Schweitzer Fachinformationen
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Grau in Grau, mit vom Novemberregen glitzernden schmutzigroten Dächern, standen die fünf zweistöckigen Häuser in der Lilienstraße, getrennt voneinander durch größere Rasenflächen. In der Mitte des geschorenen Grases befanden sich Sandkästen für die Kleinkinder, die hier in besseren Tagen ihre Burgen und Bunkerhöhlen bauten oder mit Kuchenformen sich als Bäcker versuchten.
Heute, am 22. November des Jahres 1968, der in seiner Trostlosigkeit so recht aufs Gemüt schlagen konnte, war das Spielgelände verwaist, im Sandkasten bildeten sich Pfützen. Das Wasser vom grauschwarzen Himmel plätscherte in ununterbrochener Monotonie gegen die Fensterscheiben.
Der Wind umheulte die obere Eckwohnung des zweiten grüngestrichenen Hauses, und der Bergmann, der hier mit Frau und Kind lebte, wurde durch den wilden Gesang nicht gerade optimistisch gestimmt.
Er hatte den Kohleherd in der Küche in Gang gesetzt und rieb sich, über den Ofen gebeugt, die nervigen Hände.
Sein schwarzes Haar fiel ihm über die Augen, und mit einer Kopfbewegung brachte er es wieder in die ursprüngliche Lage, strich es glatt.
Als das Feuer genügend Wärme verbreitete, zog er sich, lediglich mit blauem Pyjama bekleidet, in das Schlafzimmer zurück.
Er küßte Gisela, seine Frau, auf die Stirnlocken, und trotz dieser überaus zärtlichen Berührung schlug sie ihre braunen Augen auf und war sofort hellwach.
«Morgen», sagten beide wie aus einem Mund, und gleichzeitig bewegte sich Thomas in dem Kinderbett.
Obgleich für den Junior ein eingerichtetes Kinderzimmer zur Verfügung stand, wollte er sich seit seinen Babytagen nicht von der Schlafstelle neben den Eltern trennen.
Als Thomas vier Jahre alt gewesen war und in der Kinderstunde des Fernsehens das Leben auf einem alten Bauernhof kennengelernt hatte, sagte er einmal zu seinem verdutzten Vater: «Papa, du bist der alte Wallach, Mami die Stute und ich das kleine Fohlen in der Box.»
Das stramme Kerlchen sprang über das Holzgitter seines Bettes und war im Nu bei seiner Mutter, kuschelte sich an sie. «Papa, mach doch Frühstück. Ich bleib mit Mami noch im Bett.»
«Nun aber raus, Thomas. Im nächsten Jahr für die Schule mußt du noch früher aufstehen», lächelte der breitschultrige Mann. «Es ist jetzt halb neun.»
«Ach Papa - komm doch auch noch mal rein. Du gehst ja erst am Mittag auf Zeche.»
«Nein, Thomas. Papa ist sauer, wenn Opa Wagner seine Platte unten so laut am Spielen ist. Laß uns aufstehen. In der Küche hört man die ewige Waldeslust nicht.»
«Der Opa Wagner ist ein oller Sack. Der will uns nur schika . schikanivieren - sagt Mami», rief der kleine Mann erzürnt.
«Pst», machte Gisela und hielt sich den Zeigefinger an den Schmollmund.
«Erstens heißt das schikanieren und zweitens: Laß das nie den Wagner hören, sonst wird er noch böser.»
«Schon wenn man vor der Haustür leise am Singen ist, regt sich der Opa Wagner auf», nörgelte der Kleine weiter.
«Ruhig - Junge», sagte der Vater, der neben dem Bett seiner Frau stand. Immer noch im Schlafanzug, den er zu Hause nie ablegte.
«Die Wagners sind alte Leute; die haben so ihre Mucken.»
«Aber Opa Schmielewski ist doch ganz anders», gab der kleine schwarze Lockenkopf zu bedenken.
«Jau», lachte Heiner Lenz. «Der Papa von der Mami hat anerkannten Staub und das steife Bein vom Unfall. Da kriegt er 'ne schöne Rente. Der Wagner hat angeblich nur Bronchitis, leidet aber mit seinem dicken Bauch darunter noch mehr als dein Opi.»
Heiner atmete unwillkürlich tief durch, ehe er fortfuhr: «Außerdem hatten Wagners drei Söhne, die alle im Krieg gefallen sind und ihnen keine Enkel machen konnten - so, wie du für Opa einer bist. Guck mal, du bist Opas Liebling, den er verwöhnen kann. Wagners haben nich so ein Liebling und sind deshalb sauer . vielleicht 'n bißchen mit Recht. Da muß man schon ein Loch zurückstecken. Laß uns also in die Küche gehen, woll?»
Gisela hatte schon ihren Bademantel an und verschwand in der automatischen Kleinküche, setzte den Wasserkessel auf und deckte den Tisch.
Ihre beiden Männer nahmen auf der rotgemusterten Eckbank Platz.
Und bald dampfte die Porzellankanne auf dem Küchentisch, und der Kaffee verbreitete seinen belebenden aromatischen Duft.
Die drei aßen schweigend die von Gisela liebevoll bestrichenen «Butters».
Den Brötchenmann nahm man zu dieser Zeit nicht in Anspruch, weil an allen Ecken und Enden gespart werden mußte. Heiner und Gisela Lenz hatten, als die den Kohlenpott erschütternde Bergbaukrise vor zwei Jahren ihrem Höhepunkt zuging, gottlob ihre komfortable Wohnungseinrichtung bereits angeschafft gehabt.
In den ersten zwei Jahren ihrer Ehe hatten sie das Nötigste «abgestottert», um danach Stück für Stück in Barkäufen zu erwerben. -
Der von Opa Wagner in seiner Wohnung im unteren Stockwerk auf Hauslautstärke eingestellte Grammophonapparat war in der Küche nur undeutlich zu vernehmen.
Sie hörten das Summen der Klingel neben der Haustür.
«Guck mal nach, Thomas», quälte sich Heiner den Befehl mit vollem Mund ab.
Der Junge erhob sich, eilte durch den Korridor, drückte auf den weißen Knopf neben der Wohnungstür, öffnete und wartete.
Der Postbote reichte Thomas einen Brief. Wieder bei den Eltern, übergab der Sohn ihn dem Vater.
«Blauer Brief? Absender unsere Gesellschaft?» Mit nervösen Fingern riß Heiner das Kuvert auf, und beim Lesen des knapp abgefaßten Bescheids räusperte er sich, wurde blaß. Zugleich stieg ihm das in letzter Zeit häufig sich einstellende Sodbrennen in den Hals.
Er schluckte und griff sich an die Brust. Halblaut wiederholte Heiner die letzten Zeilen des Briefs seiner Betriebsleitung: «. bei nochmaligem Krankfeiern Ihrerseits sehen wir uns leider gezwungen, Ihr Arbeitsverhältnis aufzukündigen.»
Gisela starrte entsetzt auf ihren Mann.
«Wie? Hab ich richtig gehört?»
Lenz ignorierte die Frage.
«Gisela, wie oft war ich seit unserer Hochzeit krank geschrieben?»
Sein Gesicht verzerrte sich.
«Aber Heiner, du warst doch erst in diesem Jahr zweimal am Feiern. Ja - jedesmal einen Monat wegen der Bandscheibe. Aber der Arzt sagt doch selbst, daß sich das nur bessert, wenn du gar nicht körperlich arbeiten würdest.
Und jetzt noch an der Baustelle im Querschlag. Da haben wir im Monat - ohne Überschichten - fast dreihundert Mark weniger Geld. Und jetzt das?»
Gisela griff nach dem Schreiben und lachte hysterisch auf.
«Du Ärmster hast wirklich gelitten. Und dann noch pro Schicht zehn Mark weniger. Wenn Papa nicht am Helfen wär?»
Heiner verschluckte sich beim Kaffeetrinken. «Papa - Papa! Als ob wir uns immer auf seine Scheinchen verlassen könnten.»
Er steckte sich eine Zigarette an. Der Appetit an den herzhaften Schnittchen war ihm gründlich verdorben.
Heiner sprach: «Das hab ich alles Steiger Brandt zu verdanken.
Vor zwei Monaten, kurz bevor ich an die Baustelle kam, hat er seine Aufsichtspflicht grob vernachlässigt. Kommt vor Ort, quakt wie immer: Mehr Meter, Kerls, mißt aber die Wetterverhältnisse mit seinem Methanometer nicht. Kaum war er weg, kreuzt der Sicherheitssteiger auf und - jagt uns aus der Kuhle. Die Bude stand mit fünf Prozent Methangas voll. Wir mußten erst 'ne neue Lutte zur Sonderbewetterung vorbauen und warten, bis die Luft wieder sauber war. Na, da war ich am Brüllen und hab den Brandt verflucht.
Du weißt ja, Gisela: Zwischen fünf und vierzehneinhalb Prozent CH4-Gehalt knallt's, wenn sich da unten eine Flamme bildet oder ein elektrischer Funken entsteht.
Ein Arschlecker von Kumpel muß dem Brandt meine Wut gesteckt haben, und ab 1. Oktober war ich an die Baustelle abgeschossen. »
«Nicht solche Ausdrücke vor dem Jungen, Heiner», sagte Gisela.
Thomas warf ein: «Denkste, ich sag nicht Scheiße und Arschlecken, Mami? Ein richtiger Kumpel spricht so, woll - Papa?»
«Du wirst kein Kumpel mehr, Thomas. Auch wenn unser Pütt zu deiner Zeit noch laufen sollte. Du sollst was anderes . Besseres als dein oller Papa lernen», entgegnete Heiner. Die Augen des Mannes sprühten Feuer.
Ungeachtet des Jungen schlug er die Faust auf den Tisch, daß die Tassen, tanzten, und schrie: «Da malocht man jetzt dreizehn Jahre auf'm Pütt, nutzt sich die Bandscheibe ab und darf mit fünfunddreißig Jahren an 'ner Baustelle mit 'nem Halbinvaliden - und noch dazu 'nem Zeugen Jehovas - arbeiten, hat nicht wie im Abhauen 'nen Ladewagen zum Verräumen, schippt wie 'n Bekloppter, quält sich mit dem schweren Hammer am festen Stein ab, hebt schwere Rundbögen, hat Schmerzen im Kreuz und kriegt dafür lumpige sechsunddreißig Möpse. Und . im Bett ist es auch nicht mehr so am Klappen wie früher.»
«Was ist im Bett nich mehr am Klappen?» fragte Thomas.
«Na, was soll schon nich klappen? Schlafen 'türlich.»
«Mit Mami schlafen?» bohrte der kleine Mann weiter.
«Der Papa drückt die Mami jetzt weniger, nimmt sie nicht mehr so oft in die Arme, weil er sich Sorgen macht, Thomas», erklärte Gisela, hob die Brust unter dem Bademantel, warf Heiner einen verlangenden Blick zu.
Aber er wich dem Blick seiner zierlichen, doch wohlgerundeten Frau aus und lenkte ab:
«Mindestens zwei Stunden quakt mir mein Kumpel davon, wie er endlich Prediger, vertrauter Diener Gottes, werden konnte; nach Jahren, in denen er immer wieder der Versuchung erlag und sich mit Schnaps am Volltrichtern war. Haha!» lachte Lenz plötzlich. «Der...
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