Schweitzer Fachinformationen
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Ich wurde von den Möwen geweckt.
Ich zog mich an der Reling hoch und fütterte sie mit roten Würstchen. Ich stand breitbeinig mit gebeugtem Rücken da, wie ein Schiffsjunge, dem auf dem Weg nach Hause schwindlig geworden ist. Aber ich trug keinen Matrosenanzug, sondern Lotsenjacke, Khakihose und Sandalen. Dann hörte ich ein anderes Geräusch, als würde jemand wie wild einen Lichtschalter ein- und ausschalten. Ich drehte mich langsam um und guckte direkt in ungefähr dreihundert Fotoapparate. Ich zeigte ihnen meinen Finger, meinen schiefen, verkrüppelten Zeigefinger. Die Touristen zogen sich einen Zentimeter weit zurück. Ich blieb in dem Schwarm der gierigen, kreischenden Möwen stehen, die mein Gesicht mit ihren steifen Flügeln berührten. Sie mochten mich. Aber ich mochte sie nicht. Ich mochte den Blick der Möwen nicht, zwei aufgerissene, glänzende Augen, die viel zu groß für den schmalen Schädel waren. Vielleicht erinnerten sie mich an zu viel. Und ich sah, dass eine von ihnen eine Schnur aus dem Schnabel hängen hatte. Und ich konnte das Blut sehen, das in dicken Tropfen daraus hervorperlte.
Die MS Kong Olav V. glitt an der Halbinsel Nesodden vorbei. Das Sommerhaus lag wie eine dunkle Kapelle hinter den Birken. Ein Knirps in Tarzanbadehose stand ganz vorn am Anleger und warf die Angel aus. Aber ich glaube nicht, dass er etwas fing, dazu holte er viel zu ungeduldig die Schnur ein. König Kim musste woandershin schauen. Und die Touristen waren immer noch da. Ich wurde auf ungefähr dreihundert Filmrollen eingebrannt, ich und die Möwen, oder vielleicht auch umgekehrt, die Möwen und ich. Ein Hüne im Pepitaanzug und mit Igelschnitt, Frau und Sohn im Schlepptau, grölte auf Amerikanisch, ich solle doch fünf Schritte nach rechts gehen, zu der norwegischen Flagge, die schlaff am Mast hing. Und ich tat es. Ich bin ein höflicher Junge. Ich stellte mich brav unter Rot, Weiß und Blau, und der Hüne zog einen schwarzen Trichter aus dem linken Auge, schraubte und schraubte, und zum Schluss war ich ganz aus dem Fokus. Ich sah nur schiefe Schatten und blutige Flügel. Aber die Geräusche waren noch da. Ich hörte den Schrei der Möwen und das zarte Knipsen der Auslöser, als stächen sie Nadeln in mich hinein. Dann verbeugte ich mich tief und ging ganz ruhig nach unten und holte den Turnbeutel aus der Gepäckaufbewahrung.
Und plötzlich hörte ich das Glockenspiel vom Rathausturm. Ich musste stehen bleiben, horchte, Eisstückchen schmolzen in meinen Ohren. Aber das brachte mich nicht aus der Fassung, nur fast. Ich ließ ein paar Sekunden lang den Kopf hängen, während eine Trosse nach meinem Herzen geworfen wurde. Sie traf nie.
Dann wankte ich zum Schalter neben dem Schnapsladen und wechselte den Rest aus dem Leierkasten um. Dort, wo ich herkam, hatten sie mir viel Trinkgeld gegeben. Aber die letzten Scheine, die ich erhielt, musste ich gegen das Licht halten, um zu überprüfen, ob sie auch echt waren; blaue Zehnkronenscheine mit Nansen auf der Vorderseite und einem schlaffen Fischer mit Südwester und lauter Möwen überall auf der Rückseite.
»Wohl ziemlich lange weg gewesen?«, meinte der Kassierer wie nebenbei und betrachtete mich in einer Art und Weise, wie es nur Leute können, die hinter einem Schalter sitzen.
»König Olav ist doch immer noch König, oder?«, fragte ich.
Aber er gab keine Antwort. Ich humpelte in die Kneipe, legte einen neuen Zehner auf den Tresen, und es klappte. Ich trank ein Bier. Ich wusste, das war nicht klug von mir. Es gab ziemlich viel, was ich wusste, aber das nützte nichts. Ich trank es im Stehen aus. Es blieb unten. Vielleicht vermissten die Möwen mich ja bereits.
Ich war der Letzte, der die Gangway hinunterging. Unten standen drei Uniformen und rieben sich die Hände. Ich musste mit in den Käfig. Die Stimmung war prima. Sie ließen meinen Pass von einer Hand zur anderen wandern und brummten zufrieden.
»Italien«, sagten sie. »Was hast du da gemacht?«
»Spaghetti gegessen«, antwortete ich.
»Und Kopenhagen? Was hast du da gemacht?«
Langsam wurde ich es leid. Ich saß auf einem Hocker. Ich konnte nicht mehr sitzen. Ich musste pissen.
»Da habe ich rote Würstchen gegessen und war im Tivoli«, erklärte ich.
»Das werden wir ja sehen«, sagten sie.
Sie brauchten ungefähr eine Dreiviertelstunde, um meinen Turnbeutel zu untersuchen. Die Stimmung war nicht mehr so gut. Sie fanden nichts außer schmutziger Wäsche, einer Gipsfigur nach Botticellis Venus, den Noten für Rondo Amoroso, Mood Indigo und das Solfeggio, einem Stückchen Toblerone und meiner Ration. Sie schienen nicht zufrieden zu sein. Sie sahen einander an, nickten gleichzeitig und wandten sich mir zu.
»Geh zum Fenster«, sagten sie.
»Wäre es nicht besser, wenn ich die Tür benutze?«
Aber das fanden sie gar nicht witzig. Ich schlurfte mit den Füßen über den Boden. Sie wurden ganz eifrig, die Stimmung war wieder besser, es fehlte nicht viel zum Applaus.
»Zieh dich aus«, sagten sie und zeigten auf die Hose.
»Auf eure Verantwortung«, sagte ich.
Ich öffnete meinen alten Zorrogürtel und ließ die Hose fallen. Sie kamen näher. Sie beugten sich hinab. Sie hielten sich die Nase zu. Verblüfft starrten sie auf den dicken gelben Verband und das gedrehte Röhrchen, das herausragte.
»Das ist keine Wasserpfeife«, sagte ich.
Ich kam mit einem Schrei frei. Und dann latschte ich hinauf zur Festung und setzte mich vorsichtig ins Gras. Ich schaute über die Stadt. Es tuckerte leise in den Straßen. Und es schien, als sollte da immer noch die gleiche alte Mahlzeit serviert werden. Die Speisekarte war nicht verändert worden, nur die Tischdekoration. Häuser waren abgerissen worden, ein blauer Wolkenkratzer wuchs hinter dem Schlosspark in die Höhe, Baukräne wanderten von einem Viertel ins andere, und das rostige Skelett des Postgirohauses warf seinen grauen Schatten bis zum Kikut. Es gab weniger Bäume und mehr Glas. Ich brach meine Ration an und nahm einen halben Schluck. Ich weiß selbst nicht, was ich eigentlich erwartet hatte. Keinen roten Teppich. Kein Blasorchester. Keine Palmenwedel. Nichts. Denn niemand wusste, dass ich kam. Aber vielleicht hatte ich erwartet, dass irgendwo in mir eine zaghafte Freude ausbrechen würde, eine Mohnblume beispielsweise, eine Mohnblume, die allzu lange in muffiger Erde gestanden hatte. Doch bis jetzt hatte sich die Freude noch nicht gemeldet. Der Blumenbote war mit ganz anderen Paketen unterwegs.
Ich hatte keine Pläne. Ich hatte keine Vorsätze. Ich hatte keine Träume.
Es war ein Samstag, es war Mai.
Der Rathausturm spielte eine Wiederholung des Wunschkonzerts, und ich schlurfte hinunter in die Stadt. Es gab keinen anderen Weg. Aber nicht nur die Tischdekoration hatte sich geändert. Die Leute hatten es jetzt eilig. Die Leute hatten jetzt spitze Ellbogen und dünneres Haar. Die Leute trugen in der Bruthitze Regenschirme. Sie kamen mir wie voll gestopfte Pinguine entgegen. Es war härter geworden. Ein neuer Gang war eingelegt worden. Und das Essen roch auch nicht besonders lecker. Etwas in Oslo war verrottet. Ich verursachte die Roald Amundsensgate hinauf einen wütenden Stau. Denn ich konnte mich nicht mehr beeilen.
Ich blieb vor dem Nationaltheater stehen. Henrik und Bjørnstjerne standen noch da und sahen ziemlich verkatert aus. Aber die Pernille war weg. Ich ließ meinen Turnbeutel fallen und sah, dass die Pernille weg war. Es war nicht ein einziger Halber zurückgeblieben, nicht ein Sonnenschirm, nicht eine Kellnerin, nicht eine einzige einsame Krabbe. Aber die Pernille war nicht weg, so wie sie immer im September verschwand, wenn der Nordwind die Finger ums Glas klamm werden ließ, ein Griff, der sich nicht vor dem nächsten Frühjahr lockerte, wenn die Mädchen Gänsehaut auf den Knöcheln und weiter hoch bekamen und immer nach Hause oder an einen anderen, besseren Ort wollten.
Die Pernille war weggebombt worden. Die Pernille war nur ein Krater. Seit damals hatte es hier einen Krieg gegeben.
Ich schloss die Augen und ging weiter die Karl Johan hinunter. So war es also gekommen. Ich überlegte eine Weile, ob ich vielleicht in der falschen Stadt an Land gegangen war. Aber da hörte ich einen Spielmannszug. Sie nahmen im Musikpavillon Aufstellung, und da wusste ich, wo ich war. Jetzt fehlten nur noch Senfgas und die Gitarren der Heilsarmee. Ich wollte mich gerade auf der Hacke umdrehen. Da entdeckte ich einen Bengel, der vor dem Buchladen Tanum stand. Und dieser Bengel hatte ausgerechnet eine Schubkarre bei sich, und es sah so aus, als versuchte er etwas zu verkaufen. Aber es sah nicht so aus, als würde der Verkauf gut laufen. Eher sah es so aus, als stünde er den Leuten im Weg. Das musste ich mir näher anschauen. Ich blieb dort stehen, während mir die Spielmannszugmusik das Ohr tätowierte, und sah, dass der Bengel schräge Druckwerke für Hausfrauen, Jurastudenten, Parlamentarier und Soldaten anbot. Ich traute meinen eigenen Augen nicht, aber es war auch schon lange her, dass ich mich auf sie verlassen hatte. Ich hinkte über die Kreuzung, ließ das, was ich in den Händen hatte, fallen und klopfte ihm vorsichtig auf den Rücken.
Der Bengel begann schon zu handeln, bevor er sich umgedreht hatte.
»Halber Öre der Buchstabe! Das Größte seit Snorre ...«
Der Bengel bekam ein Haar in den Hals und wickelte mich mit seinem Blick ein.
»Kim«, sagte er, ganz leise.
»Seb«, sagte ich. »Du siehst richtig gut aus.«
»Kim«, wiederholte er. »Wann bist du hier gelandet?«
»Bin heute Morgen aus dem Krater rausgekrabbelt. Was um alles in der Welt verkaufst du da? Alte Aufsatzhefte?«
»Poesie, du...
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