Schweitzer Fachinformationen
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Seit ihrer Geburt lebt Pearl im Auto, sie vorne, ihre Ausreißer-Mutter auf der Rückbank. Vierzehn Jahre stehen die beiden jetzt schon am Rande eines Trailerparks irgendwo in Florida. Draußen vor der Windschutzscheibe ist die Welt den Waffen verfallen: Kinder wachsen mit Pistolen statt Haustieren auf, Schießübungen immer und überall, mal Alligatoren, mal den Fluss, mal Polizisten im Visier, und sonntags sitzt man beim Gottesdienst mit der geschulterten Schrotflinte in der ersten Reihe. Doch im Ford Mercury wirken andere Kräfte, hier lernt Pearl das Träumen. Bis ein schöner Mann und seine Pistolen alles verändern . Gun Love handelt vom Zauber zwischen Mutter und Tochter inmitten des Irrsinns. In strahlenden Bildern erzählt Jennifer Clement eine Geschichte, in der Liebe und Hass, Fantasie und Wirklichkeit haltlos ineinanderfallen. Das literarische Stimmungsbild einer ganzen Nation.
ICH? ICH WUCHS in einem Auto auf, und wenn man im Auto lebt, hat man keine Angst vor Blitz und Donner, das Einzige, wovor man Angst hat, ist der Abschleppwagen.
Als meine Mutter und ich in den Mercury zogen, war sie siebzehn und ich gerade geboren. Unser Auto stand am Rande eines Trailerparks mitten in Florida und war das einzige Zuhause, das ich je hatte. Wir lebten von einem Moment zum anderen und machten uns kaum Gedanken um die Zukunft.
Den Wagen hatte meine Mutter zu ihrem sechzehnten Geburtstag bekommen.
Ein alter Mercury Topaz Automatik, der früher mal rot war und inzwischen mit mehreren Schichten Weiß bemalt, da meine Mutter ihn alle paar Jahre neu anstrich, als wäre er ein Haus. Die rote Farbe blitzte noch unter den Schrammen und Kratzern durch. Durch die Frontscheibe sah man den Trailerpark und ein großes Schild, auf dem stand: WILLKOMMEN IM INDIAN WATERS TRAILERPARK.
Auf dem Schild, vor dem wir parkten, stand Besucherparkplatz. Meine Mutter dachte, wir würden nur ein oder zwei Monate bleiben, aber dann wurden es vierzehn Jahre.
Wenn hin und wieder jemand fragte, wie es sich in einem Auto lebte, antwortete sie, Man überlegt dauernd, wo man duschen kann.
Das Einzige, was uns wirklich Sorgen bereitete, war, dass irgendwann das Jugendamt kam. Meine Mutter hatte Angst, dass jemand von der Schule oder von ihrer Arbeit bei der Missbrauchshotline anrief und man mich zu einer Pflegefamilie brachte.
Sie kannte die ganzen Abkürzungen auswendig wie das R.I.P. auf den Grabsteinen: CPS, Child Protective Services; FCP, Foster Care Plus; und FF, Family Finding.
Wir dürfen uns nicht mit zu vielen Leuten anfreunden, sagte meine Mutter. Irgendwer will immer den Heiligen spielen und sich einen Stuhl im Himmel sichern. Ein Freund kann schnell zum Richter werden.
Seit wann ist im Auto leben Missbrauch?, fragte sie, ohne eine Antwort von mir zu erwarten.
Der Platz lag in Putnam County. Das Gelände war gerodet worden, so dass mindestens fünfzehn Wohnwagen draufpassten, es waren aber nur vier besetzt. In einem davon wohnte meine Freundin April May mit ihren Eltern Rose und Sergeant Bob. Pastor Rex hatte einen für sich allein, und Mrs Roberta Young und ihre erwachsene Tochter Noelle den direkt neben dem verwahrlosten Spielplatz. Ganz hinten, weit weg vom Eingang und unserem Auto, lebte ein Mexikanerpärchen, Corazón und Ray.
Das hier war nicht der Süden von Florida bei den warmen Stränden am Golf von Mexiko. Wir waren weder in der Nähe der Orangenplantagen noch von St. Augustine, der ältesten Stadt von Amerika. Und auch nicht in den Everglades, wo Moskitoschwärme und ein dichtes Rankendach empfindliche Orchideen schützten. Nach Miami, wo es kubanische Musik gab und Straßen voller Cabrios, war es ein weiter Weg. Selbst Disney's Animal Kingdom und Magic Kingdom waren weit weg. Wir lebten im Nirgendwo.
Der Trailerpark lag zwischen zwei Highways und einem Bach, den wir Fluss nannten, der aber nur ein Nebenflüsschen vom St. Johns River war. Hinter ein paar Bäumen lag die Müllkippe der Stadt. Wir atmeten den ganzen Müll ein. Gase von Rost und Verwesung, korrodierte Batterien, faulendes Essen, tödliche Krankenhausabfälle, Medikamentendämpfe und Schwaden von Reinigungschemikalien.
Meine Mutter sagte, Wer bitte rodet heiliges Indianerland für einen Trailerpark und eine Müllkippe? Dieses Land gehört den Timucua, ihre Geister sind überall. Wenn du einen Samen säst, wächst etwas anderes daraus. Säst du eine Rose, kommt eine Nelke aus dem Boden. Säst du einen Zitronenbaum, schenkt dir die Erde eine Palme. Säst du eine Weiß-Eiche, wächst dort ein großer Mann. Der Boden hier ist völlig durcheinander.
Meine Mutter hatte recht. In unserem Teil von Florida lief alles durcheinander. Das Leben war wie ein Schuh am falschen Fuß.
Wenn ich die Schlagzeilen der Zeitungen las, die neben den Süßigkeiten an der Supermarktkasse auslagen, wusste ich, dass Florida etwas von einem wollte. Da stand: RUF NIEMALS DIE POLIZEI, KAUF DIR EINE WAFFE; BÄR KEHRT NACH UMSIEDLUNG IN DIE STADT ZURÜCK; MEXIKANISCHES HEROIN FORDERT VIER TODESOPFER und AUS HURRIKAN WIRD BEWÖLKTER TAG.
Eines Tages im Sommer tauchten in der Nähe vom Fluss siamesische Zwillingsalligatoren auf. Mit vier Beinen und zwei Köpfen.
Meine Freundin April May hatte sie entdeckt. Sie war am Fluss gewesen und hatte die Alligatorenbabys im Sand neben dem kleinen Steg liegen sehen. Die weiße Eierschale klebte noch an ihrem gemeinsamen schuppigen Rücken.
April May blieb nicht lange. Sie wusste, was wir alle wussten: Wo ein Alligator-Ei ist, ist auch eine wütende Alligator-Mutter.
Nachdem sich die Nachricht auf dem Gelände herumgesprochen hatte, liefen wir alle an den Fluss, um zu sehen, ob die Babys noch da waren. Kaputte Eierschalenstückchen lagen um die Alligatoren herum, die sich keinen Zentimeter vom Ort ihrer Geburt entfernt hatten. Und die Alligator-Mutter ließ sich einfach nicht blicken. Die Babys waren kaum größer als Küken.
Am nächsten Morgen tauchten die ersten Lokalreporter auf. Gegen Nachmittag trafen die Fernsehsender in Trucks mit ihrem Filmequipment ein. Am frühen Abend hatte jemand eines der vier Beine mit blauem Nähgarn an einer Palme festgebunden, damit das Tier nicht weglaufen konnte.
Zwei Tage lang war der ansonsten leere Besucherparkplatz voll mit Autos und Ü-Wagen samt Ausrüstung. Unsere kleinen siamesischen Zwillingsalligatoren, geboren auf unserem Puzzlestück Land, waren landesweit in den Nachrichten.
Nur eine Reporterin, eine große, schlanke Schwarze mit hellgrünen Augen und CNN-Baseballcap, interessierte sich für unser Auto. Aus irgendeinem Grund blieb sie auf dem Weg zum Fluss zufällig vor unserem offenen Wagenfenster stehen.
Meine Mutter war bei der Arbeit. Sie arbeitete als Putzfrau im Veteranenkrankenhaus. Ich war gerade aus der Schule gekommen und schmierte mir auf dem Armaturenbrett ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade.
Die Reporterin steckte den Kopf durchs Fenster und sah sich um.
Wohnst du hier drin?, fragte sie mit Blick auf die Rückbank.
Ich nickte.
Ist das von dir? Hast du das gemalt?, fragte sie und zeigte auf eine Kreidezeichnung vom Sonnensystem, die mit Tesafilm an die Rückseite des Fahrersitzes geklebt war.
Sie trug einen goldenen Ehering und einen Verlobungsring mit dickem Diamanten.
Ich schaute bei Frauen immer auf die Hände, um zu sehen, ob sie verheiratet waren. Meine Mutter meinte, ein Ring sei für die Liebe so etwas wie ein Reisepass oder Führerschein.
Ich nickte und legte das Brot, das ich mit einer dicken Schicht Blaubeermarmelade beschmiert hatte, zurück auf den Teller.
Nein, nein, mach ruhig weiter, sagte sie. Ich würde gern mit dir über die Alligatorenbabys sprechen, okay? Aber zuerst muss ich dir ein paar Fragen stellen. Wie alt bist du?
Ich bin neun.
Ich musste die ganze Zeit auf ihre goldenen Love-Forever-Ringe starren.
Ich war damals neun. Ich erinnere mich genau daran, weil die Alligatoren in der Woche vor meinem zehnten Geburtstag auftauchten. Mein Leben im Auto besteht für mich außerdem aus zwei Teilen - bevor meine Mutter Eli Redmond kennenlernte und danach. Diese beiden Wörter - »bevor« und »danach« - gehörten auf eine Uhr.
Du lebst also in diesem Auto?, fragte die Reporterin. Sie hatte den Kopf fast komplett durchs Fenster gesteckt. Wie heißt du?
Pearl.
Wie lange lebst du hier schon?
Seit ich ein Baby bin.
Und wie macht ihr das mit der Toilette?, fragte sie.
Wir benutzen die auf dem Platz, vom Trailerpark. Neben dem Spielplatz. Manchmal drehen sie das Wasser ab, wenn es wegen der Müllkippe schlecht riecht. Dann gehen wir zu McDonald's und putzen uns da die Zähne. ...
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