Schweitzer Fachinformationen
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Perez dachte sich, dass um diese Jahreszeit alle ein bisschen durchdrehten. Das lag am Licht, das am Tag so intensiv war und auch nachts nie ganz verschwand. An der Sonne, die nie völlig am Horizont unterging, sodass man selbst um Mitternacht noch draußen lesen konnte. Die Winter waren hier so düster und dunkel, dass die Menschen im Sommer von einer Art Rastlosigkeit befallen wurden, einer fieberhaften Aktivität. Man glaubte, die schöne Zeit ausnutzen, draußen sein und sie genießen zu müssen, ehe die dunklen Tage wiederkamen. Die Shetländer nannten die Zeit der Mitternachtssonne «Simmer Dim». Und diesmal war es gewissermaßen noch schlimmer als sonst. Normalerweise war das Wetter unberechenbar, wechselte fast stündlich zwischen Regen und Wind und kurzen Sonnenphasen, doch in diesem Jahr war es seit fast vierzehn Tagen anhaltend schön. Auch die Leute aus dem Süden bekamen die fehlende Dunkelheit zu spüren. Manchmal reagierten sie darauf sogar noch extremer als die Einheimischen. Sie waren das einfach nicht gewöhnt. Die Vögel, die noch spät am Abend zwitscherten, die Abenddämmerung, die die ganze Nacht dauerte, die Natur, die so völlig von ihrem gewohnten Muster abwich: Das alles wirkte verstörend auf sie.
Als er den schwarzgekleideten Mann inmitten eines Flecks aus Sonnenlicht auf die Knie sinken und in Tränen ausbrechen sah, war Perez überzeugt davon, dass es sich um einen solchen Fall von Mittsommerwahn handeln musste, und er hoffte, dass sich jemand anders darum kümmern würde. Es war ein äußerst theatralischer Ausbruch. Aber der Mann war ja wohl kaum aus eigenem Antrieb hergekommen. Bella Sinclair musste ihn eingeladen haben, oder einer von den anderen Gästen hatte ihn mitgebracht. Vom Süden aus war Herring House nicht leicht zu erreichen, selbst wenn man es schon bis nach Lerwick geschafft hatte. Wahrscheinlich ging es um eine Frau, dachte Perez. Oder der Mann war selbst Künstler und wollte auf sich aufmerksam machen. Perez hatte die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die unter ernsthaften Depressionen litten und tatsächlich ständig mit den Tränen kämpften, die Öffentlichkeit eher mieden. Sie verkrochen sich in ihrer Ecke und versuchten, sich unsichtbar zu machen.
Doch niemand kam dem Mann zu Hilfe. Die anderen Gäste hörten auf zu reden und beobachteten mit peinlich berührter Faszination, wie er weiter schluchzte, das Gesicht jetzt ins Licht gedreht, während seine Arme schlaff herunterhingen.
Perez spürte Frans stummen Vorwurf neben sich. Sie erwartete natürlich, dass er etwas unternahm. Es spielte keine Rolle, dass er nicht im Dienst war. Er musste schließlich wissen, was in so einem Fall zu tun war. Und damit nicht genug: Sie nutzte es überhaupt schamlos aus, dass er sie anbetete. Sie gab das Tempo vor. Wie lange wartete er jetzt schon auf eine solche Verabredung? Er wollte ihr um jeden Preis gefallen, deshalb hatte er sich ausschließlich nach ihr gerichtet, die ganze Zeit. Bisher war ihm gar nicht aufgefallen, wie sehr er nach ihrer Pfeife tanzte - jetzt traf ihn die Erkenntnis ganz unerwartet. Doch gleich nach diesem plötzlichen Anfall von Frustration dachte er schon wieder, wie wenig einfühlsam solche Gedanken waren. Sie hätte fast ihre Tochter verloren. Musste man ihr da nicht Zeit lassen, sich davon zu erholen? Außerdem war sie das Warten nun wirklich wert. Er ging zu dem weinenden Mann hinüber, hockte sich neben ihn, half ihm auf die Füße und führte ihn fort von den Blicken der anderen.
Sie gingen in die Küche, wo der junge Koch Martin Williamson gerade große Tabletts mit Partyhäppchen bestückte. Perez kannte ihn, er hätte seine ganze Lebensgeschichte herunterbeten können und höchstens ein paar Sekunden nachdenken müssen, bis ihm auch die Vornamen seiner Großeltern wieder eingefallen wären. Herring House beherbergte ein eigenes Restaurantcafé, das Martin führte. Natürlich stand auch an diesem Abend Hering auf dem Programm, schmale Streifen, die sich auf runden Sodabrotscheibchen kringelten. Es waren eingelegte Heringe, die einen frischen Duft nach Essig und Zitrone verströmten. Außerdem gab es einheimische Austern und shetländischen Räucherlachs. Perez hatte seit mittags nichts mehr gegessen und spürte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Martin hob den Kopf, als sie hereinkamen.
«Stört es Sie, wenn wir uns einen Augenblick hierhersetzen?»
«Solange Sie sich vom Essen fernhalten. Gesundheits- und Hygienevorschriften, Sie wissen schon», antwortete Martin grinsend. Perez erinnerte sich, dass er bereits als Kind immer fröhlich gewesen war. Er hatte ihn manchmal bei Hochzeiten und anderen Feiern getroffen und sah ihn in der Erinnerung immer nur lachend vor sich, mitten im Getümmel.
Martin machte sich wieder an die Arbeit und beachtete sie nicht weiter. Von draußen, aus der Galerie, drang Fiddle-Musik herein. Roddy war für einen weiteren Auftritt herbeigeholt worden, um das betretene Schweigen zu überbrücken und die Gäste wieder in die richtige Stimmung zum Geldausgeben zu bringen. Und der Fremde schluchzte immer noch. Plötzlich hatte Perez großes Mitleid mit ihm und fand sich herzlos, weil er sich vom Essen hatte ablenken lassen. Er selbst konnte sich absolut nicht vorstellen, seinen Schmerz auf diese Weise zu zeigen - es musste also etwas Furchtbares passiert sein, wenn der Mann in aller Öffentlichkeit weinte. Oder aber er war krank. Wahrscheinlich war das der Fall.
«He», sagte er. «So schlimm kann es doch gar nicht sein.» Er zog dem Fremden einen Stuhl heran, damit er sich setzen konnte.
Der Mann sah ihn an, als bemerkte er ihn erst jetzt.
Dann wischte er sich mit dem Handrücken die Augen - eine so kindliche, ungekünstelte Geste, dass Perez zum ersten Mal echte Sympathie für ihn empfand. Er kramte ein Taschentuch hervor und gab es dem Mann.
«Ich weiß gar nicht, was ich hier mache», sagte der Fremde. Er ist eindeutig Engländer, dachte Perez, wenn auch nicht aus dem Süden des Landes. Roy Taylor fiel ihm ein, ein Kollege aus Inverness, der ursprünglich aus Liverpool stammte. Klang der Akzent dieses Mannes wie der von Roy? Nicht ganz.
«Das Gefühl hat doch jeder mal.»
«Wer sind Sie?»
«Ich heiße Jimmy Perez. Ich bin Polizist. Aber ich bin nicht dienstlich hier in Herring House. Ich bin mit einer der Künstlerinnen befreundet.»
«Herring House?»
«Das Haus hier, die Galerie. Die heißt so.»
Der Mann gab keine Antwort. Es war, als wäre er wieder ganz in seinem Schmerz versunken und würde nicht mehr zuhören.
«Wie heißen Sie?», fragte Perez.
Wieder keine Antwort, nur ein leerer Blick.
«Sie werden mir ja wohl noch Ihren Namen sagen können.» Langsam verlor Perez die Geduld. Er hatte gehofft, an diesem Abend endlich seine Beziehung zu Fran klären zu können. Er hatte sich ausgemalt, die Nacht bei ihr zu verbringen, und die Phantasien, die damit einhergingen, hätten all seine Freunde bestimmt schockiert. Sie schockierten ihn ja selbst. Cassie übernachtete bei ihrem Vater, das hatte Fran ihm erzählt, und das war ja wohl ein gutes Zeichen. Sonst ließ Perez sich immer viel zu schnell von den Gefühlen anderer Leute überrollen, doch diesmal gab es etwas, was ihn anspornte, dem weinenden Fremden zu widerstehen.
Der Engländer hob den Kopf.
«Ich weiß meinen Namen nicht», sagte er schlicht. Alle Theatralik war verschwunden. «Ich weiß ihn nicht mehr. Ich habe meinen Namen vergessen, und ich weiß auch nicht, warum ich hier bin.»
«Wie sind Sie denn hierhergekommen? Nach Herring House? Oder überhaupt nach Shetland?»
«Ich weiß es nicht.» Jetzt stahl sich ein Anflug von Panik in die Stimme des Mannes. «Ich erinnere mich an gar nichts, was vor diesem Bild war. Dem Bild von der Frau in Rot, das da draußen an der Wand hängt. Es war, als wäre ich überhaupt erst zur Welt gekommen, als ich mir das Bild ansah. Als wäre das alles, was ich weiß.»
Perez fragte sich, ob das Ganze vielleicht ein Streich sein konnte. Das war genau die Sorte von Schnapsidee, die Sandy komisch finden würde. Sandy, der aus Whalsay stammte und für Perez arbeitete, hatte einen recht infantilen Sinn für Humor. Vermutlich wusste das ganze Team, dass der Chef heute mit der englischen Künstlerin hier sein würde, und Perez traute ihnen durchaus zu, dass sie versuchen würden, ihm den Abend zu verderben. Vermutlich fänden sie das unwahrscheinlich witzig.
Der Mann wies keinerlei Spuren einer Kopfverletzung auf. So elegant und gepflegt, wie er aussah, konnte man sich auch kaum vorstellen, dass er einen Unfall gehabt hatte. Aber wenn das alles tatsächlich nur Show war, dann war er sehr überzeugend. Die Tränen, das konvulsivische Zittern - das konnte man doch sicher nicht so einfach nachmachen? Und woher sollte Sandy ihn kennen? Wie hätte er den Mann zu diesem Auftritt bewegen sollen?
«Leeren Sie doch einfach mal Ihre Taschen aus», sagte Perez. «Sie haben bestimmt einen Führerschein oder eine Kreditkarte bei sich. Dann können wir Ihnen zumindest einen Namen geben, Ihre Angehörigen ausfindig machen und vielleicht auch herausfinden, was genau passiert ist.»
Der Engländer stand auf und griff in die Innentasche seines Sakkos. «Sie ist nicht da», sagte er. «Da habe ich sonst immer meine Brieftasche.»
«Daran erinnern Sie sich also?»
Der Mann geriet ins Stocken. «Dachte ich zumindest. Aber wie soll ich mir denn noch mit irgendetwas sicher sein?» Langsam und sorgfältig fing er an, die anderen Taschen zu durchsuchen, aber da war nichts. Er zog das Sakko aus und reichte es Perez. «Sehen Sie mal nach.»
Perez durchsuchte die Taschen, obwohl er genau wusste, dass er nichts finden würde. «Was ist mit den...
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