Schweitzer Fachinformationen
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Es sieht aus wie das Königreich Oz, denke ich, als in der Frontscheibe von Daves Jeep Manhattan in Sicht kommt. Die überfüllten Türme mit ihrem Glas und Metall ragen in den Himmel und sehen im Mittagsdunst weit entfernt aus, mythisch, mehr Idee als Gebäude. Wir fahren in dichtem Verkehr, der schnell und gleichmäßig dahinfließt. Einen Monat zuvor, auf der Fahrt vom Lenox Hill Hospital zur Entzugsklinik in White Plains, hatte ich die hinter uns zurückfallende Stadt gar nicht wahrgenommen. Geredet haben wir damals so wenig wie jetzt.
Dave spielt Musik, die ich nicht kenne. Eine rauchige Frauenstimme heult ernst und ironisch zugleich neben einer Akustikgitarre her. Er sagt mir, wie die Sängerin heißt, ein Name, der eher nach einem Kaufhaus klingt. Er vergleicht sie mit einer anderen Sängerin, die ich nicht kenne, und mir ist, als hätte ich eine von Grund auf vertraute Sprache verlernt. Sechs Wochen war ich in Lenox Hill und im Entzug, aber es kommt mir wie Jahre vor, Jahre, in denen neu aufgetauchte Bands verschwunden, Filmsensationen in Vergessenheit geraten sind, Bücher heftig diskutiert oder glatt übergangen wurden und das Glücksrad des Kulturbetriebs sich weiterdrehte, um neue Namen auszuwerfen. Dave erzählt mir von einem Theaterstück, das er und Susie gerade gesehen haben, und ich schrumpfe in meinem Sitz auf Kindergröße zusammen. Oz ragt vor uns noch höher über den Horizont.
Es ist Anfang April, ein Montag. Wir sind unterwegs zu Daves Schreibstudio in der Charles Street im West Village. Er hat es mir für ein paar Wochen als Bleibe angeboten, solange ich mir eine Wohnung suche. Ich habe gerade vier Wochen in einer kleinen Alkohol- und Drogen-Entzugsklinik auf dem Gelände einer alten Heilanstalt hinter mir. Dorthin hatte mich Dave nach meiner Entlassung aus der psychiatrischen Abteilung von Lenox Hill gebracht, und da war ich nach einer zwei Monate dauernden Drogenorgie gelandet, die mit einer Handvoll Schlaftabletten, einer Flasche Wodka, einer zugebauten Crackpfeife und einem Krankenwagen endete. Die kleine Literaturagentur, die ich vier Jahre als Mitinhaber geleitet habe, gibt es nicht mehr, all meine Klienten haben sich neue Agenten gesucht, unsere Angestellten haben neue Jobs oder sind weg aus New York, und weg ist auch das Geld, das ich mal hatte; geblieben sind wachsende Schulden bei Anwälten, Krankenhäusern und Entzugskliniken. Die acht Jahre dauernde Beziehung mit meinem Freund Noah ist vorbei, und die Wohnung in der Fifth Avenue Nr. 1, die ihm seine Großmutter gekauft hat und in der wir vier Jahre zusammengewohnt haben, ist nicht mehr mein Zuhause. Ich kann in Daves Studio schlafen, aber von zehn bis fünf muss ich raus, damit er arbeiten kann.
Anderer Song - die Frau spricht jetzt eher, als dass sie singt, begleitet von einem Cello -, und ich frage mich, was ich den ganzen Tag machen, wie ich die Zeit ausfüllen, wohin ich gehen soll.
Willst du das auch wirklich?, fragt Dave vorsichtig. Hältst du es für richtig, wieder herzukommen? Er stellt die Musik leise und sieht auf die Straße, während er meine eigenen Bedenken ausspricht. Ich weiß gar nichts. Ich bin vierunddreißig. Arbeitslos. Unvermittelbar in dem Metier, in dem ich zwölf Jahre lang tätig war. Ein beängstigender Berg Papier wartet auf mich: die Vergleichsvereinbarung mit meiner Geschäftspartnerin Kate zur Auflösung der Agentur, Anwaltsrechnungen, Krankenhausrechnungen und Versicherungsformulare sowie E-Mails und Briefe - wütend, liebevoll, und alles, was dazwischenliegt - von Freunden, früheren Kollegen und Angehörigen. Der Entzug kostet mindestens vierzigtausend Dollar, wenn nicht noch viel mehr. Meine Schwester Kim, die in Maine lebt, kümmert sich um die Rechnungen, die Konten, den Anwalt, wenn sie nicht gerade ihre beiden Zwillingssöhne zur Schule, zu Freunden und zum Baseballtraining fährt oder sie von dort abholt, und wir haben vor, alles bis ins Kleinste und Schwierigste durchzugehen, sobald ich bei Dave eingezogen bin.
Ich bin mit meinem Paten Jack zu einem Abendmeeting im West Village verabredet - einem Anfängertreffen, wie er es nennt. Jack habe ich am dritten oder vierten Tag im Krankenhaus kennengelernt. Nach meinem holprigen, schreck- und schamerfüllten Einstand dort - ich wollte niemanden sehen, mit niemandem reden - ließ ich mich schließlich auf ein Gespräch mit ihm ein, dem Freund eines Freundes, so alt wie ich, Ringellocken, jungenhaft, schwul, und er bot sich mir als Pate an - so etwas wie ein Coach/großer Bruder/Führer in einer Gruppe für Alkoholkranke und Drogensüchtige. Im Entzug sollte ich erfahren, dass es viele solcher Gruppen gibt - auf Beitragsbasis oder auch nicht, meist mit organisierten Versammlungen -, in denen Suchtkranke wie ich Hilfe suchen. Ich will Jacks Gruppe beitreten.
Dave hält vor einem efeuüberwucherten alten Apartmentgebäude in der Charles Street, zwischen Bleecker und West 4th. Ich steige aus und warte, während er hinterm Steuer noch telefoniert. Es ist still. Die Luft ist feucht, und das Nachmittagslicht sprenkelt die Straßen. Ein hochwangiges junges Pärchen läuft vorbei, beide sprechen wohl Russisch in ihre Handys. Eine Feuerwehrsirene heult. Ein gepflegter junger Mann, der eine Dogge an der Leine führt, beugt sich vor, um einen wohlgeformten Hundehaufen in eine Plastiktüte zu schaufeln. New York, denke ich. Ich bin wieder in New York. Ich sehe einen Mann mittleren Alters mit einem Ohrhörer, dessen Kabel in seiner beigefarbenen Windjacke verschwindet. Er sieht mich im Vorbeilaufen einen Tick zu lange an, und die vertraute alte Panik fährt mir durch den Brustkorb. Dave kommt um den Wagen herum, holt meine beiden Taschen vom Rücksitz und blafft: Komm, ich bin mit Susie verabredet. Ich nehme ihm eine Tasche ab, und als ich mich nach dem Mann mit der Windjacke umdrehe, ist er weg.
Auf einer überlaut knarrenden Treppe folge ich Dave in den dritten Stock, während er mir mitteilt, dass die alte Frau im zweiten unerhört empfindlich und zänkisch ist und ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit anruft, wenn ihr etwas nicht passt. Sagt er das, damit ich gar nicht erst auf die Idee komme, komische Sachen abzuziehen? Eine kleine Abwehrmauer, um zu verhindern, was er und alle anderen kommen sehen, jetzt wo ich wieder in New York bin: einen Rückfall.
Die Wohnung ist hell, ein Raum mit hohen Wänden, Kamin und einem von der Decke baumelnden kleinen Kronleuchter. Sie könnte die Bibliothek in einem viel größeren, schönen alten Haus sein. Daves Bücher säumen den Kaminsims und die Regale, und alte Teppiche bedecken den Boden. Die kleine braune Couch lässt sich zum Bett ausklappen, meiner Schlafstatt für die kommenden Wochen. Dave führt mich auf die Schnelle herum - Handtücher, Schlösser, ein Stapel Decken, komplizierte Fenster, Besteck, Tassen, Kaffeemaschine, Schlüssel -, und schon ist er weg. Ich hatte gedacht, wir könnten irgendwo einen Kaffee trinken gehen und uns gemütlich darüber unterhalten, wie alles werden sollte - du musst tapfer sein, du kannst auf mich zählen und so weiter -, aber er hilft mir lediglich beim Auspacken, weist mich noch mal auf die Nachbarin von unten hin, sieht mich besorgt an und sagt schnell tschüs.
Die Wohnung blickt auf den Garten hinter einer Villa. Eine minimalistische Oase: Buchsbaum, Teak, spiegelnder Pool. Die Villa hat große klare Fensterscheiben, durch die man im zweiten Stock erlesene Möbel aus den fünfziger Jahren sieht und im ersten die klaren Linien einer Küche aus Edelstahl, Marmor und, wie es scheint, Wildleder. Alles strahlt Ordnung und Wohlstand aus; ich kann kaum hinsehen. Ich schließe die Augen, und da erst höre ich das muntere Vogelkonzert. Es hört sich genauso an wie die Vögel, die auf dem Gelände der Entzugsklinik in den Bäumen saßen. Ich stelle mir vor, dass der Schwarm Daves Jeep von White Plains bis hierher gefolgt ist und sich jetzt im Gezweig niedergelassen hat, um mir zwitschernd und flötend ein wenig Mut zu machen.
He Leute, sage ich und erschrecke über den Klang meiner eigenen Stimme. Danke für die Begrüßung, rede ich leise weiter, und obwohl es mir peinlich ist, zu denken, die Vögel könnten mich heim nach New York begleitet haben, freue ich mich doch über jede Freundlichkeit von draußen, sei sie auch nur eingebildet. Ich lege mich auf die Couch und lausche.
Die Vögel singen weiter. Stimmen dringen von draußen herein. In der kleinen Küche brummt der Kühlschrank. Und schlagartig wird mir bewusst: Ich bin allein. Außer Dave weiß niemand genau, wo ich bin. Ich kann machen, was ich will. Wochenlang war ich in stationärer Behandlung, hatten Pfleger, Ärzte und Drogenberater den Daumen auf mir. Jetzt ist Schluss mit den Morgenappellen, Stationsmahlzeiten, den Kontrollen, ob um zehn auch alle im Bett sind. Ich bin allein und niemandem Rechenschaft schuldig. Und wie eine frisch entfachte Glut kommen mir meine alten Dealer, Rico und Happy, in den Sinn. Ich weiß, dass ich beiden je tausend Dollar schulde, und frage mich - trotz allem, was passiert ist, allen, die ich verletzt habe, trotz allem, was war -, wie ich an zweitausend Dollar komme, damit ich die Jungs bezahlen und wieder bei ihnen kaufen kann. Ich wühle mich durch gültige Kreditkarten und PIN-Codes. Plötzlich scheinen ein paar Tausend Dollar nicht ganz außer Reichweite zu sein, und ich spüre, wie der alte Hunger, das in mir...
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