend. Ihr Herz klopfte angenehm, merklich, in der Brust. Wie kam es, dass man sich im Meer wie ein so guter Mensch fühlte? Sie ließ sich auf dem Rücken treiben, ihr Körper bewegte sich leicht im Hin und Her der Strömung, die Augen geschlossen gegen die Sonne.
Am Abend würde es eine Party geben bei einer Freundin von Simon. Oder einer Geschäftsfreundin - all seine Freunde waren Geschäftsfreunde. Bis dahin endlose Stunden, die es zu verschwenden galt. Simon würde den Rest des Tages arbeiten, Alex wäre sich selbst überlassen, wie schon die ganze Zeit über, die sie hier draußen waren - fast zwei Wochen inzwischen. Es machte ihr nichts aus. Sie war fast jeden Tag an den Strand gefahren. Hatte sich in stetem, aber, wie sie hoffte, unmerklichem Tempo durch Simons Schmerzmittelvorrat gearbeitet. Und hatte Doms zunehmend verstörende Nachrichten ignoriert, was relativ einfach war. Er hatte keine Ahnung, wo sie war. Sie versuchte seine Nummer zu blockieren, doch er kam mit irgendwelchen neuen durch. Bei nächster Gelegenheit würde sie ihre eigene Nummer ändern lassen. Am Morgen hatte Dom weiteres Gift verspritzt:
Alex
Antworte mir
Auch wenn die Nachrichten noch immer ein Schlingern in ihrem Magen auslösten, brauchte sie nur vom Telefon aufzublicken, und alles schien handhabbar. Sie war in Simons Haus, die Fenster geöffnet auf reines Grün. Dom war in einer anderen Sphäre, einer, bei der sie so tun konnte, als existiere sie kaum noch.
Alex ließ sich noch immer auf dem Rücken treiben, öffnete die Augen, desorientiert vom Knallen der Sonne. Sie richtete sich auf, mit Blick zum Ufer: Sie war weiter draußen als gedacht. Viel weiter. Wie war das passiert? Sie versuchte Kurs auf den Strand zu nehmen, schien aber nicht vom Fleck zu kommen, ihre Schwimmzüge wurden vom Wasser verschluckt.
Sie holte Luft, versuchte es erneut. Ihre Beine strampelten heftig. Ihre Arme ruderten. Es war unmöglich abzuschätzen, ob das Ufer näher rückte. Noch ein Versuch, immer geradeaus, noch mehr nutzloses Schwimmen. Die Sonne brannte ohne Unterlass, die Horizontlinie wankte: Es war alles zutiefst indifferent.
Das Ende - es war gekommen.
Das war die Strafe, sie war sich dessen sicher.
Seltsam aber, wie dieser Schrecken nicht anhielt. Er durchfuhr sie nur, verschwand so augenblicklich, wie er gekommen war.
Etwas anderes trat an seine Stelle, eine Art reptilienhafte Neugier.
Sie erwog die Entfernung, erwog ihre Herzfrequenz, veranschlagte ruhig die Elemente, die im Spiel waren. War sie nicht immer gut darin gewesen, die Dinge klar zu sehen?
Zeit, den Kurs zu wechseln. Sie schwamm parallel zum Ufer. Ihr Körper übernahm die Führung, erinnerte sich an die Bewegungen. Sie ließ kein Zögern zu. Irgendwann begann das Wasser, ihr weniger kraftvoll zu widerstehen, und dann kam sie voran, dem Ufer immer näher, und dann nah genug, dass ihre Füße den Sand berührten.
Sie war außer Atem, ja. Ihre Arme schmerzten, der Herzschlag wummerte arrhythmisch. Sie war viel weiter unten am Strand gelandet.
Aber okay - sie war okay.
Die Angst war schon vergessen.
Keiner am Ufer bemerkte sie, keiner sah ein zweites Mal hin. Ein Pärchen ging vorbei, die Köpfe gebeugt, suchte den Sand nach Muscheln ab. Ein Mann in Watstiefeln steckte eine Angelrute zusammen. Gelächter schwebte herüber von einer Gruppe unter einem Sonnenzelt. Wenn Alex in echter Gefahr gewesen wäre, hätte sicherlich irgendjemand reagiert, einer dieser Menschen wäre eingeschritten, um zu helfen.
Es machte Spaß, Simons Auto zu fahren. Es war beängstigend ansprechbar, beängstigend schnell. Alex hatte sich nicht die Mühe gemacht, den Badeanzug auszuziehen, und das Lederpolster war siedend heiß an ihren Oberschenkeln. Selbst bei gutem Tempo und heruntergelassenen Fenstern war die Luft satt und warm. Welches Problem musste Alex in diesem Moment lösen? Keins. Keine Variablen, die es zu berechnen galt; das Schmerzmittel verrichtete noch seine gute Arbeit. Im Vergleich zur Stadt war das hier das Paradies.
Die Stadt. Sie war nicht in der Stadt, und zwar Gott sei Dank.
Wegen Dom, natürlich, aber nicht ausschließlich. Bereits vor Dom hatte das Ganze einen Beigeschmack bekommen. Im März war sie sang- und klanglos zweiundzwanzig geworden. Sie hatte ein hartnäckiges Gerstenkorn, das ihr linkes Augenlid auf unschöne Weise hängen ließ. Das Make-up, das sie zum Kaschieren auftrug, machte die Sache nur schlimmer: Es infizierte sich erneut, pochte über Monate vor sich hin. Letztendlich hatte sie sich in einer ambulanten Klinik ein Antibiotikum verschreiben lassen. Jeden Abend zog sie an ihren Lidern und quetschte sich eine Spur Salbe direkt in die Augenhöhle. Nur aus dem linken Auge strömten unfreiwillige Tränen.
Alex fiel immer öfter auf, dass wildfremde Menschen sie in der Subway oder auf den Gehwegen, wollen von Neuschnee, auf eine gewisse Art anschauten. Den Blick verweilen ließen. Eine Frau in einem karierten Mohairmantel betrachtete Alex mit nervenaufreibender Konzentration, die Miene verzerrt vor offenbar wachsender Besorgnis. Ein Mann, dessen Handgelenke weiß waren vom Gewicht zahlreicher Plastiktüten, starrte Alex an, bis sie schließlich aus der Bahn stieg.
Was sahen die Leute in ihrer Aura, welcher Gestank ging von ihr aus?
Vielleicht bildete sie es sich nur ein. Vielleicht aber auch nicht.
Mit zwanzig war sie erstmals in die Stadt gekommen. Damals, als sie noch die Energie dazu hatte, einen falschen Namen zu verwenden, und noch glaubte, solche Aktionen hätten einen Wert, solche Aktionen bedeuteten, dass das, was sie tat, eigentlich nicht in ihrem wahren Leben passierte. Damals, als sie noch Listen führte: Wo sie überall mit den Männern gewesen war. Restaurants, wo Brot und Butter in Rechnung gestellt wurde, Restaurants, wo die Serviette neu gefaltet wurde, während man zur Toilette ging. Restaurants, wo es nur Steak gab, rosa, aber geschmacklos und dick wie ein gebundenes Buch. Frühstücksbuffets in Mittelklassehotels, mit unreifen Erdbeeren und überzuckertem Saft, schlackig vor Fruchtfleisch. Doch die Listen verloren schnell...
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