Schweitzer Fachinformationen
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»Wenn die Tür aufgeht, melden Sie sich ab. Sagen Sie ihnen, Sie würden eine Raucherpause machen«, meint er.
»Ich rauche nicht«, sagt sie.
»Sie müssen nicht rauchen, melden Sie sich einfach ab. Wenn man Ihre Nummer aufruft, ignorieren Sie es.«
Keiner der beiden bemerkt, dass die Tür sich öffnet.
»Ein Bekannter von mir ist davongekommen, nur weil er gesagt hat, dass er nicht unter den Worten In God We Trust sitzen könne«, meint sie.
Ihre Nummer wird aufgerufen: C-2.
»Haben Sie noch einen anderen Vorschlag?«, fragt sie.
»Wenn einer der Anwälte fragt, ob Sie jemals eine Beziehung mit einem aus seiner Zunft hatten, sagen Sie ihm, dass er Sie vor fünf Jahren in einer Bar abgeschleppt hat.«
»Sie gehen automatisch davon aus, dass der Anwalt ein Mann ist«, sagt sie.
»Sagen Sie der Anwältin, sie hätte Sie vor fünf Jahren im Baumarkt angebaggert. Sie trug die Schleifmaschine, und Sie hatten den Werkzeuggürtel.«
Als ihre Nummer zum zweiten Mal aufgerufen wird, steht sie widerwillig auf.
»Hey«, ruft er ihr nach, während sie sich durch die schiefen Reihen von Klappstühlen hangelt. »Viel Glück.«
C-2 ist überrascht, dass die Sitzung im Gerichtssaal bereits begonnen hat. Alle außer der Angeklagten, einem Mädchen im späten Teenageralter, blicken auf, als C-2 den einzigen freien Stuhl auf der Geschworenenbank einnimmt. Die anderen fünf Stühle sind mit Frauen unterschiedlichen Alters besetzt. Drei tragen sportliche Flip-Flops. Eine ist angezogen, als habe sie gleich ein heißes Date. Eine trägt Kirchenkleidung.
Die Richterin, eine ältere Afroamerikanerin mit nüchternem Haarschnitt, bittet die Angeklagte, sich zu den potenziellen Geschworenen umzudrehen. Der Kopf der Angeklagten dreht sich so langsam, dass C-2 nicht einschätzen kann, ob die Trägheit nur inszeniert ist. Will die Teenagerin, die teure, aber schlecht sitzende Klamotten trägt, dadurch die Aufmerksamkeit des Gerichts auf sich ziehen, oder hat sie physische oder psychische Probleme? Ihr auffälligstes Merkmal sind ihre Haare: Die unteren fünfzehn Zentimeter sind pechschwarz gefärbt, die oberen fünfzehn Zentimeter sind barbieblond.
C-2 hat schon eine Unmenge an Gesichtern studiert. Sie begann ihre Karriere als Fotojournalistin für den Rolling Stone und das Interview-Magazine und machte zahllose Porträtfotos, bis sie schließlich merkte, dass sie sich nicht für Menschen interessierte. Als Individuen. Sie interessierte sich für sie als Spezies.
Die Züge der Angeklagten ähneln denen, die man in Lehrbüchern fürs Zeichnenlernen findet - skizzenhaft und schlicht. C-2 bezweifelt, dass sie sich auch nur eine Sekunde später daran erinnern könnte, was sich in dem leeren Oval befindet, wenn sie jetzt ihre Augen schließen würde.
Wenn C-2 eine Vermutung über das Vergehen der Teenagerin anstellen müsste, würde sie auf Ladendiebstahl setzen oder wetten, dass sie die Schmerztabletten ihrer Großmutter an Klassenkameraden verkauft hat, oder beides. Ein ein- oder zweitägiges Verfahren, höchstens.
Die Richterin fragt: »Kennt jemand von Ihnen die Angeklagte?«
Zwei Hände schießen nach oben.
»Ich habe sie im Fernsehen gesehen«, sagt eine der Flip-Flop-Trägerinnen.
»Auf dem Gerichtssender«, sagt eine Frau, die sich aus Respekt vor dem Gericht ihre Lippen- und Nasenpiercings entfernt hat.
Die Anwältin der Angeklagten, eine kurvige Frau Anfang dreißig, und der Jury-Berater, ein grauhaariger Gentleman in einem Armani-Anzug, stimmen sich ab: Die beiden Frauen werden entlassen. Zwei weitere potenzielle Geschworene betreten den Saal und nehmen die frei gewordenen Plätze ein: eine Frau, die schwanger aussieht, aber zu alt ist, um schwanger zu sein, und der junge Mann, mit dem C-2 im Wartebereich ein bisschen geflirtet hat - er ist Anfang vierzig, C-2 schon zweiundfünfzig -, der Mann, der all die schlauen Vorschläge parat hatte, wie man der Jurypflicht entkommen konnte. Er spürt ihren Blick und zuckt spöttisch die Achseln. Das Blau seiner Augen erscheint zu kristallin, um zu seinem Gesicht zu gehören, das mit Aknenarben übersät ist. Abgesehen von der Kirchenlady ist er der Einzige, der angemessen fürs Gericht gekleidet ist. Beige Chinohose, weißes Hemd, feste Schuhe. C-2 trägt eine kurze Hose und ein T-Shirt. Draußen herrschen fünfunddreißig Grad.
»Dies ist ein Mordprozess«, sagt die Richterin.
Die Angeklagte schiebt die Augen in ihrem ausdruckslosen Gesicht seitwärts. C-2 folgt dem Blick. Er landet auf einer Frau mittleren Alters, die in der ersten Reihe der Zuschauergalerie sitzt, ihr Gesicht ist ein Abbild von Angst. Eine blonde Replik der Angeklagten tröstet die Frau, aber diese Version ist hübscher. Ihr Gesicht ist lebendig, als wäre jedes Element darin eine eigene Marionette und sie die Marionettenspielerin. Würde C-2 die Augen schließen, könnte sie sich an dieses Gesicht erinnern.
»Der Prozess kann bis zu drei Wochen dauern«, erklärt die Richterin, »und es kann sein, dass Sie isoliert werden. Gibt es jemanden unter Ihnen, der glaubt, einer solchen Verpflichtung nicht nachkommen zu können?«
C-2s Zweitausrede, sie könne nicht unter In God We Trust sitzen, erscheint ihr leichtfertig und fast verwerflich, als sie sieht, wie die Frau mittleren Alters in der vordersten Zuschauerreihe erschaudert und implodiert. C-2 könnte der Richterin sagen, dass ihr Ehemann sechsundachtzig ist - die Wahrheit; und dass sie seine einzige Pflegerin ist - ihre Befürchtung.
Die Frau, die zu alt ist, um schwanger zu sein, und der Mann mit den leuchtend blauen Augen heben die Hand.
»F-17«, stellt sich der Mann der Richterin vor. »Ich bin Professor an der medizinischen Fakultät. Mein Anatomiekurs beginnt nächste Woche. Ich habe einundzwanzig Leichen, die auf mich warten.«
»Sind die Leichen nicht schon tot?«, fragt die Richterin.
Wieder dieses selbstironische, spöttische Achselzucken.
»Ja«, sagt er.
»Dann können sie warten.«
Die Hand der Frau ist noch oben. »J-12. Ich muss nächste Woche für einige Tests ins Krankenhaus«, sagt sie.
Die Richterin wartet einen Moment, ob sich noch jemand meldet.
C-2 könnte immer noch die Hand heben. Obwohl sich ihr Ehemann seinen beeindruckenden, wissbegierigen Verstand bewahrt hat, verliert er täglich Dinge - Schlüssel, Worte, Größe, Masse, die Fähigkeit, Gespräche zu hören, seine periphere Sicht (dennoch besteht er darauf, immer noch zu fahren), die Feinheiten des Geschmacks und den scharfen Geruchssinn. Am alarmierendsten ist der Verlust des sechsten Sinnes, die Propriozeption, also die Fähigkeit, die Position seiner Körperteile zu kennen. Ihr Mann ist sich nicht immer sicher, wo sich seine Hände und Füße befinden, ohne danach suchen zu müssen. Er braucht eine Weile, um nach Dingen zu greifen, um jene Messungen durchzuführen, die man sonst unbewusst vollzieht, wenn man von Scheinwerferlicht erfasst wird oder Popcorn im Dunkeln isst. Mit den Alltagshürden kommt er zurecht, aber wie lange noch? C-2 ist dabei, seine Co-Pilotin zu werden. Ihre Sinne müssen doppelt arbeiten, um zwei separate Körper durch Raum und Zeit zu steuern, aber wenn sie den Job ablehnt - nicht auf die kaputte Treppenstufe hinweisen, nicht die Pointe wiederholen, die er überhört hat -, würde dies bedeuten, dass sie ihn der verschwommenen, nebligen, stummen Einsamkeit des Alters überlässt.
Sie hatte ihren Mann kennengelernt, als sie vierundzwanzig war und er siebenundfünfzig. Er war ein Pulitzer-Preis-gekrönter Journalist, und sie hatte gerade das Porträtieren aufgegeben und sich Gefährlicherem gewidmet. Er bat sie, ihn als Fotografin auf einen Auftrag in El Salvador zu begleiten -, der Bürgerkrieg war erneut ausgebrochen. Er flog erste Klasse, sie Economy. Während des siebenstündigen Fluges kam er kein einziges Mal zu ihr nach hinten, um sich zu erkundigen, wie es ihr erging. Das hat sie beeindruckt: Ihre Gefühle für ihn wurden nicht erwidert. Er interessierte sich nur für ihre Fotografie.
Am Flughafen von San Salvador stiegen sie, wie zuvor vereinbart, in einen Bus, der von Hollywoods radikalem Chic - einer Regisseurin für Verschwörungsthriller, einer ernst zu nehmenden Schauspielerin und ihrem Produzenten-Ehemann - gechartert worden war. Die Schauspielerin war mitgekommen, um den charmanten schnauzbärtigen General der Rebellen zu interviewen. Der Bus musste die Berge vor Einbruch der Dunkelheit und vor Beginn der Ausgangssperre überquert haben. Die Straße bestand aus Schotter und war von provisorischen Kontrollpunkten gesäumt, die von zerlumpten Jungen mit Gewehren besetzt waren.
Der Produzent brach eine Flasche Valium auf und reichte die Pillen herum. C-2 stellte fest, dass ihr späterer Ehemann keine nahm, also tat sie es ihm gleich, obwohl sie sehr gern zugegriffen hätte.
Sie erkannte bald, dass sie eine Art Test bestanden hatte und dass sich nach dem Bestehen des Tests das Machtverhältnis zwischen ihnen verschob. Abends im Hotel bemerkte sie, dass er sie anstarrte, als sie ihre Tür öffnete. Sein Blick war elektrisierend. Erst kurz zuvor hatte sie akzeptiert, dass ihre Lust weniger damit zusammenhing, sich zu jemandem hingezogen zu fühlen, als selbst auf jemanden anziehend zu wirken.
Sie setzte alles auf eine Karte. Sie ging in sein Zimmer, während er seine Notizen ordnete, und knöpfte ihre Bluse auf. Ab da übernahm er, wofür sie dankbar war.
Sie hielt - hält - sich nicht für...
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