Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
In der Harbour Street stand nur ein Wohnhaus; in all den anderen Gebäuden waren Geschäfte oder Büros. Es war hoch und grau, fast schon schwarz von dem Kohlenstaub, der auch den kleinen Strand auf der anderen Seite der Hafenmauer schwarz färbte. Drei Stockwerke, Souterrain und Dachgeschoss. Eindrucksvoll. Über der Eingangstür war ein Jahr eingemeißelt: 1885. In einem der Fenster im Souterrain war Licht. Eine Frau nahm gerade Bettlaken von einer Wäscheleine, die sie vor dem Ofen gespannt hatte. Sie faltete sie mit geübten Handgriffen zusammen, zuerst Ecke an Ecke, dann strich sie die Laken glatt, bevor sie sie auf den Tisch legte. Auch in den oberen Stockwerken war Licht in einigen Fenstern, doch vom Gehsteig aus konnte man nicht sehen, wer sich dort oben aufhielt.
Gleich neben dem Haus lag der Hof von Malcolm Kerr, der von der Straße nur durch einen rostigen, von scharfen Spitzen gekrönten Eisenzaun abgetrennt war; am Tor hing eine gewaltige Kette mit einem riesigen Vorhängeschloss. Ein paar alte Boote, Einzelteile von Motoren, merkwürdig bucklige, mit Segeltuch abgedeckte Gegenstände - der Hof sah aus wie ein Schrottplatz. Malcolm bot Ausflugsfahrten nach Coquet Island zur Vogelbeobachtung an, und im Winter, wenn die Lucy May nur selten gechartert wurde, arbeitete er auf dem Hof, wo er die Boote seiner Nachbarn reparierte. Der Schnee ließ die harten Umrisse auf dem Hof langsam weicher erscheinen, sie wirkten geheimnisvoll und waren nur schwer zu erkennen. In einer Ecke stand ein Schuppen aus Wellblech und Holz. Dort arbeitete Malcolm oft die ganze Nacht lang und trank dosenweise Bier dabei, doch an diesem Abend lag der Hof dunkel und still da, im Schnee waren keine Fußspuren.
Neben dem Hof befand sich das Bootshaus, in dem das Rettungsboot des Ortes untergebracht war, und dahinter, auf der dem Meer zugewandten Seite, standen der Auflieger und die Zugmaschine, mit deren Hilfe das Boot bei Notfällen oder für Rettungsübungen zu Wasser gelassen wurde. Dann kamen die Fischhallen von Mardle: Hier ging es lebendig und laut zu, aus dem Fernseher im Hintergrund dröhnte Musik. Tagsüber wurde in einem langen, flachen Lager auf der Rückseite des Gebäudes frischer Fisch für den Groß- und Einzelhandel verkauft, der größtenteils direkt vor Ort gefangen wurde. Abends verwandelten sich die Fischhallen in einen Fish-and-Chips-Shop, mit einem Restaurant daneben, wo man auch sitzen konnte. Hinter den Fritteusen standen zwei weiß gekleidete Frauen, deren Gesichter von der Hitze gerötet waren, obwohl die Schneeflocken durch die offen stehende Tür hereinwehten. Die Schlange der Kunden reichte bis auf die Straße hinaus. Alles Einheimische. Mardle war keine Touristengegend, auch im Sommer nicht. Neben den Fischhallen ging es nicht mehr weiter, da war nur noch eine Mauer und dahinter der Hafen. Die Boote, die dort lagen, waren schwarze, im Schneegestöber halb verborgene Schatten.
Auf der anderen Straßenseite befand sich der Coble Pub, und dort, wo die Leute zwischen dem Pub und dem Fish-andChips-Shop hin- und herliefen, war der Schnee schon flachgetreten und vereist. Vor dem Pub lehnten ein paar hartgesottene Raucher an der Hauswand, um sich vor dem Wetter zu schützen. Neben dem Pub lag das niedrige, gedrungene Gebäude mit dem Büro des Hafenmeisters; dahinter ein ungepflegtes Grundstück, das als Parkplatz diente, und neben diesem, gegenüber dem großen Wohnhaus mit dem hell erleuchteten Souterrain, stand die St.-Bartholomew's-Kirche. Das im neugotischen Stil für Seeleute und Grubenarbeiter erbaute Gotteshaus wurde inzwischen nur noch von einer Handvoll älterer Frauen besucht. Am Ende der Straße, wie ein Lichtsignal oder ein rechteckig glühender Mond, leuchtete der gelbe Würfel mit dem schwarzen M herüber, der den Metrobahnhof kennzeichnete. Endstation. Auf dem Bahnsteig warteten Menschen, die für den Feierabend in die Stadt fahren wollten, doch es kamen keine Züge.
Das war die Harbour Street.
In dem großen Haus trug Kate Dewar die Betttücher die Treppe hoch zum Wäscheschrank, wobei sie vor den mit Nummern versehenen Türen eine kleine Pause einlegte. Nicht um zu lauschen. Kate würde ihren Gästen niemals nachspionieren. Doch das hier war ihr Hoheitsgebiet, und sie wollte wissen, wer im Haus war. Alles wirkte still. Vielleicht hatte der Schnee ja für Verkehrsprobleme gesorgt. Sie war froh, dass die Kinder schon daheim waren; sie hatte sie vorhin kommen gehört und stellte sich vor, wie sie jetzt auf der Couch in der Souterrainwohnung herumhingen und fernsahen. Eigentlich hatte sie die Regel aufgestellt, dass erst die Hausaufgaben gemacht sein mussten, ehe der Fernseher eingeschaltet wurde, aber die Ferien standen kurz bevor, und heute wollte sie nicht darauf bestehen.
Während sie die Treppe weiter hochstieg, glaubte sie die Haustür zu hören, doch als sie stehen blieb, um darauf zu achten, rührte sich nichts mehr. Es musste der Wind gewesen sein, der den Briefkasten zum Klappern brachte. Sie wusste immer gleich, wann der Wind von Norden her kam, wegen dieses ganz speziellen Geräuschs. Der Wäscheschrank stand auf dem Treppenabsatz im Dachgeschoss, zwischen Margarets Wohnung und dem Regal, wo sie Tee und Kaffee und eine Dose mit selbstgebackenen Keksen aufbewahrte. Neben dem Regal war ein kleiner Kühlschrank, in dem eine Tüte Frischmilch stand. Zwar gab es in allen Zimmern die Möglichkeit, sich Tee und Kaffee zuzubereiten, doch sie wollte, dass ihre Gäste sich willkommen fühlten. Es waren die kleinen Gesten, weswegen sie wiederkamen. Wegen der Lage jedenfalls kamen sie sicher nicht; die Harbour Street hatte kaum etwas zu bieten, das Fremde anlocken konnte. Durch ein Bogenfenster konnte man auf Malcolms Hof und über die Fischhallen hinweg das Meer sehen. Es schneite immer noch. Im Lichtdreieck einer Straßenlaterne sah sie die Flocken tanzen. Draußen auf dem Meer blinkte eine Leuchtboje rot auf. Ihr Mann hatte auf den Ölplattformen gearbeitet, und noch immer verspürte sie diese Mischung aus Schuld und Trauer, wenn sie an die endlose Weite gleich vor ihrer Haustür dachte.
Einen Augenblick lang blieb Kate stehen und lauschte auf die Musik in ihrem Kopf. Dann erweckte sie die Melodie zum Leben und summte sie. Ein Lied für den Winter, klar und ohne Schnörkel. Für die Liebe im Winter. Und wieder musste sie an Stuart denken, an die unerwarteten Schmetterlinge im Bauch, die sie in ihrem Alter noch erwischt hatten; ihr stockte der Atem, und sie war überrascht, als ihr klar wurde, dass sie noch im gleichen Moment alles für diesen neuen Mann in ihrem Leben stehen und liegen gelassen hätte. Er war ihr wichtiger als Ryans Albträume, sein nächtliches Herumstromern in der Nachbarschaft, als wäre er ein verwildertes Tier, das nicht schlafen konnte, wichtiger als seine gelegentlichen Wutausbrüche. Wichtiger als Chloes Noten und ihr erschreckender Ehrgeiz. Der ältere, drahtige Stuart, der mehr wie ein Bergsteiger aussah als wie ein Musiker, hatte Kate wieder Lust am Leben gemacht.
Auf dem Weg zurück in die Souterrainwohnung entdeckte sie George Enderby vor der Eingangstür und ließ ihn herein. Auf seinem Wollmantel hingen Schneeflocken, und sein großes, gutmütiges Gesicht strahlte auf Kate herab. «Na, Kate, was meinen Sie? Schnee zu Weihnachten. Die Kinder sind bestimmt ganz aus dem Häuschen.» Er hatte eine sonore Stimme und eine so vornehme, südenglische Art zu sprechen, dass sie sich an einen Politiker oder Schauspieler erinnert fühlte.
Kate dachte, dass ihre Kinder in diesem Jahr supercool taten und sicher glaubten, dass es weit unter ihrer Würde lag, noch Schneemänner zu bauen. Aber George besaß einen so unschuldigen Glauben an das Leben in einer perfekten Familie, dass sie es nicht über sich brachte, ihn von diesem Irrtum zu befreien.
«Ja», sagte sie.
George arbeitete als Vertreter für einen Verlag und reiste mit einem großen Rollkoffer voller Bücher umher. Oft schenkte er den Kindern ein paar Exemplare. Manche gefielen Chloe sogar, die dicken, in denen es um fremde Kulturen ging, aber Ryan las nicht gern, auch wenn er so tat, als würde er sich dafür interessieren. Er nahm ihm die Bücher ab, um George eine Freude zu machen. In Kates Hinterkopf spukte eine beständige Sorge um Ryan herum. Er machte nicht direkt Ärger, doch trotz seines unbeschwerten Lächelns argwöhnte sie, dass er unglücklich war, und sie wusste nicht, was sie dagegen tun konnte. Und manchmal bekam er Wutausbrüche, die sie an Rob erinnerten. Aber das Haus in der Harbour Street nahm all ihre Zeit und Kraft in Anspruch, und all ihre Träume drehten sich um Stuart. Ryan redete schon seit Jahren nicht mehr richtig mit ihr. Sie sagte sich, dass der Junge ja noch ein Teenager sei, dass Kinder immer schwierig seien und sich ihren Eltern nie anvertrauten.
George war verheiratet, hatte aber keine Kinder. Das hatte er ihr einmal erzählt. Er hatte ihr an den Abenden, wenn es spät wurde und er seinen üblichen Schlummertrunk im Salon für die Gäste zu sich nahm, schon eine ganze Menge erzählt. Er trank seinen Whisky dann immer in kleinen Schlucken, und sie sah auf ihre Armbanduhr und fragte sich, wann er wohl schlafen gehen würde. Sie führte die Pension im Großen und Ganzen allein. Außer ihr gab es nur Margaret, die ihr in der Küche half, und die war in den letzten Tagen nur zu wenig zu gebrauchen gewesen.
«Hatten Sie einen erfolgreichen Tag, George?»
Sie wusste, dass sein Beruf ihn forderte. Auch das hatte er ihr gestanden. «Ich wüsste nicht, was ich ohne meine Arbeit anstellen sollte, Kate. Ich brauche Bücher wie die Luft zum Atmen.» Dabei hatte sie gespürt, dass er nicht darauf angewiesen war, für seinen Lebensunterhalt...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.