Schweitzer Fachinformationen
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Der Lautsprecher knackt. Ich weiß sofort, dass es um mich geht, grinse und sehe zu Frau Berg. Ihre linke Augenbraue schnellt in die Höhe. Obwohl ich erst seit acht Monaten hier bin, kenne ich den vorwurfsvollen Blick. Ein kurzes Hüsteln, und Gormanns blecherne Stimme scheppert über die Sprechanlage.
»Christopher Tiedemann! Ins Rektorat, sofort!«
Unter dem Gejohle der Klassenkameraden laufe ich hinaus. Bevor ich die Tür schließe, zwinkert mir Jenna aufmunternd zu und ich nicke. Dann streift mein Blick die Neue. Selene. Sie sitzt in der letzten Reihe und schaut durch mich hindurch. Sie ist erst eine Woche an dieser Schule und es gibt keinen Kerl, der nicht auf sie abfährt. Inklusive mir. Jenna nennt sie abfällig Madame Betterfly, weil sie sich benimmt, als sei sie etwas Besseres, obwohl sie nicht mehr wert sei als eine Schmeißfliege.
Ich mache mich auf den Weg, um mir erneut eine Standpauke abzuholen. Die Flure ziehen sich endlos. Zu Beginn verlief ich mich regelmäßig in diesem Gebäude. Gänge, Zimmer, Treppen. Ein Stockwerk sieht aus wie das andere. Und bei all den Schulen, die ich mit meinen siebzehn Jahren bereits von innen gesehen habe, kann der Überblick leicht verloren gehen.
Eine Glastür trennt den Verwaltungstrakt vom Schulgebäude. Sie ist immer geschlossen, um den Lärm der Schüler draußen zu halten.
Gormann hasst Unhöflichkeiten, deswegen reiße ich ohne anzuklopfen seine Tür auf.
»Raus Tiedemann! Anklopfen!«, brüllt er wie erwartet. Grinsend gehorche ich, poche dreimal kräftig gegen das Holz - und warte.
»Komm rein! Setz dich!« Er klingt genervt und sieht müde aus. Wie zum Beweis nimmt er die Brille ab und reibt sich die Augen. Er haucht die Gläser kurz an, putzt sie zwischen den Hemdzipfeln und setzt die Brille wieder auf. Anschließend blättert er schweigend in irgendwelchen Unterlagen. »Um Himmels willen, Christopher. Wie viele Schulen hast du denn schon besucht?«
»Keine Ahnung.« Das ist noch nicht einmal gelogen. Mum und ich ziehen so häufig um, dass man meinen könnte, wir seien auf der Flucht. Je älter ich werde, desto mehr stinkt mir das. Beschwere ich mich bei ihr, höre ich die immer gleiche Leier: der Job, nicht zu ändern, sonst könnte sie uns beide nicht durchbringen.
»Irgendeine Ahnung, weswegen ich dich herbestellt habe?« Lehrergequatsche. Klar weiß ich das. Aber warum sollte ich ihm die Frage beantworten? Ich zucke mit den Achseln.
»Ich helfe dir auf die Sprünge: Fabian, Toilette?«
»Keine Absicht, Herr Gormann. Ehrlich.«
»Natürlich nicht. Du hast seine Tasche getragen, musstest dann dringend wohin und dabei ist sie aus Versehen ins Klo gefallen.«
»Der Typ ist ein verdammter Idiot!«, platzt es aus mir raus.
»So wie du, mein Lieber. Spüle ich deswegen dein Zeug runter?«
»Sie finden, ich bin ein Idiot?« Ich will meiner Stimme einen bedrohlichen Klang geben, aber er durchschaut mich, was ich daran erkenne, dass er seine Mundwinkel spöttisch nach oben zieht. Ich mag den verbalen Schlagabtausch mit Gormann. Endlich jemand, der mir nicht vorjammert, er wolle doch nur mein Bestes.
»Gibt es einen Grund für die häufigen Schulwechsel?«
»Sie meinen, abgesehen davon, dass ich als Idiot zu blöd bin für die Schule?«
»Vorsicht, Junge!«
»Fragen Sie meine Mutter.«
»Würde ich gern. Aber sie ist nicht erreichbar.«
»Sie arbeitet. Und damit das so bleibt, müssen wir dauernd umziehen.«
»Eine Handynummer wäre hilfreich.«
»Mum musste ihr Smartphone genauso abgeben wie alle anderen. Die haben bei uns keine Ausnahme gemacht.«
»Ihr habt euch keins von den legalen Geräten geholt?«
Ich schüttle den Kopf, denke an die Zeitungsausschnitte, die wir im Unterricht behandelten: MEO hatte seine Hexenjagd bei den Smartphones begonnen. Ein Jahr lang klebten furchteinflößende Plakate überall in jeder Stadt. Auf einem stand Tödliches Selfie zu lesen. Dazu das Bild eines blutüberströmten Teenagers, der auf der Jagd nach dem perfekten Foto durch ein Vordach aus Glas gestürzt war. Ein anderes trug den Titel Tödliche Message und zeigte eine junge Mutter, die hinter dem Steuer eine Nachricht schrieb. Grelle Scheinwerfer machten klar, dass sie und ihr Kind geradewegs in einen LKW rasten. Die Kampagne von MEO zeigte Wirkung. Smartphones verschwanden und ihr Besitz steht jetzt sogar unter Strafe. Mit den Handys, die es heute auf dem Markt gibt, kann man nichts weiter als telefonieren.
»Ihr solltet euch ein Mobiltelefon von MEO zulegen«, unterbricht Gormann meine Gedanken. Er kneift die Augen zusammen und sieht mich durch seine Brillengläser an. »Steht ein erneuter Umzug an?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Was ist mit deinem Vater?«
Ich schlucke. Geht dich einen Scheißdreck an, möchte ich ihm entgegenschleudern. Doch ich beiße mir rechtzeitig auf die Zunge und starre an ihm vorbei an die Wand. Hinter ihm hängt ein Kunstdruck von Dalí. Eines der wenigen Bilder, das ich trotz meines nicht vorhandenen Kunstverstandes erkenne. Die Uhr, die den Tisch hinunterläuft, ist unverwechselbar. In der unteren Ecke des Posters sehe ich das Logo von MEO. Dazu der Slogan Zeit ist kostbar.
»Wenn deine Mutter arbeitet, soll dein Vater zum Gespräch kommen. Mir egal wer, aber einer von beiden muss hier vorstellig werden.«
Ich überlege einen Moment, ob ich die Mitleidstour fahren und ihm eröffnen soll, dass ich meinen Vater noch nie gesehen habe, zumindest erinnere ich mich nicht daran. Ich könnte erklären, dass unsere Familie aus Mum und mir besteht. Keine Geschwister, keine Großeltern, keine Tanten oder Onkel. Aber ich vermute, dass das bei ihm nicht zieht.
Anstelle einer Antwort starre ich ihn schweigend an. Er starrt zurück. Er kennt das Spielchen, wir haben es schon einige Male durchgezogen und er ist gut darin. Doch heute schüttelt er langsam den Kopf. »Es ist genug, Tiedemann. Die Beschwerden über dich nehmen zu. Ich dulde dieses Verhalten nicht mehr. Entweder deine Eltern kommen oder du fliegst.«
Sicher erwartet er, dass ich jetzt panisch um eine allerletzte Chance flehe. Aber seine Drohung lässt mich kalt. Es kümmert mich nicht, ob ich hier bin oder auf irgendeiner anderen Schule. Während Gormann wartet, schaue ich zum Fenster hinaus. Einfach verschwinden, das wäre es.
»Leben deine Eltern getrennt?«, bohrt er weiter.
»Das geht Sie nichts an.«
»Und ob mich das etwas angeht. Man könnte fast meinen, du lebst ohne Eltern. Bei der Anmeldung habe ich deine Mutter einmal gesehen. Danach nie mehr. Deinen Vater kenne ich überhaupt nicht. Und keine Reaktion - weder auf Anrufe noch auf Briefe. Ich muss handeln.«
Ich starre auf die fließende Uhr hinter ihm und balle die Hände zur Faust, bis die Fingernägel in der Handinnenfläche schmerzen.
Ich stelle mir vor, Gormann würde verschwinden. Genau jetzt. In diesem Moment. Ich schaue ihm direkt in die Augen. Meine Gedanken formen sich wie von selbst: Warum springst du nicht einfach aus dem Fenster?
Gormann fährt sich schweigend durch die grau melierten Haare. Dann steht er auf, öffnet das Fenster und springt.
***
Als ich mit Jenna mittags das Schulgebäude verlasse, bin ich immer noch fassungslos. Was zum Teufel ist da nur passiert? Kann es sein, dass .? Der Gedanke ist so absurd, dass ich ihn nicht zu Ende denke.
»Zeit ist rum, Chris.«
Ich schaue stumm auf meine beste Freundin hinunter. Jenna Mae Ledford ist mit ihren einsfünfundsechzig gute zwanzig Zentimeter kleiner als ich und ihre zierlichen Glieder lassen sie zerbrechlich wirken. Was ihr aber an Körpergröße und Kraft fehlt, macht sie mit ihrer Rotzigkeit wieder wett. Und nichts an ihrem Äußeren lässt darauf schließen, dass sie aus einem stinkreichen Elternhaus kommt. Im Gegenteil. Ihre Klamotten haben was von Secondhand, sind vintage und bunt und meist eine Nummer zu groß. Mit ihrer grünen Ponysträhne in ihrem dunkelblonden, schulterlangen Haaren sieht sie aus wie eine rebellische Göre.
»Ich rede mit dir, Chris!«
»Was ist?«, frage ich.
»Ich will deine Ausrede hören. Hattest genug Zeit, sie dir zurechtzulegen.«
»Was denn für eine Ausrede?«
»Für den tausendsten Besuch in Gormanns Büro. Oder dafür, dass er danach mit gebrochenem Bein im Gebüsch lag. Oder dafür, dass du dir scheißkreidebleich ständig die Schläfen massierst.«
Betont lässig schiebe ich mir eine dunkle Locke aus der Stirn und schaue ihr in die Augen. »Nichts passiert, ehrlich.«
»Dann hast du Gormann nicht aus dem Fenster geschubst?«
»Willst du mich verarschen, Jen? Du traust mir zu, dass ich unseren Direktor aus dem Fenster schmeiße?«
»Weiß nicht, die anderen schon. Was war denn los?«
Ich antworte nicht. Wir laufen nebeneinander her und ich denke an Mum. »Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, sie könnten in Erfüllung gehen.« Als ich den Satz das letzte Mal zu hören bekam, standen wir in der Küche. Es war Sommer, kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag. Sie wickelte Gläser in Zeitungspapier und packte sie in Umzugskartons. Ich tobte, dass ich nicht mitkäme. Nicht schon wieder eine neue Stadt, eine neue Schule und neue Freunde, falls ich denn welche fände.
»Ich wünschte, du hättest nicht diesen bescheuerten Job.«
Aber noch bevor ich es ausgesprochen hatte, wusste ich, wie sie reagieren würde. Ihr ». könnten in Erfüllung gehen« wurde vom Knallen meiner Zimmertür geschluckt.
Aber Mum arbeitet immer noch als Assistentin für diesen Bürohengst, mit dem wir dann umziehen müssen, wenn er versetzt wird. Mein kindischer Wunsch kann also nicht der...
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