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Eins passierte nach dem anderen. Wie hätte es auch anders sein können? Die Gegenwart, in der wir uns befanden, wusste nicht, was nach ihr kam, und der Scheinwerfer der Erinnerung leuchtete noch nicht mit seinem voreingenommenen Licht die Szene aus. Erst geschah dies, dann das. Und in jenem Jetzt und Hier saßen meine Frau und ich nebeneinander im Auto. Zeit: ein Freitagvormittag Ende September, kurz vor zehn Uhr; Ort: der Parkplatz an unserem kleinen Inselhafen. Ein frühherbstlicher Windhauch wehte Salzluft durch mein heruntergekurbeltes Seitenfenster. Das Radio schwieg. Draußen klapperten Haken und Ösen gegen die im Spalier stehenden Fahnenmasten, und die rot-weißen Dannebrogs flatterten vorbildlich an deren Spitzen. Gerade schwang sich eine Möwe von einem der Poller auf, drehte eine Runde, kreischte. Ich sah sie hinabstoßen ins trübe, wenig bewegte Hafenbecken und verlor sie aus dem Blick.
Das war er also, der Moment davor. In der Rückschau lässt sich das genau bestimmen. Was sich danach ereignete, war bereits Teil jener Geschichte, die sich zu entspinnen begann. Unserer Geschichte, meiner Geschichte.
Keine zwei Minuten sollten noch verstreichen, bis sich das Colin-Archer-Schiff Thor hinter der Mole ins Bild schob, mit tadellos strahlendem Namenszug am Bug, an Deck unsere beiden Freunde Ute und Gero, die uns für ein verlängertes Wochenende auf der Insel besuchen wollten. Von Rostock kommend, hatten die beiden die Ostsee in eintägiger Fahrt überquert, hatten bei Einbruch der Dämmerung irgendwo unterwegs in Küstennähe geankert, in ihren Kojen übernachtet und dort vermutlich gemacht, was man eben so macht, wenn das Schiff sanft schaukelt, die Sonne untergeht und dieses Glitzern überm Wasser liegt, und waren an diesem Morgen kurz nach Sonnenaufgang weitergesegelt, um die letzten Seemeilen bis zum Ziel zurückzulegen und beinahe auf die Viertelstunde genau am Vormittag hier bei uns auf der Insel einzutreffen. Ihre pünktliche Einfahrt hatte uns Gero rechtzeitig vorher via SMS angekündigt.
Anstatt nun aber vorauszueilen und alle Protagonisten zügig am Ort des Geschehens zu versammeln, muss ich noch eine Zeit lang bei dem letzten Augenblick zu zweit verweilen, der meiner Frau und mir in unserem Wagen blieb. Nebeneinander saßen wir auf unseren angestammten Plätzen, Frauke auf dem Beifahrersitz, ich hinterm Steuer. Wie üblich legte ich meine rechte Hand auf ihren vom Sonnenschein angewärmten Oberschenkel, spürte den Leinenstoff ihrer Hose unter meinen Fingerspitzen, drückte sanft zu und sagte vollkommen unvermittelt: »Komm, lass uns abhauen. Noch ist Zeit.«
Mir selbst ist es ein Rätsel, weshalb mir diese Worte damals über die Lippen kamen, obendrein in dieser Situation. An irgendwelche tief verborgene Vorahnungen kann ich nicht glauben, und deshalb reagiere ich bei der Erinnerung daran genauso erstaunt wie Frauke, die sich mir zuwandte und forschend in mein Gesicht schaute, als müsste sie ergründen, wie ernst es mir war, was ich da eben geäußert hatte.
»Du willst abhauen?« Es klang durchaus nicht abgeneigt. (Hatte ich ihr etwa unbeabsichtigt aus der Seele gesprochen? Suchte sie insgeheim nach einem Weg, dem Pärchenwochenende zu entgehen, das wir lange geplant hatten?) »Du hast die beiden doch selbst eingeladen.«
»War nur ein Scherz«, sagte ich. »Was denkst du denn? Das werden bestimmt schöne Tage mit den beiden.«
Frauke nickte, wirkte allerdings enttäuscht, wie ausgebremst, und instinktiv fasste ich nach ihrer Hand. Sie löste diese sogleich wieder aus meinem Griff, öffnete die Beifahrertür und sagte, mit Blick hin zur Mole: »Jetzt ist es eh zu spät. Da kommen sie.«
Als Erstes sahen wir Ute im Bug des Schiffes, gekleidet im klassischen Segleroutfit: Bootsschuhe, weiße Jeans, blaues Poloshirt. Auf dem Kopf trug sie eine Kapitänsmütze, die sie falsch herum aufgesetzt hatte, was ihren Aufzug ironisch brach, und sie traf gerade Vorkehrungen für das Anlegemanöver, klemmte auf Geros Zurufe hin Taue ein, kurbelte hier, zog da, hängte die Fender raus, hatte augenscheinlich alle Hände voll zu tun und fand dennoch die Zeit, für uns Zuschauer eine lebende Galionsfigur zu mimen. Mit angelegten Armen und vorgestrecktem Brustkorb, den Blick starr geradeaus gerichtet, das Gesicht eingefroren und ernst, verharrte sie für einige Sekunden, bevor sie losprustete und uns zuwinkte.
»Jetzt hör doch mal mit dem Quatsch da vorne auf«, sagte Gero von seinem Kommandoplatz an der Pinne, und seine Worte drangen trotz des leichten Winds bis zu uns an die Pier.
Ute hatte für sein Kopfschütteln nur eine wegwerfende Handbewegung übrig. »Ahoi, ihr Insulaner«, rief sie uns zu. Ihre gute Laune erwies sich wieder einmal als unverbrüchlich.
Was dann kam, war das sogenannte Eindampfen in die Vorspring, wie es bei ablandigem Wind und kleiner Crew angeraten sein soll. Ich selbst bin kein Segler, nie gewesen, und berufe mich bei der Beschreibung des Manövers und aller sonstigen Segeldetails auch ausschließlich auf Geros Blog, den dieser seit dem Kauf seines ersten Schiffes akribisch führte und von dessen Existenz ich erst viel später etwas erfahren sollte (www.gero-segelt.de). Längs steuerte er also eine Lücke zwischen zwei Schiffen an, die an der Pier lagen, einer Jacht, die bessere Zeiten gesehen hatte, und dem Fischkutter unseres Nachbarn Jepsen, der eben mit einer Sackkarre in einem der Hafenschuppen verschwunden war. Jepsen hatte mir kurz zugenickt, wohl als Zeichen dafür, dass er meine Bestellung nicht vergessen hatte. Später würde er uns wie verabredet irgendetwas Schönes frei Haus liefern: Scholle, Seeteufel, Meeräsche - was auch immer er an diesem Morgen in seinen Netzen gefangen hatte. Gero brachte den Bug seines Schiffes in kontrollierter Fahrt so nahe an die Pier heran, dass Ute mit einem beherzten Schritt an Land springen, die Vorleine mittschiffs setzen und gleich auf die richtige Länge einstellen konnte. Sie rief die vorgesehene Meldung: »Vorspring belegt!«, woraufhin Gero das Ruder hart seewärts stellte und dosiert Gas gab, sodass der Bug von der Pier weg und das Heck sachte landwärts gedrückt wurde. Sobald das Schiff parallel ausgerichtet lag, brachte er die Heckleine aus, die Ute geübt vertäute, und stoppte den Motor. Das Manöver war beendet. Die Thor lag fest.
Nachdem Ute auch die Bugleine festgemacht hatte, erhob sie sich, schritt auf Frauke und mich zu und umarmte uns, und genau hier weicht meine Erinnerung zum ersten Mal von der Wirklichkeit ab. Ich bin mir sicher, dass Frauke und ich nicht unmittelbar nebeneinanderstanden, als Ute uns begrüßte. Nach der kleinen Unstimmigkeit im Auto, die noch nachwirkte, hielten wir exakt so viel Abstand voneinander, dass wir uns nicht zufällig berühren konnten. Aus der Nähe beobachtete ich daher, wie Ute Frauke in den Arm nahm und auf die Wangen küsste, bevor sie sich mir zuwandte und im Näherkommen sagte: »Wie schön, dass es endlich geklappt hat mit unserem Treffen hier auf deiner Insel.«
Aber das kann so nicht stimmen. Gero hat die Begrüßung unbemerkt von Bord aus mit seinem Handy festgehalten und die Aufnahme später auf seinem Blog veröffentlicht. Da sehe ich uns drei an der Pier stehen, wie wir uns gemeinsam in den Armen liegen, und es besteht überhaupt kein Zweifel, dass Frauke und ich uns an den Händen halten, während Ute uns umarmt und küsst. So muss es in Wirklichkeit gewesen sein. (Eine geringe Variation nur, die mich aber nachhaltig verunsichert, seit ich das Foto im Internet entdeckt habe.)
»Velkommen til vores ø«, sagte ich und täuschte mit dem Slogan des hiesigen Touristikverbandes Sprachkenntnisse vor, die ich genau genommen nicht besaß.
Gero nickte. Fremdsprachen konnten ihn nicht schrecken. »Tak for invitationen«, antwortete er, ganz der gewandte Weltenbummler, der er zwar jetzt noch nicht war, in absehbarer Zeit aber zu werden plante. Mit seiner Thor wollte er, sobald die Finanzierung stand, systematisch alle Ozeane der Welt bereisen, allein, als Einhandsegler also, wie etwa Robert Redford in All is Lost (natürlich ohne Kollision mit einem herumtreibenden Container). Äußerlich wies Gero einige Ähnlichkeiten mit dem Schauspieler auf, obwohl beide etwas mehr als zwei Lebensjahrzehnte voneinander trennten: die Frisur, das wettergegerbte Gesicht, die Augenpartie; in Ansätzen glichen sich selbst ihre Stimmen, genauer, Geros und Redfords deutsche Synchronstimme, die bekanntlich markanter ist als das Original. Den Segelfilm hatte Gero mir Anfang des Jahres wiederholt ans Herz gelegt, doch hatte ich es versäumt, ihn mir im Kino anzusehen, und lediglich die einschlägigen Kritiken gelesen.
»Dann hüpft mal alle an Bord«, sagte Gero. »Ich zeig euch mein Schiff.«
Frauke ließ sich nicht lange bitten und nahm die helfende Hand gerne an, die Gero ihr über die Reling hinweg reichte.
»Mit oder ohne Schuhe?«, fragte sie.
»Bei deinen Schuhen...
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