Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Jimmy Perez stand neben dem offenen Grab, als die Erde ins Rutschen geriet. Die Familie des Verstorbenen stammte ursprünglich von Foula, und der Sarg war auf zwei Rudern getragen worden, so, wie man die Toten auf jener Insel zu bestatten pflegte. Den Sargträgern, entfernten Verwandten des Verstorbenen, deren Vorfahren in den Süden aufs englische Festland gezogen waren, war es offenbar wichtig gewesen, die alte Tradition wieder aufleben zu lassen. Sie hatten genug Zeit gehabt, die Trauerfeier zu planen: Magnus hatte einen Schlaganfall erlitten und vor seinem Tod sechs Wochen im Krankenhaus gelegen. Perez hatte ihn jeden Sonntag besucht, sich an sein Bett gesetzt und über die alten Zeiten gesprochen. Nicht über die schlechten alten Zeiten, als man Magnus des Mordes verdächtigt hatte, sondern über die guten letzten Jahre, als die Bewohner von Ravenswick ihn zu allen Veranstaltungen der Gemeinde eingeladen hatten. Magnus hatte die geselligen Zusammenkünfte, die Tanzabende und sonntäglichen Nachmittagstees von Herzen genossen. Doch auf Perez' Geplauder im Krankenhaus hatte er nicht mehr reagiert, und als er dann starb, war das keine Überraschung gewesen.
Der Sarg war bereits ins Grab hinabgelassen worden, als der Hügel ins Rutschen geriet. Während die Pfarrerin die erste Schaufel voller Erde auf den Sargdeckel fallen ließ, wandte Perez den Blick von der Grube ab. Hinter ihm breitete sich die Gemeinde Ravenswick aus. Oben auf der Böschung, gleich neben der umgebauten Kapelle, die er selbst gemeinsam mit seiner Stieftochter Cassie bewohnte, konnte er Hillhead sehen, den kleinen Hof von Magnus. Näher bei der Küste standen die alte Kirche und das Pfarrhaus, das heute einem Privatmann gehörte und weit beeindruckender aussah als die Kirche selbst. Da waren die Gewächstunnel vom Gilsetter Hof mit ihren Kunststofffolien und, gleich daneben und von der Straße aus nicht erkennbar, ein kleines Cottage. Wer da jetzt wohnte, wusste er nicht. Die Schule, auf die Cassie ging, lag ein Stück weiter nördlich und war vom Friedhof aus nicht zu sehen, und hinter der Landspitze verbargen sich das Ravenswick Hotel sowie ein schickes Ferienresort mit Häuschen im skandinavischen Stil. Das hier war sein Zuhause, und nirgendwo anders wollte er leben.
Durch den Regen wirkte die Landschaft wie weichgezeichnet. Es schien nun schon seit Monaten ununterbrochen zu regnen. Vor zwei Wochen hatte man sogar in Betracht gezogen, das Wikingerfest Up Helly Aa wegen des Wetters abzublasen, doch der Fackelumzug war in Friedenszeiten noch niemals abgesagt worden und fand schließlich trotz der orkanartigen Winde und sintflutartigen Wolkenbrüche wie gewohnt statt. Perez richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Worte der Pfarrerin, bei denen er an Fran denken musste, Cassies Mutter und die Liebe seines Lebens, die auch hier begraben lag.
Zuerst verursachte der Erdrutsch keinen Laut. Der Hügel war das ganze Jahr über stark abgeweidet worden; die Schafe hatten an den Grashalmen genagt, die Wurzeln ausgerupft und die schwarze Torferde darunter freigelegt. Jetzt, nach den monatelangen Regengüssen, war das Wasser tief in den Boden gesickert und hatte das Erdreich gelockert, und mit einem Mal setzte sich der ganze Abhang in Bewegung. Unvermittelt veränderte sich die gesamte Landschaft, das nackte Gestein wurde frei gelegt. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte Perez sich bereits wieder dem Grab zugewandt, in das Magnus Tait gerade zur letzten Ruhe gebettet worden war, und hatte nicht die leiseste Vorahnung von dem, was nun folgen sollte.
Erst als der Erdrutsch gewaltiger wurde und Felsbrocken und Geröll aus den Entwässerungsgräben mit sich riss, setzte ein bedrohliches Grollen und Rumpeln ein. Die Lawine donnerte über die Hauptstraße, wobei sie einen dort entlangfahrenden Wagen nur knapp verfehlte, und rauschte unaufhaltsam wie ein reißender Fluss auf das kleine Cottage zu. Die Erdmassen begruben den Schuppen unter sich und wühlten sich mit einer solchen Gewalt durch das Cottage, dass die Fenster barsten und die Tür zersplitterte. Als die Lawine auf das Haus traf, hörte Perez ihr Brüllen und spürte, wie der Boden unter seinen Füßen bebte. Er und die anderen Trauergäste rissen die Köpfe herum. Auf den Shetlands lagen die Friedhöfe direkt am Meer, bevor es Straßen gab, hatte man die Verstorbenen im Boot zu ihren Gräbern gebracht. Der Friedhof von Ravenswick lag in einer Talsohle auf einem flachen Stück Land am Meer, im Schutz der Landspitze. Dieses steile Tal füllte sich nun mit Schlamm und Geröll, und die Erdmassen wurden immer schneller, als sie auf die Trauergesellschaft zustürzten. Der tosende Donner warnte sie vor dem, was auf sie zukam. Den Bruchteil einer Sekunde lang blieben alle reglos stehen, dann sprengten sie auseinander und versuchten, höher gelegenes Gelände zu erreichen. Perez legte den Arm um einen älteren Nachbarn, den er regelrecht in Sicherheit tragen musste. Einer der jüngeren Männer kümmerte sich um die Pfarrerin, eine Frau Anfang fünfzig. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig. Dann mussten sie mit ansehen, wie die Erdlawine Grabmale umwarf wie Dominosteine, bevor sie über den Kiesstrand ins Meer schlitterte. Frans Grabstein war sehr schlicht, eine ihrer Freundinnen, eine Bildhauerin, hatte ihn angefertigt. Hineingemeißelt war das Bild eines Großen Brachvogels, Frans Lieblingstier. Perez sah hilflos zu, wie der Stein von der Woge aus Schlamm mitgerissen wurde.
Perez gewann seine Fassung schnell zurück. Das war schließlich nicht mehr Fran gewesen dort unten in dem Grab, und er brauchte auch keinen Stein, um sich an sie zu erinnern. Er wandte sich um und vergewisserte sich, dass alle es geschafft hatten. Dabei fragte er sich, was Magnus Tait, der sich die meiste Zeit seines Lebens von den Menschen ferngehalten hatte, zu diesem Drama bei seiner Beerdigung wohl gesagt hätte. Wahrscheinlich hätte er nur verlegen gegrinst und leise gekichert, dachte Perez. Und dann hätte er alle aufgefordert, zum Gemeindesaal zu gehen und dort einen zu heben. «Bringt doch nichts, hier draußen in der Einöde rumzustehen, Jungs», hätte er gesagt. «Jetzt mal ernsthaft.» Denn wenn man von der Pfarrerin absah, bestand die Trauergesellschaft tatsächlich nur aus Männern. Es war eine Beerdigung nach altem Brauch gewesen, da hatten Frauen am Grab nichts zu suchen. Überhaupt waren es nur wenige Trauergäste. Auch wenn die Menschen sich gegen Ende seines Lebens Mühe gegeben hatten, Magnus besser kennenzulernen, hatte er außerhalb von Ravenswick kaum Bekannte gehabt. Jetzt stand das Grüppchen von der Wucht des Erdrutsches erschüttert oben auf der Böschung. Von fern sahen sie vermutlich aus wie über den Hang versprengte Riesenschafe, aus dem Tritt gebracht und verloren.
Perez warf einen Blick zurück, den Hügel hoch. Wenn der Erdrutsch nur eine Meile weiter nördlich abgegangen wäre, dachte er, hätte er die Schule von Ravenswick ebenso verwüstet wie dieses Cottage, das aussieht, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Den Hof von Gilsetter und das alte Pfarrhaus hatte die Schlammlawine um noch viel weniger verfehlt. Er sah zur Ruine des kleines Hauses hinüber.
«Wohnt da eigentlich wer?» Unvorstellbar, dass in dem Cottage noch jemand am Leben sein sollte. Entweder waren die Bewohner im Schlamm erstickt oder von dem Geröll, das die Erdmassen mitgerissen hatten, erschlagen worden. Aber soweit er wusste, hatte seit Minnie Laurensons Tod niemand mehr dort gewohnt.
«Ich glaube, das steht leer, Jimmy. Eine Zeitlang hat der Sohn von Stuart Henderson da gewohnt, aber der ist schon vor Monaten wieder ausgezogen.» Die Antwort kam von Kevin Hay, einem kräftigen Mann Ende vierzig, der auf dem Gilsetter Hof lebte und den Großteil des zu Ravenswick gehörenden Landes bewirtschaftete. Perez hätte nicht sagen können, wann er Kevin zuletzt in Anzug und Krawatte gesehen hatte. Vermutlich bei der letzten Beerdigung in Ravenswick. Sein schwarzes Haar war vom Regen so nass, dass es ihm an der Stirn klebte. Es sah aus wie aufgemalt.
«Dann war es nicht vermietet?» Unterkünfte waren immer noch so knapp auf den Shetlands, dass zu dieser Jahreszeit selbst Ferienhäuser an die Öl- und Gasarbeiter vermietet wurden. Leerstehende Häuser gab es kaum.
«Soweit ich weiß, nicht.» Jetzt wirkte Hay schon weniger sicher. «Mir ist jedenfalls nichts aufgefallen, weder dass da jemand wohnt noch dass ein Auto da steht. Aber wegen den Ahornbäumen und unseren Gewächshäusern können wir das Cottage von uns aus auch nicht sehen.»
«Dann wird wohl auch keiner da wohnen», sagte Perez. Ohne Auto kam man so weit von der Stadt entfernt kaum zurecht. Die anderen Trauergäste hatten sich inzwischen um die Pfarrerin versammelt. Sie war ruhig und gefasst und übernahm nun das Kommando. Bestimmt, dachte Perez, überlegen sie jetzt, wie sie nach Hause kommen. Zwar war der Friedhofsparkplatz etwas höher gelegen, und die Wagen waren alle heil geblieben, doch einige der Trauernden wohnten auf der anderen Seite des abgerutschten Hügels. «Trotzdem würde ich lieber nachsehen», sagte er dann zu Kevin Hay.
Über die Hänge zogen sich verschiedene von den Schafen getrampelte Pfade, von denen Perez und Kevin Hay nun einem folgten. Sie blickten von oben auf das zerstörte Cottage hinab. Jetzt, nach dem Erdrutsch, war außer dem Regen nichts mehr zu hören. Eine seltsame, gespenstische Stille nach dem dröhnenden Lärm, den der Hügelabgang ausgelöst hatte. Die Rettungsdienste waren bereits informiert, und bald würden Feuerwehrleute und Polizeiwagen eintreffen, aber noch war niemand da.
Die Außenmauern des kleinen Hauses waren beinahe unversehrt, doch die Wucht der Erdmassen hatte...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.