Das Schiff im Watt
Was glitzerte dort?
Das Ding hatte Ähnlichkeit mit einem Baumstumpf. Allerdings bewegte es sich dann und wann. Es konnte also weder ein großes Stück Holz noch anderes Strandgut sein. Ungewöhnlich war auch, dass die Erscheinung an seinem oberen Ende in der Sonne glitzerte, so als wären dort dutzende von Sternwerfer angebracht.
Wieder blitzte es auf.
Daniel drehte sich nach seinen Eltern um. Sie saßen auf einer Bank, in der Nähe einer Ansammlung von Strandkörben, die mit Holzgattern verschlossen waren. Es war Herbst. Um diese Jahreszeit gab es kaum Besucher hier im Norden. Das Meer gehörte um diese Zeit den Möwen, den Wellen, dem Wind. Nicht den Gästen, die die Küste den Sommer über bevölkerten. Nur ein Pärchen lag ein Stück entfernt von seinen Eltern zwischen den verwaisten Strandkörben, eingepackt in lange Hosen und dicke Jacken. Die Frau hatte ein Bein aufgestellt und wippte mit dem Knie. Der junge Mann schien zu schlafen. Daniels Mutter starrte auf ihr Smartphone. Sein Vater hielt das Gesicht in die Sonne.
Daniel hatte sich gelangweilt, also war er hinüber zum Strand gegangen. Einen Steinwurf - eigentlich zwei Steinwürfe - von der Stelle entfernt, an der seine Eltern mit sich selbst beschäftigt waren. Die Möwen kreischten und das Watt lag im Licht der Sonne, die durch die Wolkendecke brach. Zu dieser Tageszeit herrschte Ebbe und der Schlick erstreckte sich bis an den Horizont. Dort schimmerte ein Streifen des Meeres.
Dann plötzlich waren diese Lichtblitze aufgetaucht. Ein Glitzern, das immer wieder verschwand und dann erneut aufflammte. Dazu diese Gestalt. Sie saß auf einer der Molen, die von schweren Steinen gehalten wurden und weit in die trocken gefallene Landschaft hinausreichte. Als das Glitzern eine Weile ausblieb wandte Daniel sich wieder der Landschaft zu. Unterhalb der Wolken sah er ein merkwürdiges Gebilde. War das eine Windhose? Ein Tornado? Sein Herz schlug schneller. War er gerade Zeuge, wie ein Tornado entstand? Er wollte zurücklaufen zu seinen Eltern, als sich das bedrohliche Phänomen auflöste. Es verschwand, als würde es jemand mit einem Tuch nach und nach wegwischen.
Wieder das Glitzern auf der Mole
Daniels Augen verengten sich. Was dort drüben vor sich ging hatte seine Neugierde geweckt. Er beschloss, sich die ungewöhnliche Erscheinung aus der Nähe anzusehen. Kurz darauf schlenderte er die Mole entlang. Der Schlick zu beiden Seiten wurde von schmalen Rinnsalen durchzogen. Sie waren mit Meerwasser gefüllt, das die Flut zurückgelassen hatte. Als Daniel sich dem glitzernden Ding näherte, erkannte er, dass es sich um einen Schlapphut handelte. Die Ursache für das Glitzern waren Glasscherben, die an dem Hut befestigt waren und die das Sonnenlicht reflektierten. Es handelte sich um Scherben aus weißem, braunem und grünem Glas. So als hätte man Flaschen zertrümmert und die Bruchstücke aufgesammelt und an den Hut geklebt.
Noch merkwürdiger allerdings als der Hut war der Träger des Hutes. Er saß auf den Befestigungssteinen der Mole.
"Komm näher."
Die Stimme war rau wie stürmische See.
Daniel spürte ein Kribbeln im Magen.
"Wer sind Sie?"
Der Fremde schien ihn nicht zu hören. Er drehte sich um, sah aber an Daniel vorbei, hinüber zum Festland, wo ein grüner Damm sanft zum Landesinnere hin anstieg. An seinem Hang weideten Schafe.
"Sind Sie hier Strandwächter?", versuchte es Daniel erneut.
Der Fremde schüttelte den Kopf.
"Wattwächter?"
"Nein, Wattwächter bin ich auch nicht."
Das Wesen trug eine schwarze Jacke, die etwas zu weit war, sowie dunkle Stiefel, deren Schaft bis zu seinen Knien reichte. Sein schmales Gesicht war alt und zerknittert. Zwischen den Falten lugten zwei hellblaue Augen hervor, wie der Himmel zwischen sich auftürmenden Gewitterwolken.
"Mein Schiff sitzt im Watt fest", fuhr der eigenartige Kerl fort. "Ich wollte eine Weile vor eurer Küste ankern, da hatte ich plötzlich Grund unter dem Kiel. Ich war schon lange nicht mehr in dieser Gegend. Es ist ein ganz besonderes Meer, euer Wattenmeer. Für Schiffe nicht ungefährlich."
Weit und breit war kein Schiff zu sehen. Keine Spur von einem Schiff, das vom Meer im Schlick zurückgelassen worden wäre. So wie die kleinen Motor- und Segelboote, die Daniel in Husum im Hafen gesehen hatte, bei Ebbe.
In den bunten Glassplittern des Hutes spiegelten sich nun nicht nur Sonnenstrahlen, sondern auch dunkle Wolken, die von Norden herüberkamen.
"Mein Name ist Flo", stellte sich der Fremde vor.
"Flo?"
"Flo."
"Ist das ein Spitzname?"
Der Fremde spuckte in den Schlick des Watts.
"Klabautermänner haben keine Spitznamen."
"Klabautermänner?"
"Ja, Klabautermänner", meinte Flo. Es klang, als wären Klabautermänner eine Selbstverständlichkeit an der Nordseeküste. So wie Möwen oder Quallen oder Wattwürmer.
"Es gibt keine Klabautermänner", entgegnete Daniel.
"Dann gibt es mich nicht", meinte Flo. Er lachte rau. "Du hörst wohl nur den Wind säuseln und die Möwen krächzen."
Daniel sah den eigenartigen Kauz mit zusammengekniffenen Augen an.
"Wo sollen die denn herkommen? Klabautermänner."
Flo entblöße eine Reihe gelblicher Zähne.
"Wo wir Klabautermänner herkommen? Dazu gibt es viele Gerüchte. Eines davon besagt, dass der erste Klabautermann aus den Wellen, dem Wind und dem vermoderten Holz eines Schiffes entstanden ist. In einer stürmischen Nacht, in der der Himmel übersät war mit Blitzen und die Wellen sich zu Gebirgen auftürmten. Höher als man es jemals zuvor und jemals danach gesehen hat. Die Geschichte gefällt mir am besten. Nur in so einer Nacht kann der erste Klabautermann entstanden sein."
"Wenn du ein Klabautermann bist, dann musst du zaubern können."
Flo trat mit einem Stiefelabsatz gegen einen der Befestigungssteine der Mole, so als müsste er prüfen, ob der Stein fest saß.
"Was würdest du dir denn von mir wünschen, wenn ich zaubern könnte?"
Daniel zögerte.
"Du könntest meine Eltern auf eine der Inseln zaubern", sagte er. "Borkum oder Langeoog. Nur für ein paar Stunden lang."
Flo lachte.
"Deine Eltern?"
Daniel sah sich um. Seine Mutter winkte ihm zu. Sie schien den angeblichen Klabautermann nicht zu sehen.
"Sie nerven mit ihrem 'Auf-alles-aufpassen' und ihrem 'Alles-so-nervig-gut-meinen'. "
Flo nickte, als hätte er verstanden.
"Wir Klabautermänner sind keine Zauberer", sagte er. "Aber wir können Geschichten erzählen. Das können wir sogar sehr gut. Keine Geschichte wird je aus der Welt verschwinden, solange es uns Klabautermänner gibt."
"Meine Bücherregale zu Hause sind voll mit Geschichten", meinte Daniel, dabei zeigte er Flo ein Buch, das er bei sich hatte. Er holte es aus der Innentasche seiner Jacke heraus und wedelte damit, als wäre er der einzige Mensch auf der Welt, der ein Buch besaß. "Dieses hier heißt 'Die Schatzinsel'. Ich lese gerne Bücher, in denen das Meer vorkommt. Zuhause haben wir kein Meer. Nur Fischweiher und Bäche."
Flo kratze sich am Kinn.
"Ein Schiff kannst du überall bauen", sagte der Klabautermann. "Ein Stück Holz, ein Nagel und ein Stofffetzen."
"Und dein Schiff", fuhr Daniel fort. Er setzte sich neben Flo auf die kantigen Steine. "Ich sehe keins."
"Mein Schiff ist unsichtbar."
Ein unsichtbares Schiff? Es gab weder Klabautermänner noch unsichtbare Schiffe.
"Darf ich mir den Hut mal ansehen?", fragte Daniel.
Flo nahm seinen Hut ab.
"Sei vorsichtig mit den Scherben."
Die Kanten der gläsernen Bruchstücke waren scharf und spitz. Daniel roch an dem alten Leder. Es roch nach Salz und Wind und nach etwas, das weit, sehr weit entfernt war.
"Wo steht es denn, dein Schiff?", erkundigte sich Daniel, wobei er den Lederhut in seinen Händen drehte.
Der Klabautermann hatte graues, dünnes Haar, das wie Filz auf seinem Kopf lag.
"Dort drüben. Zwei Mastlängen entfernt. Immer, wenn die Sonne durchkommt, sitzen wir im Schatten seiner Takelage."
Daniel sah nichts als das Watt. Er betrachtete den Hut.
"Wozu sind diese Glassplitter?"
"Sieh sie dir an."
Daniel hielt den Hut ein Stück weiter weg und sah sein Gesicht verzerrt in einem der Bruchstücke. Seine Haut war grün. Kein Wunder. Es war ein grünes Stück Glas, in das er blickte. Daniel schloss ein Auge und führte den Hut näher heran. Das geöffnete Auge wurde größer. Eisgrau starrte es ihn an. Buschige Augenbrauen rankten darüber.
Erschrocken zuckte Daniel zurück.
"Wer ist das?"
"Ahab", sagte Flo, als wäre der Name eine finstere Botschaft.
"Ahab", wiederholte Daniel. Er ließ das Wort langsam über seine Zunge rollen.
"Ein weißer Wal namens Moby Dick hat ihn zum Krüppel gemacht. Der Wal hat ihm ein Bein abgebissen. Jetzt verfolgt Ahab das Tier. Für ihn zählt nur eins: Rache. Ja, verflixt nochmal. Dieser krankhafte Gedanke an Rache bringt ihn um. Und nicht nur ihn. Ahab überträgt seinen Hass auf seine Mannschaft. Fast alle gehen sie mit ihm zugrunde."
Ahab schien ein ziemlich grusieliger Kerl zu sein. Auch mit Walen war nicht zu spaßen, aber das wusste er bereits. Daniel drehte den Hut in seiner Hand und sah zu, wie der Himmel und die Wolken in den Glasscherben vorüberflogen. Plötzlich verwandelte sich der Himmel in einem der Bruchstücke in eine...