Schweitzer Fachinformationen
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Mr. Harper?«, fragte der junge Mann, der die schwere Eichentür aufzog.
Tony Harper nickte und bog die Schultern zurück.
»Bitte. Kommen Sie herein.«
Er betrat die dämmrige Empfangshalle, über der ein Geruch von Staub hing.
»Wenn Sie mir bitte folgen würden?«
Ihre Schritte auf dem alten, dunklen Teppich waren fast lautlos. Eine der Türen war angelehnt. Der junge Mann stieß sie auf und sagte: »Bitte sehr«, ehe er sich zurückzog und Tony sich allein auf der Türschwelle fand.
Ein Arbeitszimmer lag vor ihm, ein hoher, langgestreckter Raum mit zwei Fenstern. Vor einem war ein schwerer Vorhang zugezogen, durch das andere fiel ein breiter Lichtstrahl herein, in dem Staubkörner tanzten. Mittelpunkt war ein mächtiger Schreibtisch, hinter dem ein hagerer Mann saß und ihn müde herbeiwinkte.
»Dr. Weinberg!«, grüßte Tony den Mann. »Es freut mich, Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen?«
»Setzen Sie sich.« Dr. Weinberg wies auf einen Ledersessel auf der anderen Seite seines Schreibtisches.
Tony ließ sich ächzend fallen. Mehr als achtzig Meilen über die Interstate 90, von Albany, New York, nach Springfield, Massachusetts, hatte er zurückgelegt, in einem klapprigen Gefährt, das die Bezeichnung Auto nicht mehr verdiente, und war von einem Stau in den anderen geraten. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie erschöpft er von dieser Tortur war. Er konnte es sich nicht leisten. Er brauchte diesen Job dringend. Er war der erste, der ihm seit einem Monat angeboten wurde. Was immer dieser Dr. Weinberg gleich fordern würde, Tony Harper musste es erfüllen. Alles!
Alles? Nein, eines würde er nicht tun, eines um keinen Preis.
Aber Weinberg hüllte sich vorerst in Schweigen. Er sah nicht gut aus, fand Tony. Abgemagert schien der Mann ihm gegenüber, seine Hautfarbe war gelblich, die Schatten unter seinen Augen unübersehbar, die faltigen Wangen eingefallen. Seine ungewöhnlich hohe Stirn war von Altersflecken übersät. Seine hageren Hände zitterten auf den Armlehnen des Ledersessels. Er lehnte seinen Kopf zurück, als machte es ihm Mühe ihn zu halten. Tony schätzte ihn auf Ende siebzig.
Bis auf das Ticken einer stolzen Standuhr war es still. Still wie in einer leeren Kirche. Deckenhohe Bücherregale und schwere Teppiche waren eine gute Dämmung. Eine grüne Bankerlampe mit Messingfuß beschien den Schreibtisch mit der modernen Telefonanlage, einem Tischkalender, einer Schale für Stifte und einer dunkelbraunen Ledermappe.
Tony saß im Schatten. Er räusperte sich, um sich bemerkbar zu machen. Weinberg reagierte nicht. Seine Augen waren zugefallen, vielleicht war er eingeschlafen, vermutete Tony und erhob sich. Auf Zehenspitzen trat er neben Weinberg, hob vorsichtig den Deckel der Ledermappe mit dem Daumen an und lugte hinein. Ein kleiner Stapel marmoriertes, dickes Papier, auf dessen erster Seite unter einem rot-blauen Wappen in großen Lettern stand: LETZTER WILLE. Tony ließ die Mappe zufallen, als er ein kleines, knackendes Geräusch vernahm, das aus der Telefonanlage kam. Dort blinkte ein grünes Licht, aber das hatte es schon die ganze Zeit über getan.
»Geboren ist er Ende 1978«, vernahm er eine raue Stimme hinter sich.
»Wer?«, fragte Tony irritiert.
»Mein Sohn!«
»Ihr Sohn?«, wiederholte Tony. Wieso wusste Dr. Weinberg nicht das Geburtsdatum seines Sohnes?
»Finden Sie ihn!«
»Ich brauche seinen Namen - und das Problem ist gelöst.«
»Feldmann«, stieß Dr. Weinberg hervor.
Tony zog die Stirn in Falten. »Und der Vorname?«, wiederholte er freundlich und beugte sich ein wenig hinab.
Dr. Weinberg schüttelte den Kopf.
Wieso wusste er nicht den Vornamen seines Sohnes?
Er forderte Tony mit einer Handbewegung auf, sich wieder zu hinzusetzen. »Man hat Sie mir empfohlen.«
»Das freut mich«, brachte Tony mühsam hervor.
»Sie sollen gut sein.«
»Das bin ich«, bestätigte er und warf mit kühnem Schwung seine Haare zurück. Sie waren grau, steingrau, und lang, hingen fast bis auf seine breiten Schultern. Sie waren dicht und glatt, und er war stolz darauf. Damit konnte er locker seine Leibesfülle überspielen. Er legte ein Bein auf das andere und betrachtete liebevoll seine grasgrüne, handgestrickte Socke. Es gab jemanden, der für ihn strickte. Die alte Mrs. Blankworth.
»Dann machen Sie Ihrem Ruf Ehre.«
»Darum bin ich hier, Dr. Weinberg.«
»Ich würde es selbst tun, aber mein Arzt hat mir das Reisen untersagt.«
»Das tut mir leid«, sagte Tony halbherzig.
Weinberg klopfte mit einem krummen Zeigefinger auf die Armlehne. »Bringen Sie meinen Sohn hierher. Hierher in dieses Haus. Zu mir, haben Sie verstanden?«
»Selbstverständlich.«
»Und jetzt gehen Sie, gehen Sie endlich!« Weinberg winkte ihn davon.
»Moment, bitte«, warf Tony ein. »Was darf ich ihm sagen? Vielmehr - was soll ich ihm sagen?«
»Das ist Ihr Problem. Sagen Sie ihm, was Sie wollen.«
»Wie Sie meinen. Aber da gibt es noch etwas, was ich Sie fragen möchte.«
»Ihr Honorar?«, fragte Weinberg mit bitterer Miene.
»Nein, nein. Das hatten wir geklärt: 800 Dollar pro Tag plus Spesen.«
Tony musterte sein Gegenüber und hoffte, dass Weinberg sich in der Zwischenzeit nicht eines Besseren besonnen hatte.
»1.000, wenn Sie es in 14 Tagen schaffen.«
1.000! Tony stockte der Atem. Für 1.000 Euro am Tag würde er alles machen. Restlos alles.
»Wenn ich vorher sterben sollte, zahlt meine Firma Sie aus. Ich habe entsprechende Anweisungen gegeben. Sie sehen, ich habe vorgesorgt.«
»Wo soll ich nach ihm suchen?«, fragte Tony und ging in Gedanken alle nordamerikanischen Staaten durch, die er per Zug, Bus oder Auto leicht erreichen konnte.
»In Europa.«
»Nein!«, entfuhr es ihm. Dr. Weinberg ahnte nicht, was er da verlangte.
»In Deutschland.«
»Nein!« Tonys Stimme brach.
»Haben Sie etwas gegen Deutschland?«
»Nichts«, beteuerte er schnell.
Im Gegenteil: Deutschland war sogar ein winziger Lichtblick. Im Gegensatz zu Amerika, wo man lediglich mit der entsprechenden Sozialversicherungsnummer weiterkam oder dann, wenn der Gesuchte mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war, gab es in Deutschland wenigstens ein sogenanntes Einwohnermeldeamt, das bei Recherchen behilflich sein konnte. Aber Fliegen?
»Wittlich heißt die Stadt.«
»Witt. Wie schreibt sich das?«
Weinberg buchstabierte, Tony schrieb.
»Sprechen Sie eigentlich deutsch?«, wollte Weinberg wissen.
Tony machte das internationale Zeichen für ein bisschen. »Aber das ist kein Problem. Unsere Sprache ist eine Weltsprache, nicht wahr?«
»Wir werden sehen. Was wollen Sie noch wissen?«
»Was ist mit der Mutter Ihres Sohnes?«
Weinberg schüttelte entschieden den Kopf. »Das gehört nicht hierher.«
»Ein Foto von ihr würde mir helfen.«
»Es gibt keines. Und wenn es eines gäbe, wäre es 36 Jahre alt.«
»Gut«, sagte Tony. »Aber Sie können sich doch sicherlich an ihren Vornamen erinnern?«
Weinbergs Blick wanderte über Tony hinweg und kehrte zu ihm zurück. »Berthilde«, gab er endlich preis, sprach den Namen so leise aus, als handelte es sich um eine geheime Information.
»Wie bitte?«
»Berthilde.«
»Schöner Name«, sagte Tony, weil er dachte, dass Weinberg das gern hörte. »Berthilde Feldmann.«
Weinberg nickte.
»Können Sie sich noch an den Namen der Straße erinnern, in der sie gewohnt hat?«
»Mozartstraße«, stieß Weinberg hervor und presste die Lippen aufeinander, als hätte er schon viel zu viel gesagt.
»Wunderbar«, lobte Tony ihn. »Und die Hausnummer?«
Weinberg richtete seinen Blick nach innen.
»Ist auch schon alles sehr lange her«, tröstete Tony ihn und bemühte sich, sein wachsendes Entsetzen über den Auftrag in Schach zu halten. Wie sollte er das Zoe beibringen? Sie kannten sich noch nicht lange, er ließ sie ungern allein. Er war eifersüchtig und sie empfänglich für Komplimente.
»Ich war von 1970 bis 1977 in Spangdahlem stationiert«, hörte er Weinberg sagen. »Ich war Captain bei der Air Force.«
Tony wartete, dass er fortfuhr. Aber er tat es nicht. »Danach sind Sie zurück nach Amerika?«, half Tony nach einer Weile nach.
Weinberg klopfte auf seine rechte Armlehne. »Ja, hierher. Ich musste zurück. Ich gehöre hierher. Mein Vater hatte große Pläne mit mir. Ich habe die Army quittiert und studiert. Wissen Sie, ich sollte immer in die Firma meines Vaters einsteigen. Und ich habe es nie bereut. Mir konnte überhaupt nichts Besseres passieren.«
»Was ist das...
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