Schweitzer Fachinformationen
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Ich war seit fünf Tagen tot und fühlte mich prima. Der Montag erfüllt mich immer mit Optimismus. Neue Woche, neuer Anfang, neues Glück. Ich gab dem Mann an der Rezeption den Schlüssel. Er nahm ihn stumm entgegen und hängte ihn an den Haken.
»Wie wär's, mal die Blumen zu wechseln«, sagte ich freundlich und zeigte auf den Plastikstrauß.
Er sah mich desinteressiert an.
»Plastikblumen wirken demoralisierend«, fuhr ich fort.
»Sie verschleiern den Lebensprozess.«
Der Stumme griff nach einer Zeitung und breitete sie auf dem Tresen aus.
Ich ging.
Ein Wetterumschwung hatte aus Oslo das Venedig des Nordens gemacht. Ich segelte die Sporveisgate entlang und ankerte bei Møllehausens Konditorei im Bogstadvei, wo ich frühstückte.
Die Uhr zeigte halb elf, als ich mit der Liste der Bestattungsinstitute in eine Telefonzelle in Majorstua ging und zwanzig Kronenstücke hinlegte.
Eine halbe Stunde später hatte ich zweierlei gelernt. Oslos Hausfrauen müssen ein starkes Bedürfnis nach plötzlichen Telefongesprächen haben, wenn ihre Ehemänner zur Arbeit sind. Außerdem sind sie nicht in der Lage, ordentlich in der Schlange zu warten. Und die Repräsentanten von Bestattungsinstituten haben eine dunkle, freundliche Stimme mit einem Unterton geschäftsmäßiger Trauer. Sie besitzen einen beschränkten Wortschatz, fast eine Art Fachsprache, deren Terminologie ausgesprochen monoton und sentimental ist. Und sie haben wenig Zeit.
Aber niemand hatte sich einer Leiche angenommen, die auf den Namen Hans Georg Windelband hörte.
Der zweite Konditoreibesuch an diesem Tag musste sein. Ich fand einen Tisch ganz hinten im Samson im Majorstuhus und bestellte eine Tasse Kaffee und ein Stück Marzipantorte. Ich weiß, das sollte ich eigentlich nicht. Früher war ich dünn. Jetzt fast dick. Das hatte mit der Ernährung zu tun. Die Diät war nicht mehr wie früher. Aber ich vermisste die Spritzenpiekser nicht. Und Wasser und Brot sind nur ein Mythos.
Aber die Marzipantorte und der starke Kaffee plus einige Zigaretten irritierten den Magen. Ich verbarrikadierte mich auf einer engen Toilette und spürte, wie alles durch mich hindurchrann und herausschoss.
Wurde ich langsam feinfühlig?, überlegte ich. War ich genauso empfindlich wie die Kaffeetasse, die gerade eben den Druck eines Fingers aushielt? Ich zog die Hose hoch und spülte meinen Abfall fort, die Schlacke, die bestätigte, dass ich noch lebte.
War vielleicht gar keiner tot? Morgen würde ich mehr erfahren. Aber wenn es eine Leiche gab, dann musste ich mich langsam beeilen. Ich bin kein Grabräuber.
Ich bezahlte für das Abführen und nahm die Røabahn zum Vestre Krematorium.
Warum sind Krematorien immer so düstere Gebäude? Ist der Architekt daran schuld? Oder die Priester? Oder die Toten? Warum dringt kein Licht in die Krematorien? Ist das unsere Todesangst, die in diesen Gebäuden materialisiert wird? Ist das unsere Verachtung gegenüber dem Leben, in Beton gegossen?
Ich sollte Zeitungskommentare schreiben.
Eine schwarzgekleidete Reihe bewegte sich in kleinen Gruppen durch den Schmutz auf den Parkplatz zu. Sie zwängten ihre schweren Körper in die engen Autos und rollten jeder für sich auf den Sørkedalvei. Ein junger, sauberer Kirchendiener mit glatt gekämmten Haar und einer hohen, freundlichen Stirn kam heraus und nahm ein kleines Namensschild von der schweren Eichentür, schaute sich um und ging wieder hinein.
Ich ging ihm nach, öffnete den Deckel und tauchte ins Dunkel. Plötzlich war es, als wäre ein Scheinwerfer an der rechten Wand angeschaltet worden. Der Kirchendiener stand unter der hellen Lampe und sah mich an. In der Hand trug er einen Kranz von der Größe einer Treckerreifens.
Ich blieb stehen und betrachtete Alf Rolfsens schöne Freskenmalerei in den Bogengängen auf beiden Seiten des Mittelschiffes. Sie gipfelten in der gigantischen Rückwand, die in dem kurzen Raum lächerlich wirkte. Der Kirchendiener, der in der Zwischenzeit in einem anderen Raum verschwunden war, kam jetzt durch eine kleine Tür direkt neben mir wieder zum Vorschein. Er war immer noch pedantisch ordentlich, seine Kleidung saß korrekt, das Haar lag wie ein fester Deckel auf seinem Schädel, ich überlegte, ob es wohl eine Perücke war, und seine hohe, freundliche Stirn fiel jäh auf ein undeutliches Gesicht.
Ich ging auf ihn zu.
»Entschuldigen Sie die Störung«, begann ich.
Eine merkwürdige, spiralförmige Körperbewegung schien mir sagen zu wollen, dass das nichts machte, aber ich sollte zur Sache kommen.
»Es geht um eine Beerdigung«, fuhr ich fort. »Ein Hans Georg Windelband soll morgen beigesetzt werden.«
»Um ein Uhr«, sagte der Kirchendiener mit einer trockenen, müden Stimme.
Ich merkte, wie meine Hände zu zittern begannen und mein Herz Blut in den Körper pumpte.
»Es ist nämlich so, dieser Windelband ist ein alter Bekannter von mir. Wir kannten uns eine kurze Zeit, danach haben wir uns aus den Augen verloren.«
Mir wurde plötzlich klar, dass ich zu viel redete, was ganz unnötig war. Der Kirchendiener vollzog noch einmal die gleiche Spiralbewegung und starrte auf eine Stelle irgendwo über meiner linken Schulter.
»Ich habe erst heute von seinem Tod gehört«, fuhr ich fort. »Ich möchte gerne wissen ...«, meine Stimme klang nicht gerade sicher, »ich nehme an, er ist hier?«
»Windelband liegt da unten«, sagte er und deutete auf den Fußboden. »Er kam am Samstag.«
Ich sah nach unten, als ob er zwischen meinen Füßen läge. Ich nahm erneut Anlauf.
»Ist es möglich, ihn zu sehen?«
Der Kirchendiener zuckte mit seinen schmalen Schultern.
»Er liegt ja da«, sagte er müde.
Dann machte er ein Zeichen, dass ich ihm folgen sollte. Wir gingen eine Treppe hinunter in einen Raum direkt unter der Kapelle. Zwei Särge lagen auf einem Eisenrahmen bereit, in die Krematoriumsöfen geschoben zu werden. Ein älterer Mann steckte ein rotglänzendes, freundliches Gesicht durch eine Türöffnung.
»Viel zu tun heute«, stöhnte er. »Montags ist immer ein anstrengender Tag.«
Der Kirchendiener nickte.
Wir gingen in den nächsten Raum. Der war viel größer und erinnerte fast an eine Empfangshalle. In kleinen Nischen und ins Rauminnere hineinragend waren weiße Särge aufgestellt. An allen waren kleine Nummernzettel befestigt. Ein merkwürdiger Geruch stieg mir in die Nase, dass mir übel wurde.
Der Kirchendiener ging zu zwei Männern in blauen Arbeitskitteln, die mit einem Sarg beschäftigt waren, der in die Kapelle hinauf sollte.
»Er möchte gern die 13 sehen«, sagte er und zeigte auf mich.
Ich ging näher heran.
»Das ist kein schöner Anblick.«
»Na, die haben ihre Arbeit doch prima gemacht«, fügte der andere sachlich hinzu. »Erste Klasse. Man kann ihn gut vorzeigen.«
Etwas drehte sich in meinem Magen um. Ich drehte mich zu dem Raum, aus dem wir gekommen waren, und sah einen Sarg in dem riesigen Ofen verschwinden.
Der Kirchendiener sah mich an, und ich hatte das Gefühl, als lächele er, als er mit seiner ausdruckslosen Stimme sagte:
»Ihr Freund ist nicht mehr der gleiche.«
Ich sagte nichts. Ich war stumm.
Die beiden Männer gingen zur anderen Wand in eine der dortigen Nischen. Sie drehten sich zu mir um.
»Hier ist er«, sagte der eine.
Ich klebte fast an den grauweißen Bodenfliesen. Ich musste mich losreißen, fühlte mich krank und schmutzig. Ich ging zu ihnen. Der Kleinere von beiden hob den Deckel hoch und zog die weiße Decke zur Seite, die die Leiche bedeckte.
Ich wich zurück, die Übelkeit durchfuhr meine Brust und füllte meinen Mund mit verrottetem Laub. Ich schlucke mehrere Male und holte tief Luft. Das war das Schlimmste, was ich je gesehen hatte. Das Gesicht muss in zwei Teile gespalten worden sein. Es gab keine Nase. Oben von der Kopfmitte führte ein dicker blauer Streifen schräg bis zum Hals hinunter. Der größte Teil der Haare war abrasiert. Nur auf der einen Seite des Schädels gab es noch ein paar dünne, helle Strähnen.
»'n bisschen schief«, sagte der Kirchendiener, der hinter mir stand und mir in den Nacken atmete.
»War nicht besser zu machen«, sagte einer der Männer unerschütterlich.
Der Tote musste ungefähr in meinem Alter sein, Mitte Zwanzig. Es ist schwierig, die Größe eines Menschen zu schätzen, wenn er liegt, aber ich nahm an, dass er wohl so groß war wie ich, gut 170 Zentimeter. Das Wenige, was noch von dem hellen Haar übrig war, zeigte, dass er höchstwahrscheinlich eine Glatze bekam. Automatisch strich ich mit der Hand durch mein eigenes verwelktes Haar, das immer in großen Büscheln auf dem Kopfkissen lag, wenn ich aufstand. An der Schläfe, die nicht von dem blauen Strich verborgen war, entdeckte ich eine kleine Narbe. Mehr war da nicht. Das malträtierte Gesicht ähnelte keinem Menschen mehr. Es sah aus, als wäre es aus unterschiedlichen Teilen zusammengesetzt worden, ungefähr wie ein Puzzlespiel, bei dem die Teile verschiedener Motive vermischt worden sind.
Ich sah ihn lange an.
Aber ich konnte sein Gesicht nicht wiedererkennen.
Nicht einmal seine Mutter hätte sein Gesicht wiedererkennen können.
Ich verpasste nur knapp die Straßenbahn. Die Uhr zeigte eins, und einige Vögel zwitscherten hysterisch in einem Baum. Ich setzte mich auf die feuchte Bank, zündete eine Zigarette an und schickte ein paar kräftige Rauchsignale in die Lunge hinab.
Sie hatten mir erzählt, dass Hans Georg Windelband gefallen war, wie sie lächelnd sagten, aus einem Fenster, und auf...
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