Schweitzer Fachinformationen
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VORWORT
»Ich weiß, was dein Dad getan hat.«
Es war das Jahr, in dem ich zehn Jahre alt geworden war, und einer meiner Klassenkameraden hatte sich neben mich auf die Bank gesetzt und flüsterte aufgeregt in mein Ohr.
Ich legte mein Bologna-Sandwich auf den Tisch. »Er hat ein Buch geschrieben«, sagte ich. Der kometenhafte Aufstieg meines Vaters als Schriftsteller begeisterte mich nicht unbedingt. Seither sprach er lauter. Er trank mehr als sonst - und er hatte ohnehin schon eine Menge getrunken -, war häufig auf Reisen und ließ mich mit seiner Assistentin Melinda allein, einer jungen Frau, die mittlerweile einen eigenen Schlüssel zu unserem Haus besaß. Und die mir erzählte, mein Vater sei zu beschäftigt, um meine Mathearbeit zu unterschreiben oder mit mir Vokabeln zu lernen.
Der Erfolg meines Vaters hatte dafür gesorgt, dass die Literaturszene auf ihn aufmerksam wurde - in den Buchhandlungen standen seine Bücher direkt neben denen von Stephen King, und in manchen Wochen übertraf er sogar dessen Verkaufszahlen. Sein Erfolg war auch in Ojai nicht unbemerkt geblieben und hatte Erinnerungen geweckt. Das Getuschel wurde schließlich so nachdrücklich, dass es sogar den Kids auffiel.
Der Junge, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, schüttelte den Kopf, und seine Augen glitzerten vor Schadenfreude, weil er derjenige war, der es mir sagte. Der genau dort, in der Cafeteria der Schule, mein Recht auf eine unbeschwerte Kindheit zerstörte. »Dein Dad hat seinen Bruder und seine Schwester umgebracht. Er hat sie zu Hause ermordet.«
»Du lügst«, gab ich zurück. »Du bist ja bloß neidisch.«
Doch als die Kinder um uns herum völlig anders reagierten, als ich erwartet hatte, kamen mir Zweifel an meinen eigenen Worten. Denn in ihren Mienen spiegelte sich keine Spur herablassender Skepsis, sondern nur stummes Entsetzen darüber, dass dieser Junge sich tatsächlich getraut hatte, laut auszusprechen, was alle anderen bereits wussten.
So fing alles an. Auf diese Weise entdeckte ich das dunkle Geheimnis im Zentrum meiner Familie.
Von diesem Moment an wurde der Mord an Danny und Poppy Taylor zu einer Geschichte, die man sich heimlich auf Pyjamapartys erzählte, während man Ouija spielte und um Mitternacht der Geist der Bloody Mary im Spiegel erschien. Zwei Kinder, genauso alt wie wir, die 1975 erstochen worden waren, während die ganze Stadt den offiziellen Beginn des Sommers beim jährlichen Ojai-Festival feierte, nur hundert Meter vom Haus der beiden entfernt.
Alle in meiner Klasse kannten bald sämtliche Details dieser Geschichte, obwohl Danny und Poppy zu diesem Zeitpunkt bereits seit über fünfzehn Jahren tot waren. Wie Poppy eigentlich ihre beste Freundin am Tilt-A-Whirl treffen wollte und vorher rasch nach Hause gegangen war, um sich einen Pullover zu holen. Wie man sie in einen Hinterhalt gelockt und in ihrem Schlafzimmer umgebracht hatte. Wie ihr älterer Bruder Danny, der herbeieilte, um sie zu retten, im Flur ermordet worden war, nur ein paar Schritte von seiner Schwester entfernt.
Meine Mitschüler kramten alte Zeitungsausschnitte aus den Schränken hervor und reichten sie in der Pause wie Schmuggelware herum. Die Klassenfotos der beiden wurden eingehend studiert. Die zierliche Poppy mit dem gewellten Haar, das aussah, als würde es rasch zerzausen, ihre sommersprossigen Wangen. Dannys Gesicht, erleuchtet von unerfülltem Potenzial, sein breites Lächeln ein niemals eingelöstes Versprechen.
Sie sprachen darüber, wo man Danny gefunden hatte, malten sich aus, wie verzweifelt er versucht haben musste, seiner kleinen Schwester zu Hilfe zu kommen und sie zu beschützen, auch wenn es ihn sein eigenes Leben kostete. Aber Danny war gescheitert, Poppy war gestorben, und man hatte ihre Namen aus der Vergangenheit in die Gegenwart gezerrt, um als warnendes Beispiel zu dienen. Passt auf, dass ihr nicht so endet wie Danny und Poppy. Diese Warnung verbarg sich insgeheim hinter der Routinefrage der Eltern: Ist ein Erwachsener zu Hause?
Plötzlich ergab alles in meiner Kindheit einen Sinn. Das leise Gemurmel, das uns überall zu folgen schien. Die Lücke, die entstand, wenn wir in der Schlange im Supermarkt standen. Unser Telefon, das niemals klingelte, weil sich jemand mit mir zum Spielen verabreden oder mich zum Geburtstag einladen wollte. Ich hatte immer geglaubt, es läge daran, dass meine Mutter uns verlassen hatte, als ich fünf Jahre alt war, eine Schande, die ich mit mir herumtrug, bis eine noch größere sie verdrängte.
Als ich es schließlich erfuhr, war es nicht schwer, die Fotoalben hinten im Schrank meines Vaters zu finden.
Eine frühe Aufnahme, mit der schwungvollen, schrägen Schrift meiner Großmutter auf der Rückseite - Danny neun Jahre, Vince acht Jahre, Poppy sechs Jahre -, zeigte die Geschwister nebeneinander in Pyjamas auf einer braun gestreiften Couch, Becher mit heißer Schokolade in ihren Händen. Auf einem anderen Foto, das ein paar Jahre später entstand, spielten sie an einem kleinen Küchentisch Karten. Im Hintergrund war undeutlich ihre Mutter zu erkennen, und von der Zigarette des Vaters im Aschenbecher stieg am Bildrand Rauch auf.
An den Gesichtern der drei Geschwister konnte ich ablesen, wie die Zeit verging und die Jahre und Tage allmählich näher an den 13. Juni 1975 herankrochen.
Drei Jahre noch, als sie auf einem Foto den Familienwagen, einen Kombi, in der Auffahrt wuschen - Danny in seinen dünnen Shorts hielt den Schlauch, mein Vater ein magerer Zwölfjähriger, der mit bloßem Oberkörper dastand und die Motorhaube mit einem Schwamm bearbeitete, und die zehnjährige Poppy, die aufkreischte, als ein Wasserstrahl sie am Rücken traf.
Zwei Jahre noch, als Danny, im Anzug, hochgewachsen und gut aussehend, an der Schule eine Auszeichnung entgegennahm, und meine Großeltern, stolz und noch ungebrochen, neben ihm standen.
Ein Jahr noch, als mein Vater seinen fünfzehnten Geburtstag feierte. Er beugte sich über den selbst gebackenen Geburtstagskuchen und warf dem Fotografen einen bösen Blick zu.
Zehn Monate noch, als Poppys Klassenfoto in der Highschool aufgenommen wurde; sie lächelte, und ihr leicht schiefer Vorderzahn, den sie wahrscheinlich gehasst hatte, war zu sehen. Zwei Haarspangen hielten ihr langes Haar direkt über den Ohren zurück. Ich fragte mich, ob sie irgendwie ahnte, welches Schicksal ihr am Ende des Schuljahres bevorstand. Ob sie wusste, dass dies ihr letztes Klassenfoto sein würde. Oder sich einfach nur fragte, ob ihr Haar okay aussah oder wie sie in der Mathearbeit abschneiden würde, die sie vielleicht später an diesem Tag schreiben würde.
Ich versuchte wieder und wieder, diesen zehnjährigen Zeitraum zu verstehen, ging dieselben Theorien und Fragen durch, die offenbar alle, die Danny gekannt und Poppy geliebt hatten, so sehr beschäftigten. Sie kamen immer wieder auf Dannys Potenzial, seine Beliebtheit, seinen Sinn für Humor zu sprechen. Und sie beschrieben Poppys leidenschaftliches Engagement für Gleichberechtigung. Ihre Hartnäckigkeit. Ihre Träume, später einmal Regisseurin zu werden.
Auch von meinem Vater war die Rede. Wie er mit seinen Scherzen manchmal so weit ging, dass es an Grausamkeit grenzte. Wie er sich - vergeblich - darum bemüht hatte, dazuzugehören und sich einzufügen. Damals hatten sich alle gewundert, wie es dem schwierigen Vincent gelungen war, sich diese Freundin an Land zu ziehen.
Die Freundin, die später meine Mutter werden sollte.
Ihre Geschichten verwiesen auch auf meine eigenen, seit jeher vorhandenen Charakterzüge. Die Intensität meines Vaters. Die Unsicherheit meiner Mutter. Das Temperament meiner Tante und das Charisma meines Onkels.
Aber als Ghostwriterin - jemand, der den Geschichten anderer zuhört und eine Erzählung daraus entwickelt - weiß ich inzwischen aus Erfahrung, wie schwer es ist, etwas herauszufinden, das jemand unbedingt geheim halten will. Wenn dieser Jemand schließlich stirbt, nimmt er seine Geheimnisse mit ins Grab, bis irgendwann niemand mehr am Leben ist, der sich daran erinnert.
Alles, was jetzt noch übrig ist, sind die fünfzig Jahre alten Mordfälle, fest verankert im Zentrum unserer Familie. Sie sind ebenso sehr Teil meiner DNA wie mein braunes Haar.
Ich habe mir unzählige Male vorgestellt, was am 13. Juni 1975 geschehen ist. Wie aus der Vogelschau sehe ich den Tag vor meinem geistigen Auge, kann ihn wie einen Film betrachten, der allmählich vor mir abläuft. Ein junges Mädchen im Teenageralter ist auf dem Weg nach Hause, um sich rasch einen Pullover zu holen. Sie ist beinahe am Ziel. Ist die Straßenbeleuchtung schon eingeschaltet? Der Gerichtsmediziner hat Poppys Todeszeitpunkt auf ungefähr 19 Uhr bestimmt, Dannys kurz danach.
Poppy wusste nicht, was ihr zu Hause zustoßen würde. Sie ahnte nichts von dem entsetzlichen Albtraum ihrer letzten Minuten. Ganz gleich, wie ich mir den Ablauf vorstelle, sie hatte nicht die geringste Chance. Den Autopsie-Ergebnissen zufolge wurde mein Vater innerhalb einer Stunde zum Einzelkind.
Manche sagen, dieses Trauma habe ihn zu einem der produktivsten Horrorautoren seiner Generation gemacht. Andere sind weniger großzügig.
Mein Vater ist ein talentierter Schriftsteller - ein professioneller und instinktiver Lügner. Ich bin nicht naiv genug, um alles, was er mir erzählt hat, für die absolute Wahrheit zu halten. Ich möchte Sie dazu einladen, sich selbst ein Urteil zu bilden, so wie ich es tun musste.
Olivia Taylor Dumont
13. Juni...
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