Schweitzer Fachinformationen
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«Anna Clouston hat letzte Nacht entbunden», verkündete Mima. «Anscheinend eine schwierige Geburt. Zwanzig Stunden lag sie in den Wehen. Sie behalten sie noch ein paar Tage zur Beobachtung da. Es ist ein Junge, der nächste Mann, der die Cassandra übernehmen kann.» Sie warf Hattie einen verschwörerischen Blick zu. Es schien Mima zu belustigen, dass Anna eine schwere Geburt gehabt hatte. Mima hatte eine Vorliebe für Chaos, Unordnung, das Unglück anderer Leute. Das verschaffte ihr Stoff zum Tratschen und hielt sie am Leben. Wenigstens sagte sie selbst das, wenn sie schnatternd in ihrer Küche saß und Hattie bei einem Tee oder Whisky auf den neuesten Stand über das Inselleben brachte.
Hattie wusste nicht recht, was sie zu Anna Cloustons Kind sagen sollte - sie hatte noch nie etwas an Babys gefunden und konnte nichts mit ihnen anfangen. Ein Baby machte alles nur noch komplizierter. Die beiden Frauen standen in Setter, auf dem Feld hinter dem Haus. Die Frühlingssonne schien in den provisorischen Windschutz aus blauem Plastik, über die Schubkarren und die mit Kunststoffband abgesteckten Gräben. Hattie betrachtete das alles, als sähe sie es zum ersten Mal, und ihr fiel auf, wie sehr sie diesen Teil der kleinen Farm verschandelt hatten. Bevor ihr Team von der Universität eingetroffen war, hatte Mima über die abschüssige, tiefgelegene Wiese zum See hinuntergeblickt. Jetzt versperrte ihr der Aushubhügel die Sicht, und das Gelände war schon zu Saisonbeginn so schlammig wie ein Bauplatz. Die Schubkarren hatten tiefe Furchen im Gras hinterlassen.
Hattie ließ den Blick zum Horizont schweifen. Von allen Ausgrabungsstätten, an denen sie bisher gearbeitet hatte, war diese am stärksten der Witterung ausgesetzt. Shetland bestand aus nichts als Himmel und Wind. Es gab hier keine Bäume, die Schutz boten.
Ich liebe diesen Ort, dachte sie plötzlich. Ich liebe ihn mehr als jeden anderen auf der Welt. Ich will den Rest meines Lebens hier verbringen.
Mima hatte gerade Handtücher aufgehängt, trotz ihres Alters war sie erstaunlich beweglich. Dabei war sie so klein, dass sie sich recken musste, um an die Wäscheleine heranzureichen. Sie erinnerte Hattie an ein Kind, das beim Spielen auf Zehenspitzen stolziert. Jetzt war der Wäschekorb leer. «Kommen Sie doch mit rein zum Frühstück», schlug Mima vor. «Wenn Sie nicht ein bisschen zulegen, kann der Wind Sie ja wegwehen.»
«Das sagt die Richtige», erwiderte Hattie, während sie Mima über die Wiese zum Haus folgte. Mima kam ihr so zart und zerbrechlich vor, als könnte der nächste Sturm sie tatsächlich mitreißen und aufs Meer hinaustragen. Bestimmt würde sie auch dann noch weiterreden und lachen, wenn der Wind sie herumwirbelte wie einen Drachenschwanz, so lange, bis sie verschwunden war.
In der Küche stand eine Schale blühender Hyazinthen auf der Fensterbank, ihr Geruch erfüllte den Raum. Sie waren blassblau mit weißer Maserung.
«Die sind hübsch.» Hattie verscheuchte die Katze vom Stuhl, um sich zu setzen. «So frühlingshaft.»
«Ich kann ihnen eigentlich nichts abgewinnen.» Mima nahm eine Pfanne vom Regal. «Es sind hässliche Blumen, und sie stinken. Evelyn hat sie mir mitgebracht und erwartet, dass ich mich darüber freue. Aber ich werde sie bald eingehen lassen. Bei mir hat noch keine Zimmerpflanze überlebt.»
Evelyn war Mimas Schwiegertochter und Gegenstand vieler Klagen.
Geschirr und Besteck waren bei Mima grundsätzlich ein wenig schmutzig, aber Hattie, der bei solchen Dingen normalerweise schnell der Appetit verging, aß trotzdem immer alles, was Mima ihr vorsetzte. Heute gab es Rührei. «Die Hühner legen wieder gut», sagte Mima. «Sie müssen nachher ein paar Eier mit zum Bod nehmen.» Obwohl die Schalen dreckverkrustet waren und Strohhalme daran klebten, schlug Mima die Eier so, wie sie waren, in eine Schüssel und verquirlte sie mit einer Gabel. Klares Eiweiß und tiefgelber Dotter spritzten auf die Wachstuchtischdecke. Mit derselben Gabel stach Mima einen Klumpen Butter von einem in Folie verpackten Klotz ab und gab ihn in die Pfanne auf dem Ofenherd. Als die Butter brutzelte, goss sie das Ei hinein. Dann warf sie ein paar Brotscheiben direkt auf die Herdplatte, woraufhin es verbrannt roch.
«Wo ist eigentlich Sophie heute Morgen?», erkundigte sich Mima, während sie sich beide über ihr Essen hermachten. Sie hatte den Mund voll, und ihr Gebiss saß nicht richtig, sodass Hattie nicht gleich verstand, was sie gesagt hatte.
Sophie war Hatties Assistentin. Normalerweise kümmerte sich Hattie selbst um die Planung und die Vorbereitungen. Schließlich war es ihr Projekt, ihre Doktorarbeit. Sie war ganz besessen von dem Drang, alles richtig zu machen. Aber heute Morgen hatte sie es nicht erwarten können, so schnell wie möglich zur Ausgrabungsstätte zu kommen, und Sophie den Papierkram überlassen. Manchmal tat es auch ganz gut, Sophie für eine Weile los zu sein, und Hattie war froh, einmal unter vier Augen mit Mima zu plaudern.
Mima mochte Sophie. In der vorigen Saison hatte man die Mädchen zu einem Tanz im Gemeindesaal eingeladen, und Sophie war der strahlende Mittelpunkt des Festes. Die Männer hatten Schlange gestanden, um sie zu schottischer Tanzmusik herumzuwirbeln. Sie hatte mit allen geflirtet, verheiratet oder nicht. Hattie hatte das Ganze missbilligend und mit Unbehagen beobachtet, aber auch ein wenig eifersüchtig. Mima war zu ihr getreten und hatte ihr, um die laute Musik zu übertönen, ins Ohr geschrien: «Das Mädchen erinnert mich an mich selbst in ihrem Alter. Mir sind die Männer auch nachgelaufen. Es ist nur Spaß, nichts von Bedeutung. Ihnen könnte es auch nicht schaden, sich mal ein bisschen zu amüsieren.»
Wie ich Whalsay den Winter über vermisst habe!, dachte Hattie. Wie ich Mima vermisst habe!
«Sophie arbeitet für eine Weile im Bod», beantwortete sie Mimas Frage. «Papierkram, Sie wissen schon. Sie kommt bald wieder her.»
«Und?», fragte Mima und spähte mit ihren Vogelaugen über den Rand der Tasse. «Haben Sie sich einen Mann geangelt, während Sie weg waren? Einen gutaussehenden Akademiker vielleicht? Jemanden, der Sie in den langen Winternächten unter der Decke gewärmt hat?»
«Hören Sie auf zu sticheln, Mima.» Hattie schnitt sich eine Ecke von dem Toast ab, ließ sie jedoch auf dem Teller liegen. Sie hatte keinen Appetit mehr.
«Vielleicht sollten Sie sich einen Mann von der Insel suchen. Sandy ist noch zu haben. Sie könnten es schlimmer treffen. Wenigstens steckt mehr Leben in ihm als in seiner Mutter.»
«Evelyn ist schon in Ordnung», verteidigte Hattie sie. «Sie war sehr nett zu uns. Nicht alle auf der Insel haben die Ausgrabung unterstützt, aber sie hat uns immer den Rücken gestärkt.»
Doch Mima wollte das Thema «Hatties Liebesleben» keineswegs schon fallenlassen. «Passen Sie bloß auf, Mädchen, dass Sie den Richtigen erwischen. Nicht einen, der Sie verletzt. Davon kann ich ein Lied singen. Mein Jerry war nicht der Heilige, für den ihn alle gehalten haben. Und man kann auch sehr gut ohne Mann leben. Ich komme seit fast sechzig Jahren ohne einen aus.»
Ihr Augenzwinkern ließ Hattie vermuten, dass Mima in den letzten sechzig Jahren vielleicht keinen Ehemann, in ihrem Leben aber doch genügend Männer gehabt hatte. Sie fragte sich, ob die alte Frau ihr sonst noch etwas zu verstehen geben wollte.
Gleich nachdem das Geschirr abgewaschen war, ging Hattie zur Grabungsstelle zurück. Mima blieb im Haus. Es war Donnerstag, der Tag, an dem sie ihren Verehrer Cedric empfing. Den ganzen Winter über hatten die Gedanken an diesen Ort Hattie begleitet und gewärmt. Sie war von der Archäologie genauso besessen wie von der Insel und ihren Bewohnern, und beides war in ihrem Kopf zu einem Ganzen verschmolzen: Whalsay war ihre Arbeit, ihr Leben. Zum ersten Mal seit Jahren verspürte sie ein Kribbeln im Bauch. Dabei gibt es gar keinen Anlass, so aufgeregt zu sein. Was ist nur los mit mir? Sie ertappte sich bei einem Grinsen. Ich muss mich in Acht nehmen. Die Leute werden denken, ich bin verrückt, und mich wieder wegsperren. Doch bei diesem Gedanken wurde ihr Grinsen nur noch breiter.
Als Sophie eintraf, trug Hattie ihr auf, eine Übungsgrube vorzubereiten. «Wenn Evelyn als Freiwillige mithelfen will, sollten wir ihr beibringen, wie das geht. Wir sollten uns eine Stelle abseits der Hauptgrabung suchen.»
«Verdammt, Hat! Muss sie wirklich bei der Grabung dabei sein? Ich meine, sie ist ja ganz nett, aber sie ist eine solche Langweilerin.» Sophie war groß und sportlich, mit langem, goldblondem Haar. Sie hatte den Winter über auf einer Sennhütte in den Alpen gearbeitet, wo sie einer Freundin half, die Winterurlauber zu versorgen, und ihre sonnengebräunte Haut strahlte. Sophie war unkompliziert und entspannt und nahm die Dinge sehr gelassen. Im Vergleich zu ihr kam sich Hattie wie eine neurotische Matrone vor.
«Du weißt doch», erwiderte Hattie, «eine Bedingung für unsere Arbeit in Shetland ist, dass wir die Gemeinde mit einbeziehen.» Himmel, dachte sie, jetzt klinge ich wie eine alternde Lehrerin. So wichtigtuerisch!
Statt zu antworten, machte sich Sophie schulterzuckend wieder an die Arbeit.
Später verkündete Hattie, sie werde nach Utra fahren, um mit Evelyn über die Vorbereitungen für die Ausgrabung zu sprechen. Doch das war nur ein Vorwand. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ihre Lieblingsorte in Lindby aufzusuchen. Die Sonne schien noch immer, und sie wollte das schöne Wetter nutzen. Als sie am Haus vorbeiging, fuhr Cedric gerade in seinem Auto davon. Mima winkte ihm vom Küchenfenster aus nach. Als sie Hattie sah,...
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