Prolog
Shuiwa nahm das kleine Bündel aus den zitternden Händen seiner Mutter entgegen. Darin waren ein Paar Stoffschuhe mit dicken Sohlen, die sie für ihn genäht hatte, drei Dampfbrötchen, zwei viel zu oft geflickte Kleidungsstücke und zwanzig Yuan. Sein Vater hockte derweil am Wegrand und zog mürrisch an seiner Pfeife.
»Shuiwa geht fort, und du machst so ein Gesicht!«, schimpfte ihn seine Frau, doch er blieb sitzen und brütete stumm vor sich hin.
»Willst du nicht, dass er geht?«, schimpfte sie weiter. »Dann gib ihm doch genug Geld, dass er sich ein Haus bauen und eine Frau nehmen kann!«
»Verschwinde!«, schrie der Vater plötzlich, ohne aufzusehen. »Alle laufen sie weg von hier! Wir hätten besser gleich einen Wurf Hunde aufgezogen!«
Shuiwa blickte noch einmal zu dem Dorf hinüber, in dem er geboren und aufgewachsen war. In der Gegend, in der es lag, herrschte ewige Trockenheit. Die Bewohner konnten nur überleben, weil sie das spärliche Regenwasser in ihren Zisternen sammelten, aber seine Eltern hatten nicht einmal genug Geld, um sich eine Zisterne aus Zement zu bauen, daher wurde das Wasser in ihrer irdenen Zisterne im Hochsommer faulig. In früheren Jahren hatten sie es trotzdem noch trinken können, nachdem sie es abgekocht hatten - es schmeckte nur ziemlich bitter. Aber in diesem Sommer hatten sie von dem Wasser Durchfall bekommen. Es wären giftige Steine in der Erde, die sich im Wasser aufgelöst hätten, hatte ihnen ein Arzt aus der nahen Kaserne erklärt.
Shuiwa warf seinem Vater einen letzten Blick zu, dann ging er davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er erwartete nicht, dass sein Vater ihm hinterhersehen würde. Wenn der Alte Kummer hatte, hockte er bloß auf dem Boden und rauchte verdrießlich vor sich hin, als hätte er sich in einen Klumpen Erde verwandelt. Stundenlang konnte das so gehen.
Und doch konnte Shuiwa das Gesicht seines Vaters sehen - oder vielmehr: Er ging darauf. Die ausgedörrte gelbbraune Erde der endlosen Ebene Nordwestchinas, die sich, von der Erosion aufgerissen, ringsum erstreckte - sah sie nicht aus wie das Gesicht eines alten Bauern? Die Bäume, das Land, die Häuser, die Menschen, alles hier war dunkelgelb und von Furchen durchzogen. Er konnte zwar die Augen dieses ungeheuren Gesichts nicht erkennen, aber er spürte, dass sie da waren, dass sie aufblickten zum Himmel. In ihrer Jugend hatten sie den Regen herbeigesehnt, doch nun, im Alter, stierten sie nur noch tot in die Luft. Nein, dachte Shuiwa, er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Flecken Erde jemals jung gewesen war. Dieses Gesicht musste schon immer starr und leblos gewesen sein.
Ein trockener Wind kam auf, und der Weg, der aus dem Dorf hinausführte, versank in gelbem Staub. Shuiwa aber ging unbeirrt weiter. Heute machte er den ersten Schritt in ein neues Leben. Dieser Weg würde ihn an einen Ort führen, von dem er nicht einmal zu träumen gewagt hatte.
Das erste Ziel im Leben: Wasser trinken, das nicht bitter ist, und ein bisschen Geld verdienen
»Oh! Hier gibt es aber viel Licht!«
Es war schon Nacht, als Shuiwa im Revier ankam, doch rings um ihn her leuchteten die kleinen Lichter der vielen illegalen Kohlengruben.
»Das ist noch gar nichts! In der Stadt, da gibt es erst wirklich viel Licht«, sagte Guoqiang, der ihn abgeholt hatte. Guoqiang stammte aus demselben Dorf wie Shuiwa, hatte es aber schon vor Jahren verlassen.
Shuiwa folgte ihm in eine Baracke. Als sie zu Abend aßen, entdeckte er voller Staunen, dass das Wasser süß war.
»Na klar! Schließlich haben sie hier im Revier einen tiefen Brunnen gegraben«, erzählte ihm sein Landsmann. »Aber das Wasser in der Stadt, das ist erst richtig gut!«
Bevor sie sich schlafen legten, gab ihm Guoqiang ein steinhartes Bündel als Kopfkissen. Als Shuiwa es öffnete, fand er darin eine Anzahl runder Stangen in einer schwarzen Plastikhülle. Unter der Hülle waren die Stangen gelb und sahen aus wie Seife.
»Das ist Sprengstoff«, murmelte Guoqiang, wälzte sich zur anderen Seite und schnarchte im nächsten Moment bereits. Shuiwa sah, dass auch er den Kopf auf ein solches Bündel gebettet hatte. Ein weiterer großer Stapel war unter den Pritschen verstaut, und von der Decke baumelten Sprengzünder herab. Guoqiang war der Sprengmeister der Mine. Später erfuhr Shuiwa, dass der hier gelagerte Sprengstoff ausgereicht hätte, um sein Dorf restlos auszulöschen.
Die Arbeit im Bergwerk war hart, aber abwechslungsreich. Mal schürfte Shuiwa Kohle, mal schob er Förderwagen oder errichtete Stützbalken. Am Abend fühlte er sich stets wie gerädert, doch er war körperliche Mühsal von klein auf gewohnt und fürchtete keine schwere Arbeit. Das Einzige, was ihm Angst machte, war die Umgebung unter Tage: Ihm war, als würde er in ein finsteres Ameisennest kriechen, was sich anfangs wie ein Albtraum anfühlte. Aber auch daran gewöhnte er sich mit der Zeit. Sein Lohn richtete sich nach der geförderten Kohle, was jeden Monat hundertfünfzig Yuan bedeutete, in guten Monaten sogar über zweihundert. Shuiwa war zufrieden.
Am meisten freute er sich über das Wasser. Als er an seinem ersten Feierabend mit seinem kohleschwarzen Körper seinen Kollegen in den Waschraum folgte, war er sprachlos vor Staunen. Dort schöpften sie mit ihren Schüsseln Wasser aus einem großen Becken und begossen sich damit von Kopf bis Fuß, bis es in kleinen schwarzen Rinnsalen über den Boden lief. Wo gab es denn so was! Menschen, die all das schöne süße Wasser einfach so verschwendeten! In Shuiwas Augen verwandelte dieses Wasser die düstere Welt unter Tage in ein Paradies.
Dennoch ermunterte Guoqiang ihn immer wieder, er solle in die Stadt gehen. Er selbst hatte dort früher gearbeitet, aber weil er auf seiner Baustelle etwas gestohlen hatte, war er als illegaler Wanderarbeiter wieder in seine Heimat zurückgeschickt worden. »In der Stadt kannst du mehr verdienen als hier«, versicherte er ihm. »Und du musst dich auch nicht mehr zu Tode schuften.«
Während Shuiwa noch zögerte, ob er dem Rat folgen sollte, fiel Guoqiang einem Unfall zum Opfer. Es geschah, als er eine vermeintliche Fehlzündung beheben wollte. Der Sprengstoff explodierte, und als man ihn aus dem Schacht hinaustrug, war sein Körper von Gesteinssplittern durchlöchert. »Geh in die Stadt«, flüsterte er Shuiwa noch zu, ehe er starb. »Dort gibt es mehr Licht.«
Das zweite Ziel im Leben: In die Stadt gehen, wo es mehr Licht und süßeres Wasser gibt, und mehr Geld verdienen
»Die Nacht ist hier so hell wie der Tag!«, staunte Shuiwa.
Guoqiang hatte nicht gelogen: In der Stadt gab es wirklich viel mehr Licht. Er folgte Erbao, der auf den Bahnhof zusteuerte. Mit je einem Schuhputzkasten auf dem Rücken gingen sie die Hauptverkehrsader der Provinzhauptstadt entlang. Vor seinem Tod hatte Guoqiang Shuiwa die Adresse von Erbao gegeben, der aus dem Nachbardorf stammte und früher mit Guoqiang hier gearbeitet hatte. Doch selbst damit hatte Shuiwa seinen Landsmann nur unter viel Mühe aufgespürt, weil die Adresse nicht mehr aktuell war. Erbao hatte die Baustelle nämlich verlassen und arbeitete jetzt als Schuhputzer. Als Shuiwa ihn endlich fand, war sein Mitbewohner und Kollege gerade in die Heimat gefahren, um dort etwas zu erledigen. Also brachte Erbao dem Neuankömmling kurzerhand ein paar Kniffe bei, gab ihm den Kasten seines Kollegen und nahm ihn mit zur Arbeit.
Shuiwa dachte den ganzen Weg über darüber nach, wie diese Tätigkeit etwas einbringen sollte. Er konnte es sich einfach nicht vorstellen. Wenn sie die Schuhe wenigstens reparieren würden! Aber Schuhe putzen? Wer dafür einen Yuan zum Fenster hinauswarf (oder bei einer guten Schuhcreme sogar drei), der konnte nicht ganz richtig im Kopf sein.
Kaum hatten sie jedoch vor dem Bahnhof ihre Stände aufgeschlagen, tauchte auch schon der erste Kunde auf.
Um elf Uhr abends hatte Shuiwa vierzehn Yuan verdient. Als sie auf dem Heimweg waren, machte Erbao trotzdem ein missmutiges Gesicht und brummte: »So eine Flaute.« Shuiwa hörte den unausgesprochenen Vorwurf heraus, dass er Erbao die Kunden abspenstig gemacht hatte.
»Was sind denn das für große Eisenkästen unter den Fenstern?«, fragte Shuiwa und zeigte auf ein Hochhaus vor ihnen.
»Das sind Klimaanlagen. Dort in dem Haus ist es jetzt so kühl wie im April.«
»Diese Stadt ist wirklich toll!« Er wischte sich den Schweiß vom Gesicht.
»Wenn man keine harte Arbeit scheut, kommt man hier leicht über die Runden. Aber eine eigene Familie gründen und richtig Fuß fassen, das schafft man nie.« Erbao deutete mit dem Kinn auf das Hochhaus. »Eine Wohnung da drin kostet ein paar tausend Yuan pro Quadratmeter!«
»Was ist denn ein Quadratmeter?«, fragte Shuiwa.
Erbao schüttelte bloß verächtlich den Kopf und würdigte ihn keiner Antwort.
Mit einem guten Dutzend Männern teilte sich Shuiwa ein spartanisches Zimmer. Sie waren fast alle Bauern wie er, die in die Stadt gekommen waren, um Arbeit zu suchen oder sich mit kleinen Geschäften durchzuschlagen. Nur der Platz neben ihm auf dem überfüllten Bett gehörte einem Mann, der aus einer anderen Stadt kam. Solange er sich hier im Zimmer aufhielt, unterschied ihn wenig von den anderen: Er aß wie sie und trug wie sie ein ärmelloses Hemd, wenn sie draußen die kühle Abendluft genossen. Aber jeden Morgen warf er sich in Schale, und wenn er in einem Anzug und mit feinen Lederschuhen aus der Tür trat, war er wie verwandelt - ein goldener Phönix, der aus einem Hühnerstall aufstieg.
Sein Name war Lu Hai. Shuiwas Mitbewohner mochten ihn, was vor allem an dem komischen Ding lag, das er mitgebracht hatte. In Shuiwas Augen sah es aus wie ein großer Regenschirm, nur dass es aus einem spiegelnden Material bestand und...